Читать книгу Er war mein Urgroßvater - Christiane Scholler - Страница 9
Das Attentat
Оглавление»Wir haben bereits 14 Minuten Verspätung, und ich beginne langsam, ungeduldig zu werden … Wozu haben wir einen Hof-Sonderzug, wenn wir den Zeitplan ohnedies nicht einhalten können? Wir hätten Bad Ilidza ohne Weiteres pünktlich verlassen können. Dort vorne ist endlich unser Ziel. 10.07 Uhr, wir sind vor der Kaserne. Ich sehe, unsere Wagen warten bereits. Das Umsteigen wird also hoffentlich rasch vonstatten gehen.«
So oder so ähnlich könnten die Gedanken meines Urgroßvaters, des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este, gewesen sein. Er ahnt zu diesem Zeitpunkt am 28. Juni 1914 nicht, dass die letzten Minuten seines Lebens bevorstehen. Er beginnt sie, indem er jenes Fahrzeug im Wagenkonvoi besteigt, das ihn in den Tod führen wird.
Juni 1914: Der sichtlich mit dem Manöververlauf zufriedene Erzherzog Franz Ferdinand zeigt sich leutselig.
Sehen Sie sich den berühmten Oldtimer genau an. Im überdachten Innenhof unseres Schlosses Artstetten steht eine maßstabgetreue Nachbildung des Todesfahrzeuges. Für damalige Verhältnisse ein tolles Gefährt: elegant, schwarz gepolsterte Ledersitze, Cabriolet, 3,5 Liter Hubraum und 32 Leistungs-PS; zwei Sitzreihen (die zweite allerdings besteht nur aus Klappsitzen) hinter dem Fahrer, Reservereifen seitlich an der Fahrertüre – ein Gräf & Stift mit dem Kennzeichen A III 118, der sich damals im Privatbesitz von Graf Franz Harrach befand. Das Originalfahrzeug steht im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien.
Und nun gehen Sie von rechts seitlich auf den Wagen zu. So, als wollten Sie die Türe öffnen und einsteigen. Etwa eineinhalb Meter davor bleiben Sie stehen. Blicken Sie auf die gepolsterte Rückbank und stellen Sie sich vor: Dort sitzt Franz Ferdinand, der Thronfolger, und rechts neben ihm seine über alles geliebte Sophie. Und nun versuchen Sie sich vorzustellen, dass draußen, direkt neben Ihnen, der Attentäter seine Hand mit der Pistole hebt …
Franz Ferdinand im Gespräch mit einem Offizier
Die knappe Stunde davor muss für Franz Ferdinand eine Mischung aus Routine und Aufregung gewesen sein. Sehr wahrscheinlich hat er zunächst ein erleichtertes Resümee gezogen, dass die absolvierten Manöver-Besuche in den Tagen zuvor trotz einiger heftiger Wetter-Kapriolen gut abgelaufen waren und nun das Ende der Bosnien-Reise nahte. Zufrieden mit der seit 26. Juni laufenden Heerschau, an der 22.000 Soldaten verschiedenster Nationalitäten teilgenommen hatten, sollte auch Kaiser Franz Joseph sein, in dessen Auftrag mein Urgroßvater die Truppen inspizierte. Franz Ferdinands Telegramm vom 27. Juni 1914 an seine Majestät in Bad Ischl war entsprechend positiv:
»Der Zustand der Truppen, ihre Ausbildung sowie ihre Leistungen waren ganz vorzüglich und über alles Lob erhaben […] beinahe keine Maroden, alles frisch und munter. Morgen besuche ich Sarajevo und reise abends ab. In tiefster Ergebenheit mich zu Füßen legend Euer Majestät untertänigster Franz.«
Das klingt zufrieden und mit sich und der Welt im Reinen. Die Manöver sind wie erhofft zu einer Art großer Heerschau des Habsburgerreiches geworden. Der Zweck der Bosnien-Reise ist also erfüllt. Da würde an sich nichts gegen eine sofortige Abreise Richtung Heimat sprechen. Doch das offizielle Programm sieht noch eine Stadtrundfahrt und ein Abschiedsessen vor. Gut gelaunt schickt der Thronfolger also am Morgen jenes verhängnisvollen 28. Juni an das älteste seiner drei Kinder, Tochter Sophie, ein kurzes Telegramm: »Befinden von mir und Mami sehr gut. Wetter warm und schön. Wir hatten gestern großes Diner und heute Vormittag den großen Empfang in Sarajevo. Nachmittags wieder großes Diner und dann Abreise auf der Viribus Unitis. Umarme Euch innigst. Dienstag. Papi.« (Viribus unitis, lateinisch für »Mit vereinten Kräften«, ist der Name eines Schiffes.)
Der Thronfolger beobachtet mit Generalmajor Dr. Carl Bardolff (Chef der Militärkanzlei) den Verlauf des Manövers.
Nicht ganz so entspannt waren jene Berater meines Urgroßvaters, die noch kurz vor dem Sarajevo-Besuch ausdrücklich davor warnten. Conrad von Hötzendorf zum Beispiel, der österreichische Generalstabchef, verabschiedete sich mit den Herren in seiner Begleitung gleich nach dem Nachmittags-Diner im Hotel Bosna am 27. Juni. Er wurde zur Garnison-Inspektion in Karlovac erwartet. Das war ein guter Anlass für den Vorschlag einiger Begleiter Franz Ferdinands, sich Hötzendorf anzuschließen und ebenfalls sofort abzureisen. Was sprach schon dagegen?
Leider vor allem Feldzeugmeister Oskar Potiorek, Landeschef von Bosnien und der Herzegowina. Er hatte die gesamte Visite organisiert, und ihn wollte der Erzherzog nicht vor den Kopf stoßen. Oberstleutnant von Merizzi, der Adjutant Potioreks, sprach es offen aus: Eine Absage würde seinen Chef bestimmt kränken. Und sogar Sophie meinte, an den Präsidenten des bosnischen Landtages, Josip Sunaric, gewandt: »Lieber Sunaric […] wir sind überall im Lande, auch ausnahmslos von der serbischen Bevölkerung, so freundlich begrüßt worden und mit einer Herzlichkeit und ungeheuchelten Wärme, dass wir ganz glücklich darüber sind.« Bedeutungsschwer daraufhin Sunarics Antwort: »Hoheit, ich bitte Gott, dass, wenn ich morgen Abend die Ehre habe, Sie zu sehen, Sie mir dieselben Worte wiederholen können. Mir wird dann ein Stein vom Herzen gefallen sein, ein großer Stein!«
Der Erzherzog und Dr. Carl Bardolff
Vieles sprach dafür, vorzeitig die Heimreise anzutreten und froh zu sein, dass die Bosnien-Visite bis dato ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen war. Zum Beispiel die Tatsache, dass Attentate auf dem Balkan zur damaligen Zeit keine Seltenheit waren. Bereits in den Jahren zuvor waren österreichische Würdenträger des Öfteren mit Bomben attackiert worden. Stets stammten die Attentäter aus Bosnien. Sie waren dort zur Schule gegangen, emigrierten in das Königreich Serbien und traten in Belgrad der »Schwarzen Hand« bei, einer radikalen Geheimgesellschaft, die systematisch Hass auf alles Österreichisch-Ungarische schürte. Geleitet wurde sie von einem fanatischen Oberst namens Dragutin Dimitrijevic, bei seinen Anhängern unter dem Codenamen »Apis« bekannt (in Anspielung auf den ägyptischen Apis-Stierkult). Er machte aus jungen Männern nationalistisch verhetzte Spione und fanatische Attentats-Süchtige. Ihre Tätigkeit hatte nur ein Ziel: die Vereinigung aller Südslawen zu einem großserbischen Reich. Der künftige Herrscher Franz Ferdinand jedoch wäre solchen Plänen mit Sicherheit im Wege gestanden. Im Thronfolger sah der nationale Fanatiker »Apis« deshalb einen deklarierten Feind des Serbentums. So wie er dachten viele Serben.
Dazu kam die unglückselige Auswahl des Datums: Der 28. Juni war der Vidovdan, der Nationalgedenktag aller Serben. Am 28. Juni 1389 hatten die Serben durch die Niederlage gegen die Türken in der Schlacht auf dem Amselfeld ihre Freiheit für Jahrhunderte verloren. Ausgerechnet diesen Tag für den Sarajevo-Besuch auszuwählen, zeugt von der geringen Menschenkenntnis und wohl auch diplomatischen Unfähigkeit des Organisators Potiorek. Dies im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich zum Schutz des hohen Besuches kein Militär in Sarajevo befinden konnte, da die Soldaten ja samt und sonders für die Truppenübungen außerhalb der Stadt zusammengezogen waren. Zu guter Letzt war mein Urgroßvater auch noch bekannt für die Abneigung gegen Sicherheitsvorkehrungen, die seine Person betrafen. Legendär ein Ausspruch, den er an den Leiter seiner Militärkanzlei, Oberst Bardolff, gerichtet hatte: »Ihre Warnung ist gewiss berechtigt, aber unter einen Glassturz lasse ich mich nicht stellen. In Lebensgefahr sind wir immer. Man muss nur auf Gott vertrauen.«
Meine Urgroßeltern machen sich also auf den Weg. Auf dem Plan stehen Stadtrundfahrt, kurze Behörden-Besuche, Abschieds-Diner am frühen Nachmittag, und dann ist auch schon das Ende des Sarajevo-Besuches in Sicht. Sophie freut sich auf die Heimreise, vor allem auf die drei Kinder. Noch wenige Augenblicke vor dem Attentat sitzen Sophie und Franz Ferdinand relativ entspannt – er links in Generalsuniform, sie rechts im weißen Seidenkleid, lächelnd, mit Sonnenschirm – hinter dem Organisator des Besuchs, jenem Feldzeugmeister Potiorek, sowie dem stolzen Autobesitzer Graf Harrach. Vor ihnen Harrachs Chauffeur Leopold Loyka, neben diesem der Leibbüchsenspanner des Erzherzogs. Alle Insassen sind erstaunlich gefasst – obwohl bereits kurz vor dieser Aufnahme eine adaptierte Handgranate gegen den Fahrzeugkonvoi geschleudert worden war. Ein misslungener erster Attentatsversuch!
Ankunft in Sarajevo
Wenn heutzutage eine Granate oder gar Bombe in zivilem Umfeld explodiert, ist Feuer am Dach. Alarmstufe Rot, Zivilbevölkerung von den Straßen, Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, Entschärfungsdienst: Wer und was auch immer im Katastrophenfall organisiert werden kann, wird mobilisiert. Das Szenario von Sarajevo ist bei einem heutigen Staatsbesuch schwer vorstellbar. Moderne Sicherheitsvorkehrungen machen derlei Vorkommnisse fast unmöglich. Aber nur fast, man denke zum Beispiel an die niederländische Königin Beatrix und ihre Familie, die am 30. April 2009 bei der Parade zum Königinnentag in Apeldoorn knapp einem Mordanschlag entgingen. Ein Amokfahrer raste durch die jubelnde Menschenmenge auf den Bus der Monarchin zu und tötete dabei fünf Menschen. Er hat später angegeben, dass sein Ziel die königliche Familie gewesen sei.
Herzogin Sophie von Hohenberg wartet auf die Weiterfahrt mit dem Auto
Spätestens jetzt also, nach dem Detonieren der Handgranate unter einem der Fahrzeuge des Ehrenkonvois in Sarajevo, hätte jedermann klar sein müssen, dass »etwas im Busch« ist. Wenn es so weit kommen kann, dass bereits bei der Cumurija-Brücke, kurz nach 10.00 Uhr, ungehindert eine Art Bombe gegen den Konvoi geschleudert werden kann – wie steht es dann um die Sicherheit des Thronfolgers und seiner Frau?
Für diesen ersten Täter, den Schriftsetzer Nedeljko Čabrinović, war es ein Leichtes gewesen, aus dem Spalier der Menge zu treten, den Zünder auszulösen und den büchsenförmigen Gegenstand gegen den Wagen des Thronfolgers zu werfen. Die Zuschauer sahen nur einen kleinen, dunklen Gegenstand durch die Luft sausen, aber offenbar dachte niemand in diesem Augenblick an ernsthafte Gefahr. Dann gab es ein paar dramatische Momente: Die Bombe rollt vom zurückgeschlagenen Verdeck des Thronfolger-Fahrzeuges rückwärts auf die Straße und explodiert unter dem dritten Wagen. Die Kolonne stoppt. Große Aufregung, Geschrei, Gestank und Pulverdampf.
Auf der Fahrt zum Rathaus – kurz vor dem ersten Attentat
Ein Splitter der Sprengkapsel hinterlässt am Hals der Herzogin einen Kratzer, Oberstleutnant Merizzi wird am Kopf schwer verletzt und blutet stark. Er wird im nahe gelegenen Ambulatorium Dr. Löffler erstversorgt und dann sofort ins Garnisonspital gebracht. Die Menschenmenge ist geschockt, es ist ein Wunder, dass es nur wenige Verletzte gibt. Das mag auch daran liegen, dass es um diese Tageszeit bereits heiß ist und viele Zuschauer sich in Gruppen in den Schatten der Bäume am Straßenrand begeben haben.
Der junge Attentäter hat seinen Plan ausgeführt und will nun offenbar Plan B verwirklichen, seinen Selbstmord. Dazu springt er nach vollbrachter Tat über die Ufermauer in die Miljacka. Das weiße Pulver, mit dem er sich, im Fluss stehend und Flusswasser trinkend, vergiften wollte, hatte er in der Aufregung allerdings zuvor verstreut. Der Selbstmordversuch misslingt daher. Er wird festgenommen und den Behörden übergeben.
Für heutige Verhältnisse unvorstellbar: Der Konvoi setzt seinen Weg fort. Keine Rede von sofortiger Evakuierung der Insassen der Fahrzeuge. Kein ernsthafter Versuch, den offiziellen Teil des Besuches zu beenden und den Thronfolger mit seiner Frau in Sicherheit zu bringen. Nein, »business as usual« ist angesagt. Es geht weiter zum Rathaus. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Die letzten Schritte
Im Rathaus angekommen, unterbricht Franz Ferdinand, begreiflicherweise angesichts der Vorfälle nicht mehr ganz so entspannt wie vor Antritt der Stadtrundfahrt, die Rede des Bürgermeisters, der von Liebe und Ergebenheit der Bevölkerung zum allerhöchsten Herrscherhaus schwadroniert. Und der offenbar – wieder ein offensichtliches Versagen der Kommunikation an höchster Stelle – vom Attentatsversuch gar nichts mitbekommen hat: »Was hab ich von Ihren Reden – da kommt man zu Besuch in diese Stadt und wird mit Bomben empfangen. So, jetzt fahren Sie fort.«
Der Bürgermeister versteht noch immer nicht und bringt seine Rede irgendwie zu Ende. Unter den Honoratioren der Stadt herrscht Ratlosigkeit, wie es nun weitergehen soll. Seine Sophie würde der Erzherzog gerne in Sicherheit wissen, sie soll zurück nach Ilidza oder zumindest in den Konak, den Wohnsitz des Landeschefs, wo das Mittagessen stattfinden soll. Freundlich, aber dezidiert weist sie diesen Vorschlag zurück: »Solange der Erzherzog sich heute in der Öffentlichkeit zeigt, verlasse ich ihn nicht.«
Graf Franz Harrach als »Schutzschild« für den Thronfolger
Franz Ferdinand will den verletzten Oberstleutnant Merizzi im Spital besuchen, bevor man dem offiziellen Programm weiter folgt, das Landesmuseum besucht und dann als Abschluss ein spätes Mittagessen einnimmt. Die Wagen starten also. Oberst Bardolff gibt dem Chauffeur des ersten Wagens den Befehl, mit möglichst hoher Geschwindigkeit den Appelkai entlangzufahren, zum Garnisonspital. Nicht, wie ursprünglich geplant, durch die Franz-Joseph-Straße und durch den Stadtkern zum Konak. Und nun passiert’s, das Unglück nimmt seinen Lauf. Die beiden ersten Wagen biegen bei der Lateinerbrücke zur Franz-Joseph-Straße ab – falsch! Das wäre die ursprüngliche Route gewesen! Der Erzherzog will jedoch zum Garnisonspital. Der Wagen mit meinem Urgroßvater bleibt weisungsgemäß hinter den beiden ersten Fahrzeugen.
Als Feldzeugmeister Potiorek im Wagen des Thronfolgers den Irrtum bemerkt, gibt er dem Chauffeur sofort Befehl, zu wenden, über den Appelkai weiterzufahren und erst beim Garnisonspital zu halten. Der Fahrer bremst ab und beginnt zu reversieren. Es folgen die dramatischen Sekunden jenes Augenblickes, der nicht nur ein glückliches Ehepaar plötzlich aus dem Leben reißt und drei Kinder zu Vollwaisen macht. Er löst eine Völkerschlacht aus, die 15 Millionen Menschen das Leben kostet und Österreich fast vollständig von der Landkarte verschwinden lässt.
An diesem warmen, schönen Sonntagvormittag steht der Attentäter Gavrilo Princip, mit einer Pistole bewaffnet, mitten unter den zahlreich die Straße säumenden Zuschauern. Hochrufe sind zu hören, winkende Menschen stehen in Gruppen, die meisten entlang der Häuserfront, wo die Bäume Schatten spenden. Weit weniger Zuseher sind auf der anderen Straßenseite zu sehen, entlang des Flusses. Dort brennt die Junisonne kräftig vom Himmel. Dem Attentäter scheint das nichts auszumachen. Hier kann er sich besser vorbereiten, ungehindert in Position stellen. Er wartet – und hat leichtes Spiel. Denn es gibt nach wie vor so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen. Die wenigen anwesenden serbischen Polizisten, für die gesamte Stadt gerade einmal 120 an der Zahl, machen keinen sehr wachsamen Eindruck. Auch haben der Erzherzog und seine Frau noch immer keine Leibwächter dabei. Heutzutage unvorstellbar!
Die letzte Fahrt beginnt.
Das Fahrzeug mit dem Thronfolger und der Herzogin von Hohenberg muss also kurz halten. Diese Sekunden genügen. Schüsse peitschen durch die Luft. Aus nicht einmal zwei Meter Entfernung schießt der junge Bosnier zweimal und trifft fatal genau. Erst die Bauchschlagader der Fürstin, dann mit dem nächsten Schuss den Erzherzog in die Halsschlagader. Sekundenlang sitzt das Thronfolgerpaar noch aufrecht im Wagen. »Um Gottes Willen, was ist Dir geschehen?«, soll Sophie ihren Mann, aus dessen Hals bereits Blut quillt, noch gefragt haben. Dann sinkt sie nach vorne, ihr Körper rutscht vom Sitz, und es sieht aus, als sei sie ohnmächtig geworden. Sophie, meine Urgroßmutter, stirbt.
Das Attentat (zeitgenössische Illustration)
»Sopherl, Sopherl, stirb mir nicht, bleib für unsere Kinder«, soll mein Urgroßvater geflüstert haben. Wenn man aber die schwere Verletzung (rechte große Halsschlagader zerrissen, Schilddrüse zerfetzt, Ringknorpel der Luftröhre zertrümmert) bedenkt, war dies schwer möglich. Verzweifelt gedacht haben mag er es indessen schon …
Der Erzherzog spürt, dass das Ende gekommen ist. Graf Harrach versucht, das Vorsinken des Kopfes des Thronfolgers, aus dessen Mund ein dünner Blutstrahl spritzt, zu verhindern, er stützt ihn durch Festhalten am Rockkragen und fragt: »Leiden Eure kaiserliche Hoheit sehr?« Franz Ferdinand soll einige Male, immer leiser werdend, das Bewusstsein verlierend, geflüstert haben: »Es ist nichts.« Auch diese Worte mögen vielleicht durch Lippenbewegungen angedeutet worden sein, ein hörbares Sprechen war mit der tödlichen Verletzung kaum noch möglich.
Meine Urgroßeltern verbluten innerhalb kürzester Zeit. Obwohl der Fahrer sofort reagiert und innerhalb von zwei Minuten beim Sitz des Landeschefs eintrifft, um dort die Erstversorgung in die Wege zu leiten, kommt jede ärztliche Hilfe zu spät. Die beiden leblosen Körper werden über die Treppe in den Konak hineingetragen, wo die Ärzte um 11.00 Uhr nur noch den Tod feststellen können. Die im Protokoll nüchtern festgehaltenen Todesursachen lauten: inneres Verbluten durch Eindringen eines 9-mm-Projektils in den Unterleib – in die Bauchaorta – der Herzogin von Hohenberg; Durchschlagen der Halsschlagader und der Luftröhre des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Wenig später wird die Aufbahrung der Verstorbenen veranlasst, kurz nach 11.00 Uhr sind bereits die ersten Totenglocken aus der katholischen Kathedrale zu hören.
Kurz nach dem Attentat spielten sich tumultartige Szenen ab.
Eine Verkettung unglückseliger und zum Teil auch mysteriöser Umstände führte zum alles entscheidenden, tödlichen Zwischenfall. Es gab und gibt bis heute eine Unzahl an Mutmaßungen, warum an jenem Schicksalstag das Fahrzeug des Thronfolgers genau vor die Mündung des Attentäters geriet. Oder geraten musste?
Fast unheimlich mutet es an, wenn man Vernehmungsprotokolle der Augenzeugen liest und sich des Eindruckes nicht erwehren kann, dass der Doppelmord leicht hätte verhindert werden können. Und dass ein Attentäter am Werk war, der weder als Soldat noch als Waffennarr bezeichnet werden kann. Der jedoch eine so tödliche Präzision an den Tag legte, wie sie selbst ein geübter Scharfschütze kaum zuwege gebracht hätte.
Der Bombenwerfer Nedeljko Čabrinović (+) wird von der Polizei abgeführt.
Die Mordwaffe: eine FN Browning 9 mm, Modell 1910
Es gibt zahlreiche, sehr genaue Augenzeugenberichte, die sich in vielen wichtigen Details decken. Zum Beispiel bezüglich der Tatsache, dass Gavrilo Princip nicht gezielt geschossen hat. Im ersten Moment wollte er eigentlich eine Bombe werfen, die er am Gürtel befestigt hatte. Weil es aber galt, rasch zu handeln, zog der Bursche statt- dessen seinen Revolver, wendete (nach eigener Aussage) dabei sogar den Kopf vom Fahrzeug ab und schoss in einem Winkel von 45 Grad blindlings zweimal drauflos.
Wenn man das Originalfahrzeug im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien genau betrachtet, bestätigt sich diese Angabe. Die Einschussöffnung ist rechts hinten, ungefähr dort, wo das Scharnier für das Verdeck verankert ist. Die Austrittsöffnung im Fahrzeug innen, in der Lederpolsterung, ist 10 cm weiter links. Die Richtung dieses Lochs bildet zum Einschuss einen Winkel von 45 Grad. Das Eisenblech der Verkleidung wurde vom Projektil in einem Ausmaß von 15 mm eingedrückt, der Schusskanal misst 10 mm im Durchmesser. Ein Loch von dieser Ausdehnung ist auch auf der Innenseite des Leders zu erkennen, an jener Stelle, an der Herzogin Sophie tödlich getroffen wurde.
Gavrilo Princip, Mörder des Thronfolgers und von Herzogin Sophie – ein 18-jähriger Maturant
Und dann? Bekannterweise gibt es einen Rückstoß, wenn ein Revolver beim Schuss mit nur einer Hand gehalten wird. Dieser Rückstoß reißt den Lauf der Waffe nach oben. Wenn in diesem Augenblick also noch einmal geschossen wird, muss das zweite Projektil zwangsläufig um einiges höher treffen als das erste. Genau so muss es gewesen sein. Der klein gewachsene Princip schießt nun also »hinauf« und trifft durch diesen weiteren tödlichen Zufall genau die Halsschlagader des Thronfolgers. Selbst mit modernen Waffen und Scharfschützen-Ausbildung wäre es heute fast unmöglich, in drei Sekunden eine solche Tat mit derart tödlicher Präzision auszuführen.
Wenn ich nun also versuche, die letzten Stunden im Leben meiner Vorfahren nachzuvollziehen, so komme ich nicht umhin, festzustellen: Urgroßvater, Du hättest abreisen, auf Deine Berater hören und Dein Pflichtbewusstsein einmal vergessen sollen. Aber Deine Haltung ist wohl dem damaligen Sendungsbewusstsein entsprungen. So etwas wie einen Rückzieher machen, das hat nie Deiner Art entsprochen. Todesbereitschaft, Wagemut und Opferbereitschaft waren für einen Mann wie Dich, mit Deiner militärischen Erziehung und im Zusammenhang mit dem damaligen Zeitgeist, wohl selbstverständlich. Du hättest noch ein langes und erfülltes Leben vor Dir gehabt. Und der Lauf der Weltgeschichte hätte sich entscheidend anders entwickelt.
Die aufgebahrten Särge in der Gruft von Artstetten (dazwischen der Sarg des 1908 tot geborenen Sohnes)
Titelblatt der »Illustrierte Kronen Zeitung« vom 30. Juni 1914