Читать книгу Er war mein Urgroßvater - Christiane Scholler - Страница 16
Nicht für die Schule, sondern für das Leben
ОглавлениеCarl Ludwigs lebhaftes Interesse für fremde Länder und Sitten, aber auch für Kunst und Gewerbe muss den kleinen Franz Ferdinand bald »angesteckt« haben. Der Bub war schon früh fasziniert von den Erzählungen seines Vaters über die große, weite Welt und von dem damals gar nicht so üblichen Blick weit über den eigenen Tellerrand hinaus. Kein Zufall also, dass Franz Ferdinand – vielleicht auch unbewusst – seinem Vater nacheiferte. Später, als Erwachsener, unternahm er weite Reisen, auf denen er das Erlebte genau dokumentierte. Er wurde ein begeisterter Sammler von Gewerbe- und Kunstgegenständen, um Kultur zu erhalten und auch für nachfolgende Generationen erlebbar zu machen.
Die Grundlagen für diese späteren Neigungen sind jedoch nicht nur in den vielseitigen Tätigkeiten des Vaters zu suchen, sondern auch in einem beeindruckenden umfassenden Lehrplan mit genau geregeltem Unterricht. Ganztagsschule war für Franz Ferdinand und seine Geschwister praktisch selbstverständlich. Der Lehrplan dieses Privatunterrichts war in vielem genauso wie für Gleichaltrige in den öffentlichen Schulen, aber um wichtige Zusatzfächer erweitert. Die Kinder lernten nicht nur »das Übliche«, wie Deutsch, Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, Zeichnen, Musik und Turnen; es kamen, vor allem nach den Kinderjahren, neben Staatswissenschaften und Kirchenrecht auch Sprachen wie Englisch, Latein und Französisch sowie Tschechisch und Ungarisch dazu. Sogar das Fach »Terrain-Aufnahme«, was wohl der Arbeit eines Geometers gleichkommt, war dabei.
Das letzte Familienfoto von Februar 1896; v.l.n.r. Erzherzogin Maria Annunziata, Erzherzogin Marie Therese, Erzherzogin Elisabeth, Erzherzog Franz Ferdinand, Erzherzog Carl Ludwig, Erzherzog Ferdinand
Dass auch alles genau nach Plan ablief, dafür sorgte ein bewährter und erstklassiger Stab an Lehrern und Ausbildnern, unter denen sich viele klingende Namen wie die Grafen Bohuslaw Aichelburg, Karl Coreth, Johann Nostitz-Rieneck und Georg Wallis fanden. Sie alle unterrichteten unter der umsichtigen und klugen Leitung des Grafen Ferdinand Degenfeld. Was aus heutiger Sicht vielleicht ein wenig hochgestochen klingt (lauter Grafen!), war im Sinne einer Erziehung für spätere hohe Ämter unverzichtbar. Nur erstklassige Lehrer konnten erstklassigen Unterricht bieten, und darauf kam es in der kaiserlichen Familie an.
1896 senden »Otto, Franzi und Ferdinand« (v.l.n.r.) ihrer geliebten Stiefmutter »viele Handküsse aus Monte Carlo«.
Wer nun glaubt, ein wenig Zuhören und ein wenig Üben und das war’s dann auch schon, der Rest des Tages dient dem Vergnügen, der irrt gewaltig. Franz Ferdinand und sein Bruder Otto hatten einen straffen Zeitplan, der nur sehr wenige Möglichkeiten für Spaß und Spiel bot. Unterricht war von Montag bis Samstag ab 7.30 Uhr früh, manchmal auch schon ab 7.00 Uhr. Dreimal pro Woche war der Kirchenbesuch Pflicht. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen für Frühstück, Mittag- und Abendessen wurde den ganzen Tag über, zumindest bis 20.00 Uhr, gebüffelt.
Dass bei so einem Tagesablauf die Disziplin nicht immer 100-prozentig da ist, liegt auf der Hand. Und Franz Ferdinand war, das muss man ehrlich sagen, kein begeisterter, ehrgeiziger Lerner. Heute würde man vielleicht sagen: Hauptsache, die Kinder kommen durch! Damals jedoch, bei einem jungen Erzherzog in Erwartung späterer höherer Aufgaben, war die Situation auch für die Lehrer nicht so leicht. Das zeigt zum Beispiel ein Schreiben des vorhin erwähnten Grafen Degenfeld vom 14. August 1871 an den damals erst achtjährigen Franz Ferdinand: »Graf Koreth schreibt mir auch, dass Sie meistens brav sind. Nun, ich bin hierüber recht froh, und ich bin überzeugt, in seinem nächsten Brief wird es heißen, Sie seien immer brav. Es ist für ihn eine große Mühe, immer mit Ihnen beiden zu sein und auch noch Otto Stunden zu geben.«
Später einmal sollte Franz Ferdinand in Hinblick auf diese Zeit der Lernjahre ziemlich klar sagen, was ihm damals so gegen den Strich ging: »Von der Früh bis in die Nacht, eine Stunde nach der anderen, alles durcheinander, kaum dass wir einmal zwischen zwei Stunden brav an der Hand des Hofmeisters ein bisschen spazieren gehen durften. So kommt es, dass wir alles gelernt haben und gar nichts Ordentliches wissen.« Das könnte eigentlich auch ein Gymnasiast der heutigen Zeit geschrieben haben!
Noch viel weniger für den Ernst des Lebens geeignet schien der jüngere Bruder Otto. Er war immer zu Streichen aufgelegt, stets lustig, nur selten brav und eifrig. Unterschiedlicher könnten zwei Brüder kaum sein: Franz Ferdinand als eher ernster Charakter, Otto als ausgelassener, heiterer Knabe. Ich bin selbst Mutter von vier Kindern und weiß daher sehr gut, was es heißt, möglichst gerecht sein zu wollen und niemanden zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Vor diesem Problem standen auch damals Eltern und Pädagogen.
Psychologisch vielleicht verständlich, erzieherisch aber ein Jammer: Sowohl die Lehrer als auch der Vater »bevorzugten« immer wieder den fröhlichen Otto. Nie bewusst, oft kaum merklich, aber für den älteren der beiden Brüder, Franz Ferdinand, ein echter Frust. Kein Wunder, dass diese Kinder- und Jugendjahre nicht spurlos an ihm vorübergehen konnten. Und durchaus nachvollziehbar, dass die von ihm latent empfundene »Zurücksetzung« aus ihm einen eher zurückgezogenen, manchmal auch verdrossenen und sehr ernsten jungen Menschen machte. An dieser Stelle nochmals Hochachtung für die junge Stiefmutter, die alle Geschwister gleich behandelte und liebte, und auch keine Unterschiede machte, als sie ihrem um so viele Jahre älteren Mann noch zwei Töchter schenkte.