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Kapitel 2
ОглавлениеDer R2 richtete sich langsam auf. Verwunderung lag in ihren Augen und sie bedeckte beschämt ihre Brüste. Sam sah peinlich berührt auf den glänzenden weißen Boden hinab. In ihrem künstlichen Bewusstsein war die Erweckung als Teil ihres bisherigen Wissens eingespeichert. Sie erkannte den Testraum, dessen Bilder man in den Speicherkristallen angelegt hatte. Auch der Mann vor ihr kam ihr bekannt vor. Sie wusste, dass sie im Forschungszentrum war und dennoch fühlte sie sich aufgrund ihrer Nacktheit unwohl.
Der Professor sprach erneut die K.I. des Forschungszentrums an. „Verone, schicken Sie uns bitte umgehend einen Cyborg, der uns einen der R2-Körperanzüge bringt und legen Sie eine Notiz über ihre Scham-Reaktion ab.“
Verone antwortete umgehend. „Die Ablage dieser Notiz ist soeben erfolgt. Ein Cyborg macht sich auf den Weg zu Ihnen, Professor.“
Dann wandte sich sein Vater an das R2 Modell, das ihn unsicher ansah, als er sich einen Schritt näherte. „Du bist im Forschungszentrum in Cyron und wir haben dich soeben aus deinem Erstschlaf erweckt. In Kürze bekommst du Kleidung, damit du deinen Körper bedecken kannst. Danach werden wir einige Tests durchführen müssen, um zu sehen, ob dein System fehlerfrei funktioniert. Nun möchte ich mich aber kurz vorstellen: Mein Name ist Robert James Stanson. Ich bin einer der leitenden Professoren im Bereich der Cyborg- und K.I.-Forschung. Das ist mein Sohn Samuel, er ist hier, weil deine zukünftige Aufgabe darin besteht, durch ihn unsere Welt, sozialen Interaktionen und unsere Geschichte kennenzulernen. Außerdem dienst du seinem Schutz. Er wird also dein Pate sein, dieses Wort sowie sein Name sollten dir bereits ein Begriff sein. Ist dem so, R2?“
Vorsichtig nickte sie. Es beruhigte sie zu wissen, dass ihr Pate bereits vor Ort war. Kurz musterte sie ihn, ehe sich ihr Blick wieder auf Robert richtete. „Ist das mein Name?“
Ihre Frage zauberte dem Professor ein Lächeln ins Gesicht. Ihre Stimme war angenehm sanft und unglaublich klar, ganz anders als die von Jenna. Sie klang so perfekt wie Verones Stimme. Es gab keinen einzigen technischen Klang darin.
„Nein. Deinen Namen erhältst du von Samuel.“
Sein Sohn sah auf und blickte in die beiden erwartungsvollen Gesichter, die ihn plötzlich ansahen. Sein Vater hatte ihn schon wieder mit seinem vollen Namen vorgestellt. Eigentlich hätte er das nur zu gern korrigiert, aber ihm war die Situation noch immer unangenehm. „Wie, jetzt sofort?“ Er geriet etwas in Stress.
„Du bist doch sehr belesen und ideenreich. Es wird doch sicher einen Namen geben, den du in alten Büchern sehr gemocht hast. Vielleicht so etwas wie Gaya oder Helene“, schlug sein Vater vor.
Sam schüttelte den Kopf. „Das passt doch überhaupt nicht. Sie ist viel zu modern, um ihr einen solchen Namen zu geben.“
„Gut. Was passt denn deiner Meinung nach?“
Während die beiden sich unterhielten, wanderte der Blick des R2 aufmerksam zwischen dem Professor und seinem Sohn hin und her. Die Tür glitt plötzlich auf und ein männlicher Cyborg betrat den Raum. In den Händen hielt er einen zusammengelegten weißen Anzug.
„Sehr gut“, sagte Sams Vater und nahm das Kleidungsstück entgegen. „Sie dürfen nun gehen.“
Das männliche Modell der R1-Serie bedankte sich und verließ eilig den Raum. Dann legte Sams Vater den Anzug auf dem Boden vor der Versorgungskapsel ab, auf der der R2 nun wesentlich beruhigter aussah.
„Einfach die vorderste Naht auseinanderziehen, sie schließt sich von allein, wenn du den Anzug anhast und die Naht zusammenstreichst.“
Sie nickte dankbar.
Der Professor und Sam drehten sich um und hörten, wie sie den Stoff öffnete. Es dauerte etwas, bis sie mitteilte, dass sie fertig war. Sam und sein Vater drehten sich zu ihr um. Sie stand nun und war etwa zehn Zentimeter kleiner als Sam. Aber das war auch nicht verwunderlich. Er war generell immer ein paar Zentimeter größer als seine Mitschüler oder Freunde. Der Anzug lag ganz eng an ihrer Haut, der weiße Stoff hatte am Dekolleté einen V-Ausschnitt und ging an den Beinen bis knapp unter die Knie. Die Arme waren bis zu den Händen vollständig bedeckt.
Der Professor versicherte ihr, dass sie Schuhe und eine große Auswahl an Kleidern erhalte, sofern die Tests gut ausfallen würden. Dann dürfe sie in spätestens zwei Tagen das Forschungszentrum mit ihm verlassen und erhalte ein eigenes Zimmer und wie versprochen die alltagstauglichere Kleidung.
Dann sah er seinen Sohn erneut erwartungsvoll an. „Wir warten noch auf den Namen, Sam.“
Einen Augenblick lang fühlte er sich völlig ratlos, doch als ihr Blick den seinen traf und er in das helle Blau ihrer Augen versank, gab es keinen Zweifel mehr an dem Namen, den sie tragen sollte.
„Sky“, sagte er fest entschlossen, „wie der Himmel über der Erde.“
Sein Vater sah ihn erfreut an. Er schien zufrieden mit der Wahl. „Also gut. Gefällt dir der Name?“ Mit dieser Frage wandte er sich dem R2 zu. Der Cyborg nickte.
„Sky“, wiederholte sie zufrieden, „wie der Himmel über der Erde.“ Und sie lächelte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Vorstellung von der Erde hatte. Doch sie empfand den Klang dieses Satzes als schön und war durchaus zufrieden.
„Wir reichen einander die Hand, wenn wir uns dem anderen vorstellen. Daher würde ich gern noch einmal anfangen. Mein Name ist Robert James Stanson. Und du bist …?“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
„Mein Name ist Sky“, antwortete sie und ergriff seine Hand.
Der Professor schüttelte sie leicht und Sky verstand, dass sie sich diese Geste merken musste.
Nachdem sein Vater seinem Sohn auffordernd zugenickt hatte, trat Sam ihr entgegen und stellte sich selbst vor. „Ich bin Samuel, aber alle nennen mich Sam.“
Sie lächelte ihn an. „Sam. Das gefällt mir gut. Ich bin Sky.“
Nun reichte sie selbst ihm zuerst die Hand und Sam ergriff sie. Ihre Haut fühlte sich überraschend echt und weich an. Vorsichtig schüttelten sie einander die Hände.
„Sehr gut“, erklang die Stimme seines Vaters. „Verone, legen Sie den Namen Sky in der Datenbank dieser Serie ab und sperren Sie ihn für die Nutzung weiterer R2-Cyborgs.“
„Der Name ist abgelegt und wird an die Datenbanken Cyrons übermittelt. Können wir mit den Tests beginnen, Professor?“
„Wer ist das?“, flüsterte Sky Sam zu. Sie wunderte sich über die immer wiederkehrende Stimme, die sie keinem Gesicht zuordnen konnte.
„Das ist die K.I. des Forschungszentrums. Ihr Name ist Verone, sie hat keinen Körper wie du und ich. Sie ist quasi das gesamte Gebäude.“
„Wofür steht denn K.I.?“
Sam sah sie überrascht an. „Das steht für künstliche Intelligenz. Sie wurde von Menschen wie meinem Vater entwickelt und dient dazu, technische Geräte mit einem Lernprozess auszustatten – oder wie in eurem Fall sogar mit Gefühlen.“ Er war sich eigentlich gar nicht sicher, ob er ihr so etwas sagen sollte, geschweige denn durfte. Sie schien ja noch nicht allzu viel zu wissen, doch Sam wusste nicht, dass Sky lediglich die Abkürzung nicht kannte.
Die Stimme seines Vaters übertönte ihr Gespräch „Wir werden mit den Bewegungskoordinationsversuchen anfangen. Danach prüfen wir sie auf ihre körperlichen Empfindungen. Dazu können Sie schon einmal die Ablage mit den benötigten Utensilien ausfahren. Zeichnen Sie ihre Bewegungen bitte mit einer Nahaufnahme der Gelenke auf. Das wäre bis dahin erst einmal alles, Verone.“
„Nahaufnahme der Gelenke wurde soeben aktiviert. Die benötigten Utensilien stehen zur Verfügung. Viel Erfolg, Professor!“
Eine Schublade fuhr aus der rechten Wand des Raumes heraus. Was sich darin befand, konnten weder Sam noch Sky aus der Entfernung sehen. Als sein Vater sich Sky näherte, trat Sam einige Schritte beiseite.
„Wir beginnen nun damit deine Bewegungsfähigkeit zu prüfen. Dazu fangen wir von oben an und arbeiten uns bis zu deinen Füßen vor.“
Der R2 nickte bereitwillig. Es folgten einige Übungen. Sie musste den Kopf, soweit es ging, nach links und rechts drehen, dann nach oben und unten richten. Dabei war es ihr scheinbar nicht möglich diesen weiter zu drehen als ein Mensch. Bei Jenna sah das noch ganz anders aus. Zu ihrer Zeit spielte die Ähnlichkeit eine viel geringfügigere Rolle. Sie konnte den Kopf um 360° drehen und den Raum aus einer Position heraus komplett durchleuchten. Der Professor und Sky testeten die Schultergelenke und den Halswirbel. Bei Cyborgs achtete sein Vater stets darauf die Bauteile so zu benennen wie die Körperteile eines Menschen. Sie schauten, wie weit sie sich nach vorn beugen konnte und sie schaffte es sogar ihre Zehen zu berühren.
Sam war leider nicht ganz so sportlich. Er war zwar schlank, aber nicht wirklich muskulös. Während die meisten Jungs in seinem Alter sportlichen Aktivitäten wie Spinrun oder dem auf Hope sehr beliebten Juno nachgingen, verbrachte er seine Zeit damit die Archivkammern nach alten Schätzen zu durchforsten. Dieser Unterschied zu seinen Mitschülern machte sich meist dann bemerkbar, wenn er bei einem Sportwettbewerb der Schule schon nach den ersten Aufgaben außer Atem geriet und folglich einen der letzten Plätze belegte. Doch Sam schob diese Gedanken schnell beiseite, denn er sah sich nicht gern als Verlierer und so versuchte er sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Sky sollte derweil jeden ihrer Finger mit dem Daumen berühren und danach die Hände einmal zu Fäusten ballen. Sie bekam danach die Aufgabe ihre Augen zu schließen und zuerst den rechten Arm auszustrecken und ihren Zeigefinger zur Nasenspitze zu führen. Danach musste sie diese Übung mit dem anderen Arm wiederholen. Es folgten eine Reihe weiterer Tests wie das Hüftkreisen, Kniebeugen, auf einer Linie Laufen und das Kreisen der Füße. Für Sam war das schnell langweilig, denn sie schien jede Aufgabe problemlos zu beherrschen und er erkannte längst, dass sie einwandfrei funktionierte. Als sie zu allerletzt auch mit all ihren Zehen wackeln konnte und sich auf deren Spitzen stellte, war dieser Test endlich erfolgreich abgeschlossen.
„Bewegungsabläufe funktionieren optimal. Notieren Sie das“, die Stimme des Professors wandte sich eindeutig erneut an Verone, die ihm die Sicherung der Notiz bestätigte. Dann gratulierte er Sky beeindruckt. „Wirklich hervorragend. Für einen ersten Ablauf direkt nach der Erweckung zeigst du große Körperbeherrschung.“
Ihre Mimik verriet, dass sie das Lob mit Freude annahm.
„Nun zum zweiten Test“, der Professor drehte sich zu seinem Sohn um. „In der Ablage dort liegen mehrere Gegenstände. Ich brauche zuerst den kleinen Hammer für einen Reflextest.“
Sein Sohn gehorchte und brachte ihm umgehend das ihm nicht unbekannte Werkzeug. Der Schularzt hatte diese Übung bereits einige Male auch bei Sam durchgeführt. Bei der alljährlichen gesundheitlichen Kontrolle wurden die Schüler auf Herz und Nieren geprüft. In Skys Fall schienen auch die körperlichen Reflexe einwandfrei zu reagieren. Schlug ihr Vater mit dem Hammer auf die Kniescheibe, so fuhr das Bein etwas hoch. Dies wiederholte er an einigen anderen Körperstellen. Danach reichte er Sam den Hammer und bat ihn, diesen gegen einen Glühstein zu tauschen. Während Sam den Stein holte, schnipste der Professor einmal an ihrem linken und dann am rechten Ohr. Daraufhin näherte er sich mit einem Finger ihrem linken Auge, das sich erfolgreich zu schützen versuchte und sich dementsprechend umgehend schloss. Diesen Ablauf wiederholte er mit dem anderen Auge, das dieselbe positive Reaktion hervorbrachte.
Als sein Sohn ihm den Stein reichte, bat er Sky eine Handfläche zu öffnen, damit er ihr den Stein in diese legen konnte. Sein Vater rieb den Glühstein zuvor in beiden Händen und ließ ihn dann auf ihre Haut fallen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie plötzlich schmerzhaft das Gesicht verzerrte und ihn zu Boden fallen ließ.
„Das tat weh!“ Ihre Stimme klang erschrocken.
„Dieser Stein baut nach dem Reiben Hitze auf und er wird nach einiger Zeit so heiß, dass es Schmerzen verursacht. Das ist ein Schmerzgefühl gewesen, Sky, und zeigt deinem Körper, dass dort etwas ist, das dir schaden könnte.“ Die Erklärungen seines Vaters klangen unglaublich liebevoll. Es schien, als würde er sie bereits jetzt wie ein menschliches Kind behandeln. „Es gibt eine ähnliche Übung mit einem Kühlstein. Er simuliert Kälte, dein Körper hält ihr stand, aber eben nicht dauerhaft. Reagiert deine Haut auch darauf, kannst du dich erst einmal ausruhen. Dann machen wir eine kleine Pause und du kannst Sam etwas kennenlernen. Ich muss nach den Tests erst einmal gehen und die Aufzeichnungen überprüfen.“
Sky nickte und zeigte damit ihr Einverständnis, sich erneut einem Schmerzgefühl auszusetzen. Sam wurde geschickt, um den Kühlstein zu holen und die Prozedur wurde damit erneut durchgeführt. Wieder dauerte es einige Zeit bis auf ihrem Gesicht abzulesen war, dass sich der Stein auf ihrer Haut langsam unangenehm anfühlte. Sie ließ ihn zu Boden sinken und ballte die Hand zur Faust, um die Kälte zu vertreiben.
„Eine sehr gute instinktive Reaktion, Sky. Deine Hand nun wärmen zu wollen ist ein wundervolles Zeichen. Solche Maßnahmen gibt es auch gegen die Hitze. Du hättest dir in die Handfläche pusten können, um den Schmerz zu lindern oder, sofern du Zugriff auf eine Wasserquelle gehabt hättest, hättest du die Hand unter kaltem Wasser abkühlen können. Diese Dinge wirst du noch früh genug lernen, aber deine Ergebnisse sind bislang unglaublich beeindruckend, Sky.“ Er lächelte ihr zu. „Ich gehe nun kurz rüber. Die Steine werden nachher eingesammelt. Lasst sie solange einfach liegen, die könnt ihr im Moment wirklich nicht anfassen. Vielleicht mag Sam dir ja etwas über sich erzählen.“ Er sah seinen Sohn schon wieder erwartungsvoll an.
Na toll!, Sam würde gleich zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Mädchen allein sein. Und das nicht einmal mit einem menschlichen. So hatte er sich das für seine Zukunft eigentlich nicht ausgemalt: eine Roboterfreundin an die Seite gestellt zu bekommen, die ihm den Kontakt zu richtigen Mädchen womöglich nur erschweren würde … Genervt rollte er mit den Augen.
Ja, da war es wieder. Sein Vater hatte es genau gesehen, aber sein Sohn würde da jetzt durch müssen. Es war an der Zeit, dass er aufhörte seine Zeit meist allein zu verbringen und endlich seine Schüchternheit abzulegen. Sky war dafür ein optimaler Gesprächspartner. Sie war unvoreingenommen und wissbegierig. Sein Wissen würde sie keinesfalls langweilen, sondern beeindrucken und Sam sollte erkennen können, dass er gar nicht so uninteressant war, wie er von sich zu denken pflegte.
Als die Tür des Testraums aufglitt und sein Vater in der Zentrale verschwand, stand Sam etwas hilflos da. Er wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Unsicher bohrte er mit seinem rechten Fuß imaginäre Löcher in den Boden.
„Wie alt bist du?“, fragte Sky unerwartet.
Sam sah zu ihr auf. „Siebzehn.“
Sie lächelte wieder. „Das ist noch sehr jung für einen Menschen, oder?“
„Ja. Im Durchschnitt werden wir über einhundert Jahre alt.“
Sie nahm die Informationen auf, die er ihr gab. Er merkte es bis dahin noch nicht einmal, aber er schulte sie. Sam fütterte häppchenweise das Wissen weiter an, das voreingestellt in ihr verankert war.
„Du sagtest ,Wie der Himmel über der Erde‘. Doch ich finde nichts dergleichen in meinen Erinnerungen.“
Sam war sich zuerst unsicher, ob er ihr tatsächlich etwas vom blauen Planeten erzählen sollte. Bislang hatte das ja kaum einen interessiert und wenn sie eine so hochentwickelte K.I. hatte, war es ja durchaus möglich, dass er sie mit diesem Thema langweilen könnte. „Willst du wirklich etwas darüber erfahren?“
„Natürlich“, antwortete sie und setzte sich auf den Rand der Versorgungskapsel. „Wenn du magst, kannst du dich auch gern setzen.“ Freundlich bot sie ihm den Platz neben sich an.
Vorsichtig nahm Sam Platz, er bedankte sich nicht einmal, so aufgeregt war er. Er saß neben dem ersten Cyborg seines Lebens, der ihm irgendwie so gar nicht technisch vorkam. Sie schien furchtbar realistisch, mal abgesehen von den kleinen Öffnungen unter ihren Augen, durch die das Licht schimmerte. Von Weitem sah es auch eher aus wie Schminke. Daher wirkte selbst das nicht abschreckend unmenschlich. Sein Blick wanderte zur Tür. Er stellte sich die Erde bildlich vor. Oft hatte er Bilder von ihr aus allen Perspektiven betrachtet. In seiner Vorstellung wählte er die Sichtweise der ersten Menschen, die die Welt von einem anderen Planeten bewundern konnten. Die Aussicht vom Mond.
„Die Erde ist unsere eigentliche Heimat. Sie liegt viele Lichtjahre entfernt von hier. Man nennt sie den blauen Planeten, weil sie zu über 70 Prozent mit Wasser bedeckt ist. Es gibt dort Ozeane, die von einem bis zum anderen Horizont reichen.“ Er fuhr sich unterdessen gedankenverloren durchs Haar. „Aber nicht nur das Wasser dort ist blau. Die Atmosphäre der Erde ist ganz anders als die hier auf Hope. Wenn das Licht ihrer Sonne sich in der Atmosphäre bricht, erstrahlt der Himmel in einem zarten bis satten Blau. Deine Augenfarbe erinnert mich irgendwie an diese Besonderheit der Erde. Außerhalb unserer Schutzkuppel würden wir hier ohne ein Beatmungsgerät gar nicht überleben. Der Himmel über Hope ist gelblich und wirkt ziemlich trocken. Wenn ich jedoch den Himmel der Erde auf den Bildern der Archive sehe, dann fühlt es sich an, als betrachte ich schwebendes Wasser. Es ist ein viel erfrischenderer Anblick.“
Sam hielt inne. Er hatte tief im Inneren stets das bohrende Gefühl, nicht zu Hause zu sein. Es war bedrückend. Wenn es Tage gab, an denen er aus irgendwelchen Gründen traurig war und sich nicht wohl fühlte, gab es stets nur einen Gedanken in seinem Kopf: Ich will nach Hause. Doch je mehr er mit den Jahren seines Alterns begriffen hatte, wonach er sich so sehr sehnte, desto mehr erkannte er darin eine fast unmögliche Aufgabe. Die Kosten für eine Expedition zur Erde würden das Vermögen seines Vaters sprengen und so hing es an ihm, den Forschungsrat und die Regierung eines Tages von der Wichtigkeit dieser Reise zu überzeugen. Nur mit ihrer Hilfe würde er seinen Traum verwirklichen können.
„Warum sind wir dann hier und so weit von eurer Heimat entfernt?“ Sky schien ehrliches Interesse an seinen Erklärungen zu haben.
Sam merkte schnell, dass sie scheinbar wirklich mehr darüber wissen wollte. „Weil die Menschen den Planeten mit nuklearen Sprengsätzen krank gemacht haben.“
Seine Antwort war die Wahrheit, doch sie klang bitter in den Ohren des R2. Sie wusste, was nukleare Waffen waren. Die Forscher hatten in ihrem System etliche Begriffe abgelegt, damit sie von Beginn an im Stande war, reibungslos zu kommunizieren. Sky konnte sich die Erde dank Sam gut vorstellen. Er sprach so fasziniert von ihr, dass sie sich mitreißen ließ. Sie stellte sich diesen Planeten mit seiner Fülle an Wasser vor und dachte an seinen strahlend blauen Himmel. Sam hatte ihr einen wirklich bezaubernden Namen gegeben. Wie konnte man einem so wunderschönen Ort nur schaden? Sie verstand nicht, wie man einen Planeten auslöschen konnte, den man scheinbar liebte. „Wieso zerstört man seine eigene Heimat?“
Sam sah tief in ihre blauen Augen. „Ich glaube, dass die Menschen von damals nicht die Fähigkeiten besaßen, weit genug in die Zukunft zu denken. Sie hatten Vorstellungen davon, malten sich in Geschichten aus, wie sie in hunderten von Jahren sein würden und manchmal gab es darunter auch den Gedanken, dass sie selbst ihr Ende herbeiführen würden. Doch scheinbar waren sie nicht in der Lage ihre Lebenseinstellung zu ändern und durchdachter mit ihren Ressourcen umzugehen. Also wurde das Überleben irgendwann schwierig. Wenn ein Land stärker als das andere war, nahm es sich in einem Krieg, was es wollte. Und so kam es schon bald zu einem der schlimmsten Kriege der Menschheit. Einige starke Länder verbündeten sich, doch auch jene, von denen sie bis dahin dachten, dass diese schwach seien, fuhren plötzlich starke Geschütze auf. Es wurden erste Atombomben gezündet. Jene, die angegriffen wurden, zündeten ebenfalls welche, als sie erkannten, dass sie dem Untergang geweiht waren. Und so bombten sie sich in den Tod und vergifteten ihre eigene Heimat. Es gab einige wenige Rettungskapseln, die die sogenannten Auserwählten ins All retteten. Den Planeten Hope hatten sie schon einige Jahre zuvor als möglichen Zufluchtsort entdeckt. Die Lage der Erde wurde schon viele Jahre vor diesem Krieg als kritisch betrachtet und deshalb hatten sie sich zum Glück vorbereitet, sonst wären wir jetzt nicht hier, Sky. Es würde hier keinen von uns geben.“
Sie wirkte nachdenklich, als sie die Informationen verarbeitete. Ihr Kopf senkte sich und auch Sam wusste plötzlich nicht mehr, was er noch sagen sollte. Jetzt, da er diese Geschichte jemandem erzählte, der noch nie davon gehört hatte, kam er sich selbst schrecklich vor. Als wäre der Mensch ein Ungeheuer, das einen Planeten zerstört hatte, um sich nun eines anderen zu bedienen. Und so war es ja irgendwie auch. Doch er wusste, dass die Techniker wesentlich bedachter mit den Rohstoffen dieses Planeten umgingen und dass sie ihre Fortschritte nicht nur für den Kampf einsetzten. Sie erarbeiteten auch immer neue Möglichkeiten, um Hopes Ressourcen schonen zu können und selbst Materialien zu entwickeln, die wachsen konnten und die für Nachhaltigkeit sorgten.
Seine Mutter arbeitete für eine solche Forschungseinheit. Sie war nun schon über ein Jahr auf der Suche nach neuen Energiequellen, deren Kopierung wissenschaftlich möglich war und er hoffte, dass sie einen solchen Weg finden würde, damit die Magier sie endlich in Ruhe lassen würden. Diese fürchteten nämlich die Ausbeutung und Zerstörung eines weiteren Planeten. Sie hatten zuerst nur gedroht, als sich ihre und die Wege der Menschen trafen, doch aus der Drohung wurde Ernst, als sie nicht aufhörten zu forschen, zu bauen, zu lernen. Einige Verfechter des einfachen Lebens stellten sich auf die Seite der Magier und gaben jegliche technische Errungenschaft auf. Auf Hope nannte man sie seither die Jäger, weil sie wie zu Urzeiten auf die Jagd gingen, Früchte sammelten und Gemüse ernteten. Hope hielt eine Vielzahl an Nahrungsmitteln bereit, doch in Cyron und den anderen großen Städten gab es längst nur noch eine Form der Lebensmittelaufnahme: Energiegetränke, die mit verschiedenen Zutaten gemischt wurden, um ihren Geschmack zu verändern. Das war schon alles, was man als sogenanntes Kochen bezeichnen konnte. Doch es war nachhaltig, weil nur wenige Zutaten vom Planeten selbst stammten. Der Rest wurde rein künstlich erzeugt, dafür wurde nur wenig Wasser verwendet und das Ergebnis schmeckte ausreichend gut. Die Techniker waren also ganz anderer Meinung. Verbreiteten sich die Jäger durch vielfache Fortpflanzung, würden sie diesem Planeten weit mehr schaden, als ihnen selbst vorgeworfen wurde. Doch während Sam sich dessen bewusst war, so war es für Sky noch ein langer Weg, das alles zu begreifen.
Er spürte plötzlich, dass ihr Blick auf ihm ruhte und sah sie an. „Was ist denn?“, fragte er.
„Du musst mir unbedingt einmal die Erde zeigen.“ Es war ein Satz, der ihm das Herz erwärmte und er lächelte.
„Das machen wir. Gleich nachdem du hier raus kannst. Versprochen.“