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Türkis

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Nachdem sie den Umriss auf den kleinen Stein gezeichnet hatte, malte Nana die Füße immer zuerst. Dann ging sie von hinten nach vorne vor: Erst die Schwanzfedern, dann der Rumpf, schließlich die Flügel und zuletzt der Kopf. Mit den Augen erwachte der Vogel zum Leben. Je komplizierter das Bild war, desto besser. Sie musste sich dann sehr konzentrieren, setzte Pünktchen für Pünktchen, malte kleine Flächen sorgsam aus und hielt immer wieder inne, um mit etwas Abstand das werdende Bild zu betrachten.

Die Flügel des Eichelhähers, bei denen sie nun angekommen war, erforderten eine besonders ruhige Hand. Seine hellblau und schwarz gebänderten Flügeldecken erinnerten sie an die Kacheln im Becken eines Freibades. Bei diesem Eichelhäher würde sie jedoch ein bisschen mogeln. Statt Blau wollte sie Türkis verwenden. Sie liebte den Farbton, weil er besonders leuchtete und interessanterweise erschien das Wort vor ihren inneren Augen in demselben Farbton, den es beschrieb. Die Form des Wortes war außerdem wunderschön geschwungen, eine sanfte Welle mit einem Hauch Glitzer an der höchsten Stelle. So sah in ihrer Welt das Wort Türkis aus. Sie hatte länger gebraucht, um zu verstehen, dass nicht alle Menschen Worte als Bilder sahen.

Nana mischte gerade das Türkis zusammen, als ihre eingestellte Erinnerung im Handy klingelte. 16 Uhr. Genervt schloss sie die Augen. Sie wollte jetzt nicht unter Menschen gehen. Nana wollte Türkis. Sie seufzte. Aber sie brauchte ein neues Zuhause. Ihre Wohnung war für eine Person zu groß, erst recht, seit sie ihren Job los war. Schöne Scheiße. Widerwillig stellte sie den Pinsel in das Wasserglas, drehte Deckel auf die Farbtöpfchen, zog ihre Sandalen an, die sie unter dem Schreibtisch abgestreift hatte, und verließ ihre vier Wände.

Nana hatte die Anzeige im Netz gefunden. Die Wohnung lag nicht weit entfernt, sie konnte zu Fuß dorthin gehen. Der Mieter, mit dem sie kurze Nachrichten ausgetauscht hatte, klang freundlich. Er hieß Lutz, wollte in zwei Monaten ausziehen und suchte einen Nachmieter. Für weitere acht Wochen in der alten Wohnung bleiben zu müssen, erschien ihr schrecklich lang, alles erinnerte an das Wir. Aber, wie hätte Elsa so schön gesagt: Nützt ja nix. Dabei hätte sie kurz mit den Schultern gezuckt und damit das Thema ad acta gelegt. Nana lächelte. Sie dachte in diesen Tagen häufig an Elsa und ihre Weisheiten. Sie hatte ihr noch nichts von der Trennung erzählt. Sie wollte nicht, dass Elsa sich Sorgen um sie machte.

Nana blickte auf die Hausnummern. Sie war zu weit gegangen. Das passierte ihr oft, denn sie konnte sich wunderbar in Gedanken verlieren. Sie lief ein Stück zurück und blickte an der Fassade hoch. Beige, braun, hier und da blätterte Farbe ab. Nana schaute die Straße zu beiden Seiten hinunter. In einer Richtung befand sich der Nordpark, gar nicht weit entfernt der Siegfriedplatz. Gegenüber im Haus gab es einen Kiosk. Es war ein gutes Viertel. Es war das einzige, in dem sie wohnen wollte.

Nana atmete tief durch und klingelte. Der Summer brummte, ohne dass jemand etwas durch die Gegensprechanlage gesagt hätte. Sie betrat den Hausflur, er war angenehm kühl. Vielleicht würde sie einfach den Rest des Sommers hier auf diesen Stufen sitzen, Steine bemalen und sich gelegentlich Weingummi und Wasser im Kiosk besorgen. Sie stieg die Treppe hinauf, denn sie musste in den dritten Stock, so hatte es in der Anzeige gestanden: 3-Zimmer-Wohnung, Einbauküche, 3.OG., 700 Euro kalt.

In der Tür stand Lutz, zumindest ging Nana davon aus, dass es Lutz war. Er trug trotz der Hitze schwarze Lederschuhe, eine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Das Wort Schwarz mochte sie nicht so sehr. Es erschien ihr dreckig rot und in einem schnöden Rechteck. Weiß hingegen war ein richtig schönes Wort. Es strahlte in Gelb und ein blauer Schweif zog sich hindurch.

Der Mann hob zur Begrüßung die Hand, während sie die letzten Stufen erklomm. „Lutz“, sagte er, und seine Stimme klang angenehm ruhig.

„Nana“, gab sie zurück, setzte ein „Hallo“ hinterher und versuchte dabei zu lächeln.

„Komm rein und schau dich gerne um.“ Lutz vollführte eine einladende Geste. Sie hatten sich bereits in den Nachrichten, die sie geschrieben hatten, geduzt.

Sie folgte ihm durch den Flur. Seine Schuhsohlen klackerten auf den Fliesen, und Nana fragte sich, was die Mieter unter ihm davon hielten, dass er diese Schuhe trug. Sie verliebte sich sofort in diese Wohnung. Die Wände waren allesamt weiß gestrichen. Im Flur und in der Küche, in die sie beim Vorbeigehen einen ersten Blick erhaschte, waren dunkle Fliesen verlegt, im Wohnzimmer Parkett. Sie fühlte sich wohl in dieser Schlichtheit. Und obwohl durch die großen Fenster die Sonne hereinschien, war es in den Räumen erträglich warm.

„Wow“, entfuhr es ihr, als sie sich schließlich im Wohnzimmer gegenüberstanden. „Schöne Wohnung. Und ein grandioses Licht. Das wäre ein perfekter Raum für ein Atelier.“

Lutz blickte auf die Sonnenstrahlen, die auf das Parkett fielen, als sähe er sie zum ersten Mal. „Mag sein. Bist du Künstlerin?“

„Ich weiß nicht“, sagte sie und wusste, dass die Antwort seltsam klang. „Ich schaue mir mal die anderen Räume an, ja?“, schob sie schnell hinterher.

„Ja, bitte. Guck dir alles in Ruhe an. Wenn du fertig bist oder Fragen hast, findest du mich hier.“ Lutz setzte sich an den Schreibtisch, schob seine Brille auf den Kopf und vertiefte sich sogleich in Unterlagen.

„Du hast ja schon fast alles geschafft“, sagte Nana laut, als sie ins Schlafzimmer blickte. Dort stand nur noch ein Bett, neben dem sich ein wackliger Turm aus Büchern emporhob. An der Wand stapelten sich bereits gepackte Kartons, aus denen hier und da noch ein Kleidungsstück herauslugte. Sie ging ins Badezimmer, das ausschließlich vom Schlafzimmer aus zugänglich war. Es war klein, jedoch mit einem Fenster ausgestattet, was Nana als einen großen Pluspunkt empfand.

„Geschafft?“, kam es aus dem Wohnzimmer irritiert zurück.

„Mit dem Packen. Du bist schon fast fertig. Dabei hast du noch zwei Monate Zeit. Respekt.“ Nana schlenderte weiter durch die Wohnung, die bei genauer Betrachtung sehr kahl, fast traurig wirkte, weil kein einziges Bild an den Wänden hing und nichts Persönliches mehr zu entdecken war. Die Einbauküche hatte offensichtlich schon einige Jahre auf dem Buckel, würde aber ihre Dienste leisten. Nana war ohnehin keine große Köchin.

„Nimmst du den Kühlschrank mit?“, fragte sie Lutz, als sie das Wohnzimmer wieder betrat.

„Hm?“ Er machte sich noch eine letzte Notiz, legte den Stift dann zur Seite und schaute sich suchend um. „Wo habe ich denn jetzt schon wieder meine Brille …“

„Auf dem Kopf“, half Nana und schmunzelte. So erging es ihr auch häufig. Wahrscheinlich empfand sie deshalb Zerstreutheit bei Menschen als vertrauenserweckend sympathisch.

„Oh, natürlich. Danke.“ Peinlich berührt setzte er die Brille auf und schaute Nana fragend an.

„Der Kühlschrank“, wiederholte sie. „Gehört er zur Küche oder ist er dein Eigentum?“

Er antwortete nicht sofort, sondern musterte sie stattdessen eindringlich. Sein Blick blieb lange an ihrem Tuch haften, das Nana sich um den Pagenkopf gebunden hatte. Sie ertastete mit ihren Händen, ob es noch so saß, wie es sollte.

Lutz schüttelte sich kurz. „Entschuldigung. Ich war noch in Gedanken bei meiner Arbeit.“ Er drehte die Papiere auf seinem Schreibtisch um und räusperte sich. „Der Kühlschrank gehört zur Küche. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Ein Wasser vielleicht? Cola habe ich auch noch da.“

„Ein Wasser wäre nett.“

Er verschwand in der Küche, und Nana ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer streifen. Schreibtisch aus dunklem Holz, altes graues Sofa, kleiner Glastisch. Neben dem Sofa befand sich ein Terrarium auf dem Boden. Vom Bewohner keine Spur. Das Holzhäuschen, die Kletterangebote und die Knabberstange ließen auf einen Nager schließen. Dort also, in der hintersten Ecke des Wohnzimmers, hatte sie doch etwas Persönliches entdeckt. Sie erschrak ein wenig, als plötzlich eine Hand mit einem vollen Wasserglas in ihrem Blickfeld auftauchte. Im Wasser schwammen Eiswürfel. Nana hasste Eiswürfel. Das Eis schmerzte an ihren Zähnen. Doch wenn sie ehrlich war, lag ihre Abneigung vor allem am Benidorm-Urlaub, den ersten Flugurlaub in den Süden, den sie als Kind mit ihren Eltern unternommen hatte.

Nanas Reise

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