Читать книгу Paganini - Der Teufelsgeiger - Christina Geiselhart - Страница 9

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Der Vorsitzende erweckte Antonios Vertrauen. Seine Ideen begeisterten, seine Sprache war besonnen und seine Denkweise eher traditionsgebunden als revolutionär. Er sprach von ganz konkreten Problemen. Ständig steigenden Brückengeldern, Zöllen, Privilegien der Clans, von der Vielfalt der Währungen. Solange wir alles widerstandslos hinnehmen, kann nichts anders werden, sagte er und griff weit zurück in Italiens Geschichte. Antonio, der trotz bescheidener Herkunft ein wenig Bildung besaß, hatte den Eindruck, zum ersten Mal tiefgreifende Dinge über sein Land zu erfahren, über seine Menschen, über seine Leiden.

„In den kleinen Dingen offenbart sich das Unheil des ganzen Landes. Um sie müssen wir uns kümmern, die kleinen Wunden müssen wir heilen, um ein gesundes Ganzes zu schaffen. Nicht zupflastern, nicht übertünchen. Nein! Den Bazillus ausmerzen und etwas Neues gestalten. Unser Konzept ist ein unabhängiges, von fremder Herrschaft befreites Italien, wir streben eine politische und wirtschaftliche Einheit aller fortschrittlichen Staaten unserer Halbinsel an. Dieses Ziel soll uns leiten und in den kleinen Dingen unser Richtmaß sein. Schritt für Schritt voran und keinen einzigen Schritt zurück. Es ist an uns, die wir gebildet sind, dieses Ziel, diese Botschaft, unters Volk zu tragen, das kaum lesen und nicht schreiben kann.“ Ernst blickte der Redner in die Gesichter der Zuhörer. Der stattliche Mann mit der hohen Stirn, den strengen Augen und dem energischen Mund sprach aus, was Antonio dachte. Dieser Mann hatte eine sorgsame, friedvolle Veränderung im Auge. So jedenfalls fasste Antonio seine Sätze auf und voller Bewunderung blickte er hinauf zu dem stattlichen Herrn, dessen dichtes schwarzes Haar den Denkerschädel noch ganz bedeckte. Zwar war sein Kopf quadratisch und saß auf einem kurzen Hals, der durch die modische Halsbinde noch kürzer wirkte, aber daran störte sich Antonio nicht. Es gab wenige harmonisch aussehende Menschen. Sehr wenige. Man konnte sie an fünf Fingern abzählen.


„Niccolò lebt!“, brüllte er am frühen Morgen des nächsten Tages seinem Freund entgegen. Hier am Hafen entfaltete die Sonne ihre ganze Kraft und durchströmte die kalten Monate mit ihrer Wärme. Sie spiegelte sich im ­glitzernden Meer, in den feuchten Dohlen der Landungsstege, im schmutzi­gen Weiß der niedrigen Gebäude. Antonio sprang über ein Fass und landete direkt vor Giorgios Nase. Beinahe hätte er ihn umgeworfen. Er war bester Laune, was man von Giorgio hingegen nicht behaupten konnte.

„Che merda!“, entfuhr es ihm gegen seinen Willen.

„Was soll das heißen? Wolltest du etwa Niccolòs Tod? Ich dachte immer, du magst ihn, du falscher Hund.“ Zornig funkelten seine dunklen Augen.

„Es tut mir leid, Antonio. Natürlich mag ich ihn und er mag die Musik wie ich. Und niemals will oder wollte ich seinen Tod. Ich hab nur so reagiert, weil ich dem Kerl die Kistenverschiffung schon zugesagt habe, denn ich dachte, du brauchst Geld für die Beerdigung.“

Antonio stürzte sich auf Giorgio, packte die öligen Zipfel seines Hemdkragens, schrie:

„Du miese Ratte! Du geldgieriger Genueser! In Wahrheit wäre dir Niccolòs Tod sehr gelegen gekommen. Aber ich sag dir: So oder so gebe ich mich für keine krummen Sachen her.“

„Sie ist sicherlich nicht krummer als dein geheimer Musikhandel. Was du aus Cremona mitbringst und hier nachts zollfrei verschiffst, ist kein Käse, mein Alter! Ich weiß, was für herrliche Instrumente übers Wasser gehen und welche Summen in deinen Geldbeutel. Warum solltest du Buonarotti und Italien nicht auch mal einen Gefallen tun?“

„Buonarotti?“ Jählings ließ Antonio den Kameraden los und riss erstaunt die Augen auf.

„Kennst du ihn etwa?“

„Irgendwie schon. Ich hab ihn auf der Versammlung gesehen.“

„Was für eine Versammlung?“

Und Antonio erzählte seinem Freund von Buonarotti. Aber es irritierte ihn, den korrekten Mann mit verbotenen Geschäften in Verbindung zu bringen.

„Ascolta, amico! Manch hehres Ziel erreicht man nur auf Schleichwegen.“

„Und die Schleichwege sind oft mit Leichen gepflastert. Solche Schweinereien kommen im Musikhandel nicht vor, ob geheim oder offiziell.“ Jetzt grinste Antonio, was seinem von Natur aus finsteren Gesicht etwas Fratzenhaftes gab. Freundliche Regungen waren ihm fremd. Die beiden Männer wurden sich einig und in der kommenden Nacht beluden Antonio, Giorgio sowie ein taubstummer Hafenarbeiter einen Dampfer nach Neapel. Der Taubstumme erhielt ein paar Scudi Zuschuss, damit er die Kisten begleitete und am Bestimmungshafen an den Verbindungsmann weiterleitete.

Auf dem Nachhauseweg grübelte Antonio darüber, was wohl in den Kisten sein mochte. Seine Ohren dröhnten noch von Giorgios Gefasel, man müsse furchtlose Anhänger für die gute Sache finden, sonst verlaufe sie im Sande. Überall gab es unzufriedene Bauern, auf denen eine hohe Fron lastete, Handwerker und Tagelöhner, die am Hungertuch nagten, Bettler und Diebe, denen die grausamsten Strafen drohten, vor allem in Neapel und Palermo, aber auch in den Kirchenstaaten. Sie müsse man gewinnen und kampffähig machen. Vermutlich verbargen die Kisten den Schlüssel zum Erfolg. Antonio vermutete Waffen und Pamphlete. In ihm regte sich das schlechte Gewissen, etwas Ungesetzliches getan zu haben, darum versuchte er, zu vergessen und wollte auch nicht mehr wissen, was in den Kisten war.

In der heimischen Gasse angekommen, atmete er tief durch, bevor er ins stinkende Treppenhaus trat, übersah die drei fetten Ratten am Eingang und nahm dann zwei Stufen auf einmal. Leise drehte er den Türknopf der Wohnungstür. Teresa schlief noch und vom Matratzenlager, auf dem sich alle Kinder drängten, nahm er gleichmäßige Atemzüge wahr. Der enge Raum war von seiner Schlafkammer nur durch einen zipfeligen Vorhang getrennt. Er schob ihn zur Seite und suchte mit den Augen Niccolò. Der Junge schlief an der Wandseite, die beiden Schwestern in der Mitte, flankiert von Bruder Carlo. Niccolòs Gesicht war zum Fenster gerichtet und so konnte Antonio ihn nicht betrachten, er hätte sonst über die Kinder steigen müssen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es dem Jungen wieder besser ging.

Paganini - Der Teufelsgeiger

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