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Braunweiß

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Sie stellte ihr Fahrrad am Kiosk ab, kaufte vorab als Belohnung für ihren verrückten Plan eine riesige gemischte Tüte, verstaute sie in der Tasche, riss sich zusammen, auch wenn ihre Hände zitterten, und drückte auf die Klingel. Verrückte Zeiten erfordern verrückte Pläne, sprach sie sich selbst Mut zu.

„Hallo?“, tönte es dieses Mal fragend durch die Gegensprechanlage.

„Hallo, hier ist die Nana von gestern.“ Nana von gestern trifft es verdammt gut, dachte sie. Schließlich verarscht mich anscheinend ständig alle Welt. „Ich … ich habe etwas Wichtiges vergessen. Dürfte ich noch einmal kurz hochkommen?“ Sie bildete sich ein, sein Zögern durch die Gegensprechanlage zu hören, doch schließlich ertönte der Türsummer. Nana atmete erleichtert auf und erklomm mit festen Schritten die Stufen. Aber das Herz rutschte ihr in die Hose, als sie Lutz im Türrahmen stehen sah. Doch sie würde nicht zurückweichen, sie würde das jetzt durchziehen. Entschlossen biss sie ihre Zähne zusammen.

Lutz wiederholte seine einladende Geste wie am Tag zuvor, und dieses Mal ging Nana vor. „Du suchst niemanden zur Nachmiete, stimmt’s?“ Sie drehte sich in der Mitte des Wohnzimmers zu ihm. Geh gleich in die Vollen, Nana, dachte sie, dann weißt du, woran du bist.

Er war im Türrahmen stehen geblieben. „Stimmt“, sagte er nur.

Nana atmete hörbar aus. „Deine Anzeige war also eine riesige Verarsche.“

Lutz nickte. „Das ist dramatisch formuliert, aber im Kern korrekt.“

Sein neutraler Gesichtsausdruck machte Nana langsam wütend. „Findest du nicht, dass an dieser Stelle eine Entschuldigung angebracht wäre?“

„Natürlich.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Es tut mir leid.“

Nana sprach schnell weiter, bevor sie der Mut verließ. „Ich habe deine Notizen im Bad gefunden. Von Jörg und Anna und so. Sind das erfundene Figuren oder haben die sich auch auf die Wohnung beworben?“

Lutz zögerte kurz. „Die haben sich auch beworben. Es war dumm von mir, die Unterlagen offen herumliegen zu lassen.“

Nana schnappte nach Luft. „Nein, es war unverschämt von dir, diese Tour überhaupt abzuziehen! Warum machst du sowas?“ Plötzlich wurde ihr heiß und kalt. „Nimmst du die Leute, die die Wohnung besichtigen, auch auf?“ Die Idee war ihr erst jetzt gekommen. Hektisch scannten ihre Augen den Raum. Vielleicht war das alles nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Vielleicht war Lutz ein totaler Psycho und sie hatte die Situation verkannt. Was sagte denn schon ein Buch über einen Menschen aus? Erst neulich hatte sie in einem Artikel gelesen, dass Psychopathen ungemein charismatisch wirken konnten. Nana schaute an die Decke, suchte ein Indiz, ein Kabel, eine Linse, dort im Regal, vielleicht oder …

„Nein.“ Lutz sagte dieses eine Wort sehr bestimmt. Nana zuckte unwillkürlich zusammen. „So ist es nicht“, fügte er leiser hinzu.

„Wie ist es denn?“, fragte sie und fand, dass ihre Stimme schrecklich piepsig klang.

„Yasemin, die Kioskbesitzerin, hat mir heute Morgen erzählt, dass du da warst und sie dir gesagt hat, dass …“ Er stockte, steckte seine Hände in die Hosentaschen und sah plötzlich viel jünger aus. „Ich … also … ja, die Anzeige war Fiktion. Aber ich bin kein Perverser, und ich habe auch keinen der Bewerber getötet, kleingehackt und in meinem Keller in Beton gegossen.“

„Ach, es gehört ein Keller zur Wohnung? Den hast du mir gestern vorenthalten.“

Er lächelte. „Ich bin Autor.“

„Das weiß ich bereits. Das schließt aber nicht aus, dass du auch ein Psychopath sein kannst! Vielleicht schreibst du ja einen Thriller und willst hautnah recherchieren.“

Nun lächelte er. „Nein, es ist viel langweiliger. Ich suche Inspiration, mehr nicht. Aber das seit Jahren. Dann kam mir letztens diese Idee. Ich dachte, wenn die Leute in meine Wohnung kommen, wäre das ein guter Weg. Ein Anfang. Sie erzählen mir ihre Geschichten und ich kann sie dabei studieren.“ Lutz setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. „Ich hoffe auf ein ꞌKlickꞌ, verstehst du? Ich brauche endlich wieder dieses ꞌKlickꞌ. Es ist existentiell.“

„Aha. Du bist also ein existentialistischer Autor. Wird immer besser.“ Sie setzte sich an die äußere Kante des Sofas und blickte auf das Terrarium. „Wenn du Inspiration suchst, setz dich doch in ein Café und lausche den Gesprächen anderer. Oder tritt in einen Verein ein.“

„Das wäre nicht dasselbe. Das hier ist intimer. Ich erfahre mehr über die Menschen, kann sie in Ruhe betrachten. Außerdem fühle ich mich in großen Menschenmengen nicht wohl, und mit Vereinen kann ich nichts anfangen.“

„Hast du schon was über mich geschrieben?“

Er drehte sich zum Schreibtisch und durchwühlte seine Papiere. Schließlich reichte er ihr einen Zettel. „Hier. Ich habe einen Freund, der ist Immobilienmakler. Er schuldete mir noch einen Gefallen. Jedem, der sich meine Wohnung angeschaut hat, habe ich im Anschluss eine Mail mit einer freundlichen Absage und einem alternativen, noch nicht veröffentlichtem Wohnungsangebot geschrieben. So haben die Bewerber sehr gute Erfolgschancen. Mit dir waren es nur fünf Leute, die bei mir waren. Und bisher hat’s mir nichts gebracht. Kein Klick. Nichts. Nada.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Ich bin kein Unmensch. Nur verzweifelt. Das“, er wedelte mit dem Zettel, den sie ihm noch immer nicht abgenommen hatte, „ist dein Angebot. Die Wohnung liegt im selben Viertel.“

Nana nahm das Papier entgegen und überflog die Anzeige. Sie klang in der Tat attraktiv. „Die Miete ist preiswerter als deine fiktiv angesetzte.“ Sie blickte hoch. „Damit hast du meine Frage aber nicht beantwortet.“

„Nur ein paar Stichworte. Du hast kaum etwas von dir preisgegeben. Und nein, die zeige ich dir nicht.“

„Ich denke, ich habe ein Recht darauf, sie zu sehen.“

„Mag sein. Aber du hast mir heute neuen spannenden Stoff geliefert, den möchte ich zunächst ergänzen.“ Er schenkte ihr ein vorsichtiges Grinsen.

„Was lebt da drin?“, wechselte sie unvermittelt das Thema, denn sie wollte ihm noch kein Lächeln schenken. Ein Lächeln bedeutete, Frieden zu schließen. So einfach würde sie es ihm nicht machen.

„Wer.“

„Hm?“

„Es sollte heißen: Wer lebt da drin? Worte machen Welten. In meiner Welt sind Tiere keine Dinge“, entgegnete Lutz.

Sie hob ihren Kopf und blickte ihn an. Das hatte der Herr Autor schön gesagt. Ihre Augen trafen sich für einen Augenblick. Nana hätte seine Augenfarbe gerne gewusst, sie konnte sie aus der Distanz nicht erkennen.

„Churchill.“ Er unterbrach den Augenkontakt und erhob sich. Nana blickte ihn fragend an. „Mein Hamster Churchill lebt dort.“

„Warum nennst du deinen Hamster Churchill?“

„Weil es einfallsreicher klingt als Krümel oder Flecki.“

Nana fand seinen Tonfall verdammt hochnäsig. „Fellfarbe?“

„Braun-weiß, warum?“

„Nur so. Hast du Familie oder Freunde?“

„Ich habe Churchill“, antwortete er. „Dieser Dialog ist etwas seltsam, findest du nicht?“

„Gut seltsam oder schlecht seltsam? Möchtest du mitschreiben?“, fragte Nana.

„Nein, ich glaube nicht. Er ist mir ein bisschen zu frostig.“

„In Schottland kann’s um diese Jahreszeit auch noch recht frostig sein, also zieh dich lieber warm an.“

„Hä?“

„Wie bitte“, korrigierte sie ihn nun grinsend.

„Wie bitte?“

Nana strich sich mit den Händen über ihre Oberschenkel und stand auf. Jetzt oder nie. „Ich habe mich bei einem befreundeten Anwalt schlau gemacht. Ich könnte gegen dich Anzeige erstatten und hätte keine schlechten Chancen.“ Das war komplett gelogen und sie hoffte, dass sie ein gutes Pokergesicht hatte. Nana hatte am Morgen im Spiegel einen entschlossenen Blick geübt, war mit dem Ergebnis aber wenig zufrieden gewesen. „Aber ich behalte deinen fiesen Anzeigenbetrug für mich. Ich verrate auch Anna und Olaf und den anderen nichts von deiner Verarsche. Unter einer Bedingung: Du fährst mit mir nach Schottland. Drei Wochen lang.“ Jetzt hatte sie es gesagt. Und während sie es sagte, merkte sie, wie bescheuert es klang.

„Eben hast du mir noch unterstellt, ich sei ein Psychopath, und jetzt willst du zusammen mit mir einen Urlaub verbringen? Bist du noch ganz bei Trost?“, fragte Lutz ungläubig.

Nana stellte sich ans Fenster und blickte hinaus. Sie spürte, wie sie anfing zu schwitzen. Seine Frage war völlig berechtigt. Aber sie musste einfach diese Reise antreten! Sie schaute hinüber zum Kiosk. Die Betreiberin saß mit einer Frau, wahrscheinlich einer Freundin, auf der Bank vor ihrem Geschäft. Beide hielten ein Glas in den Händen und hatten eine Tafel Schokolade zwischen sich liegen. Yasemin lachte und warf dabei ihre Haare nach hinten. Sie war ausgesprochen hübsch. Nana formte mit ihren Händen einen Rahmen um die zwei Frauen und hielt dieses schöne Bild für einen Moment fest.

„Nein, wahrscheinlich nicht“, entgegnete sie schließlich. „Aber wer ist das schon.“ Sie seufzte. „Mein Leben hat gerade so viele Baustellen wie Bielefeld. Lauter Sackgassen, kein Vorankommen, ständiges Chaos. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Da wäre Phillip …“, sie stockte.

„Dein Mann?“, fragte Lutz vorsichtig.

„Mein Ex-Freund. Deshalb brauche ich auch eine neue Wohnung. Die aktuelle ist zu groß.“

„Ihr wohnt noch zusammen?“

Nana schüttelte den Kopf. „Nein. Er musste die Wohnung verlassen, um seine Sachen zu retten. Ich habe hinter ihm die Tür abgeschlossen und ihn seitdem nicht mehr reingelassen.“

„Seine Sachen retten?“

„Ja. Die, die ich auf die Straße geschmissen hatte. Ich habe eine faire Mischung hinuntergeworfen. Von allem etwas. Unterwäsche, Socken, Shirts, Hosen, sogar seine Bücher vom Nachttisch und die Zahnbürste aus dem Bad. Es sollte ihm an nichts mangeln.“ Sie hielt kurz inne. „Sein Notebook hat den Sturz wahrscheinlich nicht überlebt. Aber irgendwas ist ja immer im Leben.“

„Filmreif.“

„Ja. Na ja. Schon sehr viel Klischee, findest du nicht? Aber befreiend war’s, das muss ich sagen.“ Sie lachte kurz auf, es klang in ihren Ohren einen Hauch zu hysterisch, drehte sich zu ihm um und lehnte sich an die Fensterbank. „Was ich eigentlich sagen wollte: Er hat mir gestern einen Brief geschrieben und sich entschuldigt. Dafür, dass er mit meiner besten Freundin Alina gevögelt hat.“

„Ui“, entfuhr es Lutz.

„Ja. Ui. Ich habe es durch eine Nachricht herausbekommen, die er eigentlich Alina schreiben wollte und dummerweise an mich geschickt hat. Aber egal. Phillip will nun trotz allem gemeinsam mit mir unsere lang geplante Reise antreten. Wir hätten dann Zeit, unsere Konflikte zu lösen, meint er.“ Sie schnaubte. „Und außerdem, schrieb Phillip in dem Brief, wäre das ja sonst auch finanziell ärgerlich. Die ganzen Stornogebühren, die anfielen, und manche Unterkünfte seien auch gar nicht stornierbar.“ Sie löste ihren Blick von der Bank und drehte sich zu Lutz. „So hat er das wirklich formuliert. ’Finanziell ärgerlich.’ Lustig, oder?“ Nana setzte sich wieder neben Churchill und spürte, wie ihre Augen sich doch mit Wasser füllten. Sie klimperte es weg. Der Hamster ließ sich nicht stören und schlief weiter. Churchills Name schimmerte wegen der beiden C’s silbern.

„Wir haben eine Rundtour mit dem Auto geplant. Start nächste Woche“, fuhr sie fort und räusperte sich, damit ihre Stimme weniger brüchig klang. „Anfahrt über Frankreich, Eurotunnel, zwei Stopps in England, dann rauf nach Schottland.“ Nana formte einen Halbkreis. „Richtig schöne Reiseroute. Erst Edinburgh, dann Westküste. Einige Tage verweilen wir bei meiner Oma auf der Isle of Skye. Sie wird 80 und plant eine große Feier. Die darf ich auf keinen Fall verpassen! Dann weiter über Inverness entlang der Ostküste zurück. Die Kosten teilen wir fair fifty-fifty.“ Nana schaute ihn fast provozierend an. Sie hatte Panik, dass er sich ihrem Vorschlag verweigern würde. „Ich muss diese Reise machen. Ich habe Elsa, meine Oma, sehr lange nicht gesehen und sie war sehr krank. Die Fahrt … sie ist wirklich wichtig für mich. Aber allein … “ Nana brachte nicht die ganze Geschichte über die Lippen, dafür war sie zu persönlich und Lutz zu fremd. „Allein möchte ich nicht fahren“, sagte sie nur und holte tief Luft. „Also schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe“, nahm sie einen letzten Anlauf, obwohl ihr klar war, dass Lutz sich wohl nicht auf dieses verrückte Vorhaben einlassen würde. „Du bekommst statt riesigem Ärger deine Inspiration. Schreib ein Reisetagebuch oder sowas. Ich trete meinen langersehnten Urlaub an und kann mit Oma Geburtstag feiern. Und Phillip wird sich mächtig in den Arsch beißen, wenn er hört, dass ich die Fahrt ohne ihn antrete. Das traut er mir nämlich nicht zu.“

„Drei.“

„Was?“

„Wie bitte.“

Nana seufzte. „Wie bitte?“

„Es sind drei Fliegen.“

„Du nimmst es aber genau.“

„Ich bin Autor. Natürlich nehme ich so etwas genau.“

„Ich sehe schon. Der Small Talk mit dir auf der Reise wird anstrengend.“ Sie lächelte kurz und schaute ihn dann verblüfft an. „Das heißt, du kommst mit!“

Er nickte. „Ich hasse Small Talk. Bitte fang nie an, mit mir übers Wetter zu reden. Und wir nehmen Mitfahrer mit.“

„Was?“ Sie korrigierte sich schnell. „Wie bitte?“

„Schick mir die genaue Route per Mail. Ich stelle die Stationen bei der Mitfahrzentrale ein und wir nehmen Leute mit. So sammeln wir Geld für die Reisekasse und ich kriege kostenfrei zusätzliche Inspiration.“

Nana dachte kurz nach. Auch wenn sie die Vorstellung, dass fremde Menschen auf ihrer Rücksitzbank Platz nahmen, überhaupt nicht begeisterte, erschien ihr Lutz’ Idee angesichts ihrer finanziellen Lage sinnvoll. „Okay. Aber immer nur eine Person auf einmal, sonst wird mir das zu voll im Auto.“

„In Ordnung. Und Churchill fährt mit.“

„Bist du bekloppt?“, entfuhr es ihr. „Wir können doch keinen Hamster mitnehmen!“

„Warum nicht? Ich habe niemanden, der drei Wochen auf ihn aufpassen könnte. Soll ich ihn verhungern lassen? Du zwingst mich schließlich, diese Reise mit dir zu machen!“

Sie deutete aus dem Fenster. „Könnte die Kioskfrau ihn nicht nehmen?“

„Yasemin? Ich trinke dort jeden Morgen einen Kaffee! Warum sollte sie auf meinen Hamster aufpassen? Außerdem hat sie ein kleines Kind. Das zerquetscht ihn bestimmt.“

„Wow. Du liebst Kinder, oder?“

„Ich liebe meinen Hamster.“

Nana lachte. „Ich habe Yasemin nur kurz kennengelernt, aber auf mich macht sie einen offenen und patenten Eindruck. Wer ein Kind großziehen kann, der wird auch drei Wochen lang Churchill mit Körnern versorgen können. Du kannst dem kleinen Hamsterherz nicht eine so lange Reise mit unterschiedlichen Gerüchen und Geräuschen antun. Und stell dir vor, wir müssen scharf bremsen!“

Er seufzte ergeben. „Ich frage Yasemin.“

Nana nickte zufrieden. „Meine Oma heißt übrigens Elsa. Besorg ihr ein angemessenes Geschenk. Sie hasst Parfüms. Nächsten Dienstag geht es los. Ich hole dich um sieben Uhr ab.“

Nanas Reise

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