Читать книгу Paganini - Der Teufelsgeiger - Christina Geiselhart - Страница 16

Оглавление

9

Antonio war froh, in Parma zu sein und weder dem Dottore noch Giorgio zu begegnen. Die in seinen Augen Verblendeten hatten sich einer von Buonarotti ins Leben gerufenen Organisation verschrieben, die mittlerweile einen Namen trug, aber noch stets aus einem Haufen orientierungsloser, begeisterter junger Männer bestand, dem die Konsequenzen seiner Rebellion nicht bewusst war. Sie nannten sich Jakobiner, sangen „La Carmagnola“ und trugen die phrygische Mütze. Weder Geldstrafen noch die Drohung, dafür im Gefängnis zu landen, hielten sie zurück. Antonio wollte davon nichts wissen. Er wünschte Ruhe und Sicherheit, um mit Niccolò ungestört Konzertreisen machen zu können. Die Zeiten waren gefährlich, überall brodelte es. Gleichzeitig schien das Land fest im Griff der herrschenden Dynastien und der Kirche zu sein. Aus diesem Grund bangte Antonio auch um Freund Giorgio, der mittlerweile geheiratet und eine Tochter bekommen hatte. Italiens Herrscher waren gewarnt und beugten der Machtergreifung rebellischer Elemente mit schauerlichen Maßnahmen vor. In Neapel wurde ein junger Mann vom Klerus zu einem grässlichen Tod verurteilt, weil er in einer Kirche „Vive Paris, vive la liberté“ geschrien hatte. Sein eigenes Pferd musste ihn so lange durch die Straßen schleifen, bis ihm die Haut in Fetzen hing. Dann schnitt man ihm die Zunge heraus, die Hände ab und knüpfte ihn auf. Sein gesamtes Eigentum ging an die Kirche.

„Diese Verrückten hoffen auf Napoleon als den Retter Italiens!“, zischte Antonio vor sich hin. „Unter seiner starken Hand solle das Land zusammenfinden, würden die Bewohner leichter untereinander handeln, gewinnträchtig verkaufen, sich zu einem gesunden Ganzen entwickeln.“ Er spuckte verächtlich aus. Blutige Aufstände ohne klares Ziel waren an der Tagesordnung. Die einen nahmen Kirche und Christen ins Visier, andere die Juden und Bürger, wieder andere die Reformisten und manche die Franzosen, weil sie diese als neue Fremdherrscher fürchteten.

„Wasser, Klee, Kühe, Musik und Geld sind des Italieners Musen und nicht die Revolution!“, stieß Antonio zornig hervor. Ihm gefiel der Satz. Er sollte einer seiner Prinzipien werden, nur in umgekehrter Reihenfolge.


Januar und Februar des Jahres 1796 vergingen und Antonio konnte sich noch immer nicht entschließen, nach Genua zurückzukehren. Erst sollte Niccolò perfekt sein. Der Junge lernte schnell und nichts interessierte ihn mehr als die Musik. Rund um die Uhr Musik. Spielte er nicht, so komponierte er, und komponierte er nicht, arbeitete er mit Paër oder Ghiretti. Nachts schlief er so tief, dass selbst das heftige Gewitter Mitte Februar ihn nicht aus seinem Träumen reißen konnte. Für Sekunden erhellte sich der Himmel unter tosendem Krachen, strahlte wie ein Diamant und Niccolò schlief. Ja, seine Augen zuckten nicht einmal, als sich der Donner direkt über dem Haus entlud. Das Zimmer flammte in gleißender Helligkeit auf, doch Niccolò lächelte mit geschlossenen Augen. Antonio mochte Naturgewalten nicht. Sie verunsicherten ihn. Beunruhigt warf er sich im Bett von einer Seite auf die andere. Die Nacht trat auf der Stelle, der Morgen wollte nicht kommen, das Unwetter zog sich schwerfällig unter unzufriedenem Grollen zurück.

Der März brachte würzige Luft. Niccolò liebte diese Frische. Nach seinen Übungsstunden spazierte er über den stillen Marktplatz und begrüßte die Vögel vom letzten Jahr.

Der Monat brachte auch die Franzosen nach Italien. Antonio saß am offenen Fenster der Wohnung in Parma, schnupfte Tabak und genoss die grelle Sonne. Indessen der Sohn in einem geschützten Winkel seine täglichen Übungen absolvierte, dachte Antonio über den Einmarsch der Franzosen nach, wobei er hin und wieder laut vor sich hinschimpfte:

„Du, Giorgio, und deine Bande um Buonarotti, ihr werdet nun jubeln. Aber freut euch nicht zu früh! Die Franzosen haben mit ihrem Eroberungszug nichts anderes im Sinne, als ihre Taschen zu füllen. Ein waschechter Genueser riecht so was. An Italiens Einigung liegt ihnen nichts, solange sie von seiner Zerstrittenheit profitieren. Und einem Volk samt dessen Regierungen, die in Zeiten, als Frankreich Descartes, Diderot und Voltaire ausbrütete, in mittelalterlichen Strukturen festklebten, abergläubisch waren und politisch völlig bedeutungslos, traut doch Frankreich keine reifen Schritte zu. Ha, dass ich nicht lache!“, entfuhr es Signor Paganini laut. Niccolò erstarrte in seiner Bewegung und sah verwirrt den Vater an.

„Du hast nichts falsch gemacht, verdammt! Nach allem, was deine schlauen Lehrer behaupten, machst du doch nichts mehr falsch, figlio mio! Ich rede nur so vor mich hin. Spiel und kümmere dich nicht um meine lauten Gedanken!“

Niccolò ließ den Kopf sinken und seufzte. Vaters Worte zu ignorieren, wurde bislang mit Essensentzug oder Backpfeifen bestraft. Erleichtert über die plötzliche Veränderung legte Niccolò die Geige auf den Tisch, schüttelte kräftig seine Arme, spreizte seine Finger und streckte alle seine Glieder, als wolle er mit den Fußspitzen den Boden durchdrücken und andererseits die Zimmerdecke berühren. Sein Vater runzelte die Stirn.

„Lass das sein! Deine Glieder sind schon lang genug. Spiel, habe ich angeordnet!“

Behutsam griff Niccolò wieder zu seinem Instrument. Er nahm es so zärtlich in die Hand wie ein junges Kätzchen. Diesmal tauchte er vollständig in seine Arbeit, sah und hörte vom Vater nichts mehr.

„Freut euch nicht zu früh“, brummte dieser von neuem. „Die Franzosen scheren sich einen Dreck um unsere patriotische Entwicklung. Aber, was zum Teufel, geht mich das alles an?“

Gemütlich streckte er die Beine aus und gab sich den wohltuenden Sonnenstrahlen hin. Die Hintergrundmusik wiegte ihn. Niccolòs Klänge füllten sich mit Wärme und Herz, sein Bogenstrich griff energischer und ließ keinen Widerspruch mehr zu. Ja, brummelte Antonio tief befriedigt, was geht mich das alles an. Und allmählich döste er ein.

Und es ging ihn doch etwas an. Die politische Situation durchkreuzte Antonios Pläne. Napoleons Feldzug oder Geldzug hatte recht Aufsehen erregend begonnen. Das Königreich Sardinien legte widerstandslos die Waffen nieder, Mailand ließ sich mühelos erobern, nur in Lodi musste der Sieg erkämpft werden. Parma empfing ihn sogar freundlich. Manche jubelten ihm zu, blähten sich stolz auf, wenn der Blick des sagenumwitterten Generals zufällig auf ihnen ruhte, andere wiederum spähten keifend hinter vorgezogenen Vorhängen auf den Einmarsch und wünschten ihm den Tod. Machtgierig, geldgierig, vom Ruhm besessen, zischte es im Verborgenen. Er will die Welt, hieß es, er will Gott vom Thron stürzen, er ist vom Teufel, schaut ihn nur an.

Antonio beschloss, wie so manches Mal in seinem Leben, sein Fähnchen nach dem günstigen Wind zu richten. Und der kam von Napoleon. Diese Brise konnte eventuell auch seinem Söhnchen zum Vorteil gereichen. Während Napoleon Modena einnahm, schließlich Mantua bedrohte, das den Handelsweg nach Österreich sichern und das Piemont sowie das Kaiserreich Österreich auseinandertreiben sollte, spielte Niccolò vor den Landesherren in Colorno und Sala. Voller Mitleid erwarteten die blaublütigen Herrschaften in Sala die ersten Töne des schmalen Knaben, der nur zögernd vortrat, an dessen Arm die Geige schwer wie die Glocke der Chiese Santa Maria Maddalena zu hängen schien und dessen langes, durchsichtiges Gesicht von der Glut zweier nachtschwarzer Augen beinahe verzehrt wurde. Er führte seine Variationen zu „La Carmagnola“ vor. Die Zuhörer saßen reglos da und starrten gnädig auf den blassen Dreizehnjährigen, dessen Leben und Kraft mit unvorstellbarer Zielsicherheit in die Geige floss. Dabei fühlte Niccolò in Sala eine große Schwäche, die er in Colorno nicht bekannt hatte. Die Herbstluft draußen war nasskalt, der Saal überheizt. Er hatte schon geschwitzt, als er ankam, doch nun rann der Schweiß in Strömen an ihm herab. Sein Haar klebte, seine Kleidung klebte, seine Beine zitterten vor Mattigkeit, aber in seinen Fingern pochte wild das Leben, in seinem Kopf leuchtete sternenhell die Partitur, in seinem Herzen machte die Musik Freudensprünge. Kaum verwehte der letzte Ton im Saal, schnellte das Publikum von seinen Sitzen hoch, applaudierte, jubelte, stieß Bravorufe aus. Niccolò vernahm die Geräusche, so wie er das Rauschen des Meeres vernahm, wenn er auf den Anhöhen der Bucht von Genua spazieren ging. Er verbeugte sich mehrmals, schwankte und spürte dann ein paar Arme, die ihn stützen.

Er war erkrankt. Der Herbst in Parma bekam seiner schwachen Lunge nicht. Er hustete, atmete röchelnd, hatte blutigen Auswurf. Vater Antonio machte ein sehr besorgtes Gesicht, denn Niccolò sah wirklich elend aus. Was tun? Der Junge sehnte sich nach Genua zurück, eine Reise jedoch würde er in diesem Zustand nicht überstehen. „Trotz der verhassten Franzosen hat sich bis jetzt alles vielversprechend entwickelt“, grummelte Antonio in sich hinein. „Innerhalb eines Jahres hat der Junge gelernt, wofür andere ein achtjähriges Studium benötigen. Seine Konzerte sprechen sich herum, er wird als junges Talent bejubelt, die Kassel klingelt, ein Haus im Polcevera-Tal rückt in unmittelbare Nähe und nun das …!“ Antonio raufte sich nicht lange des Geldes wegen das Haar, sondern zitierte den besten Arzt der Region herbei. Als der Mediziner jedoch auch ein besorgtes Gesicht machte, wurde Antonio wirklich bekümmert.

„Lungenentzündung ist nicht harmlos, Signore, und der Kleine ist ja so zart gebaut wie eine Amsel. Sein Brustkorb misst kaum mehr als der Durchmesser meiner gespreizten Finger!“, konstatierte der Doktor, nachdem er Niccolò sorgfältig untersucht hatte. Unwillkürlich betrachtete Antonio die Hände des Dottore. Sie waren unverhältnismäßig groß.

„Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, ich zahle alles. Er muss wieder auf die Beine kommen.“

„Sollte er auf die Beine kommen, müssen Sie ihm unwiderruflich einen Monat Ruhe gönnen, sonst könnten Sie die Geige bald für horrende Panache verkaufen.“

„Ich bitte Sie um etwas mehr Pietät, Dottore! Sie sind doch Katholik. Mein Sohn ist nicht nur ein Genie, er ist auch ein Stehaufmännchen. Schon zweimal hat er dem Tod die Tür gewiesen.“

„Sehr schön! Das zeugt von starkem Lebenswillen. Hier schreibe ich Ihnen auf, was der Pharmazeut mischen soll.“ Er kritzelte ein paar unleserliche Worte auf seinen Notizblock und reichte Antonio den Zettel. „Fiebersenkende und schleimlösende Mittel und einen hustenstillenden Sirup. Sie, Signore, sorgen dafür, dass er im Bett bleibt, die Geige nicht anrührt und sehr, sehr viel trinkt. Natürlich, bei Santa Maria, kein Brunnenwasser. Übersteht er die nächsten vier Tage und ist am fünften wohlauf, darf er zurück nach Genua. Und …“,

er hob drohend den wurstigen Zeigefinger seiner riesigen Hand, „drei bis vier Wochen Ruhe, gutes Essen, Spaziergänge in der Bucht von Genua, falls es Buonaparte erlaubt.“


Buonaparte, klein geratener Sohn verarmter Adeliger, geboren in bescheidenen Verhältnissen eines rückständigen Korsikas, das unter der Rivalität und endlosen Vendetta der Clans verfaulte, sprach den korsischen Dialekt und strebte nach Höherem. Als Zehnjähriger trat er in die Militärschule ein, verließ sie mit fünfzehn als Leutnant, avancierte zum Oberfeldwebel und erhielt den Auftrag, Toulon aus englischer Hand zu reißen. Die Stadt fiel und Buonaparte, inzwischen vierundzwanzig, wurde zum General ernannt. Anschließend trieb er sich wie alle Generäle in Paris herum, entkam der Säuberungsaktion des Terrorregimes und warf den Royalistenaufstand gegen das Direktorium nieder. Zur Belohnung unterstellte man ihm die italienische Armee. Gleich anfangs ließ er sich die standhaftesten Verfechter der italienischen Befreiungsidee vorführen, unter anderen einen gewissen Buonarotti, den er aus dem Gefängnis holte und zum Chef der italienischen Patrioten auserkor. Noch im selben Jahr änderte Oberbefehlshaber Buonaparte seinen Namen in Bonaparte und heiratete Josephine de Beauharnais.

Vor dieser Josephine, die nun Bonaparte hieß, spielte Niccolò am 27. November 1797. Er fühlte sich besser, wenn auch wohl nicht ganz gesund, denn seine Beine zitterten immer noch ein wenig und der Husten quälte ihn nur dann und wann. Die Genueser Luft jedoch vollbrachte Wunder. Und vor allem Mama. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass er sich nicht verausgabte, viele Kräutertees trank, seine Medikamente einnahm, solange sie nötig waren, und nur bei Sonnenschein spazieren ging. Ja, sie sorgte sogar für saubere Bettwäsche, was Niccolò sehr schätzte. Bis jetzt hatte die saubere Wäsche nie sauber gerochen, da sie Teresa im öffentlichen Waschbecken, vielleicht auch in irgendeinem Fluss oder Rinnsal schrubbte und am Fenster des Hauses der stinkenden Passo di Gatta trocknete. Bald jedoch, ja bald würde sie köstlich riechen, denn der Vater beabsichtigte, ein Haus im Polcevera-Tal zu kaufen.

Paganini - Der Teufelsgeiger

Подняться наверх