Читать книгу Paganini - Der Teufelsgeiger - Christina Geiselhart - Страница 21
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Als Niccolò im September 1801 wieder zu Konzerten aufbrach, begleitete ihn Carlo und nicht der Vater. Die beiden Brüder trafen gegen Abend in Lucca ein. Bevor es ganz dunkel wurde, stiegen sie in einer Herberge ab. Carlo mit verzerrtem Gesicht und von Rückenschmerzen geplagt, Niccolò kerzengerade und in berstend guter Laune. Er schien aus Eisen zu sein, das hatte Carlo schon auf der Fahrt über die holprigen Landstraßen bemerkt. An manchen Stellen wurden sie fürchterlich durcheinandergeschüttelt und drohte der Wagen fast umzukippen. Obwohl sich Carlo am Knauf der Wagentür festgehalten hatte, war sein Kopf gegen die Schläfe des Nachbarn gestoßen, der den engen Raum mit dem Gestank seiner Zigarre verpestete. Niccolò hingegen störte sich an nichts und niemand. Scheinbar fasziniert hatte er aus dem Wagenfenster geschaut und seinem Bruder den Eindruck vermittelt, er betrachte die Landschaft. Als sich aber der Zigarrendunst seines Nachbarn etwas verzogen hatte, sah Carlo, dass Niccolò mit geschlossenen Augen und völlig in sich versunken dasaß.
Das Konzert sollte am 14. September in der Kathedrale von Santa Croce stattfinden. Niccolò und Carlo hatten also noch einige Tage Zeit, sich in der Herberge einzurichten. Allerdings wartete auf den jungen Violinisten eine Prüfung, der alle unterzogen wurden, die an dem heiligen Ort musizieren wollten. Da sich Niccolò allen überlegen fühlte, übte er nicht eine Minute. „Was verstehen die Prüfer vom berühmten und großen Hochamt von Santa Croce schon von Musik?“, sagte er sich. „Von meiner Musik und meinem unerreichbaren Spiel verstehen sie absolut nichts! Ich werde sie mit zwei Bogenstrichen mundtot machen.“
Er hatte freilich nicht damit gerechnet, wegen seines langen und straff gespannten Bogens und seiner eigenwilligen Haltung, mit der die Geige ansetzte, verlacht zu werden. Als er einen kichernden Prüfer fragte, warum er von der alten italienischen Geigenschule in der Tradition von Tartini nichts hielte, da er doch als Mitglied des verehrungswürdigen Hochamts bestimmt ein Anhänger der verehrungswürdigen Tradition im Allgemeinen sei, erntete er vom Prüfer einen vernichtenden Blick. Angesichts dieses Blickes senkte Niccolò die Geige, so tief er konnte, setzte seinen straff gespannten Bogen an und spielte die Variationen über „La Carmagnola“.
Was er sich ursprünglich vorgenommen hatte – Jury und andere Musiker mundtot zu machen –, erreichte er dank dieser Variationen. In alternierenden Läufen auf der E-Saite und auf der vierten Saite stellte er zwei Klangfarben gegenüber und gebrauchte häufig Doppelgriffe, was manchen Prüfer glauben ließ, es spielten zwei Geigen. Die folgenden vierzehn Variationen brachten ihm gigantischen Beifall und nahmen den anderen Kandidaten den Wind aus den Segeln. Keiner von ihnen hatte noch den Mut, sich nach Paganini hören zu lassen.
„Warum hast du ‚La Carmagnola‘ gewählt?“ Carlos Augenbrauen zuckten. „In Genua mag das angehen, weil wir die Ideale der französischen Revolution zu unseren eigenen gemacht haben. Aber hier in Lucca …?“
„Auch in Lucca gibt es Jakobiner, Carlo mio! Ganz blöde sind die hier nicht. Denk an Napoleons Worte: Es gab gute Jakobiner, und es gab eine Zeit, in der jeder intelligente Mann zwangsläufig Jakobiner war.“
„Und du, Niccolò, bist auch einer?“
Niccolò zuckte mit den Achseln. Im selben Moment schon hörte er nicht mehr zu. Er dachte an das Fest in der Kathedrale und lächelte in sich hinein. Das diebische Verlangen erregte ihn, den hochverehrungswürdigen Gottesdienern eine Lektion zu erteilen.
Mit dem Festzug erschien auch die Regierung, die Kathedrale füllte sich, in den Seitengängen des Kirchenschiffes drängelten sich die Menschen und Niccolò lächelte in sich hinein. Er war ganz ruhig. Zaghaft und verunsichert wie zu Anfang trat er nicht mehr auf. Die vielen Beifallsstürme der vorangegangenen Auftritte echoten seit fast zehn Jahren in seinem Kopf und sobald er die Bühne betrat, gehörte ihm die Welt. Gleich nach dem Kyrie Eleison fing er an zu spielen. Das Konzert dauerte achtundzwanzig Minuten. In den letzten Minuten ahmte er auf seiner Geige Vögel, Flöten und Trompeten nach und gewann damit jene, die von Musik nicht viel verstanden, aber von seiner Geschicklichkeit verblüfft waren. Der letzte Ton verklang und noch ehe er die Geige von seinem Kinn löste, brach der Applaus wie eine Welle über ihn herein.
Am folgenden Tag überbrachte ihm Carlo den Bericht eines Abtes.
„Hör, Niccolò, wie du die Leute vom Hochamt verärgert hast!“, und er las vor: Dieser Genueser Jakobiner mag wohl Geschicklichkeit im Umgang mit der Geige zeigen, aber er beweist weder Vernunft noch Ernst in Dingen der Musik … sein Konzert endete als Opera buffa, die alle zum Lachen brachte. Die Nachahmung von Vögeln und anderen Instrumenten mit der Geige zeugt von seiner Kunstfertigkeit … aber ist nichts weiter als eine Jugendtorheit, die nur in einer Musikschule vorgeführt werden sollte … und auf keinen Fall an einem geheiligten …
„Carlo mio, verschone mich mit dem Geschwätz des Geistlichen. Der soll in der Kirche predigen. Hast du nicht die Freude in der Kathedrale bemerkt? Ist dir nicht aufgefallen, wie ich alle gewonnen hab, alle, ohne Ausnahme?“
„Stimmt, ohne Ausnahme, auch die Jakobiner Luccas. Sie waren völlig hingerissen. Du bist ganz anders als alle. Du spielst einerseits flink und geschickt wie der Teufel, andererseits klingen manche Melodien wie von Engeln gespielt.“
„Red nicht immer vom Teufel, wenn du mich spielen hörst. Vater macht das auch und hebt dabei seine Augenbraue. Ich mag das nicht. Wer sagt uns denn, ob der Teufel überhaupt spielen kann.“
Carlo nickte. „Du hast wie immer Recht, fratellino! Wer, zum Teufel, weiß das schon, ha, ha, ha! Und was wirst du heute noch treiben?“
„Treiben? Gerne würde ich mich etwas in der Stadt herumtreiben, aber dafür haben wir keine Zeit. Wir sind bei ungefähr sechzig angesehenen Leuten eingeladen und überall gibt es köstliches Essen.“
„Vergiss nicht meinen Hochzeitstermin! In ein paar Tagen geht es heim nach Genua.“
„Dio mio, bei deiner eigenen Hochzeit solltest du wahrhaftig nicht fehlen!“ Niccolò schüttete sich aus vor Lachen. „Stell dir vor, statt deiner kommt ein anderer, der dir ähnlich sieht, und Anna merkt es erst nach der Hochzeitsnacht. Zuzutrauen ist es ihr. Oder vielleicht merkt sie es erst, wenn sie den Trauschein anschaut und den Namen Paganini nicht findet. Aber nein … ha, ha, ha …“ Niccolòs langes Gesicht wurde durch das Lachen etwas breiter, „sie kann ja nicht lesen.“
Carlo, den diese Späße ärgerten, zwang sich zu einem Grinsen. Trocken entgegnete er:
„Ich werde dich zu einigen Einladungen begleiten und sie nützen, um eine Stelle im Orchester von Lucca zu bekommen. Danach reise ich ab, so viel steht fest.“
„Ich reise mit, caro Carlo! Denn nichts ist mir lieber, als bei deiner Hochzeit dabei zu sein. Außerdem ertrage ich diese Schwätzer nicht allzu lange. Sie versuchen, mir mit ihren himmelschreienden Musikkenntnissen zu schmeicheln und langweilen mich dabei zu Tode.“
Am letzten Abend vor der Reise aßen sie bei den Quilici. Die Familie wohnte in einem staatlichen Gebäude neben der Kirche San Frediano. Signore Quilici war ein diskreter Herr, der den jungen Paganini nicht mit Lobeshymnen quälte. Er verhielt sich ihm gegenüber respektvoll und anerkennend, wohingegen seine Frau in einem fort schnatterte: „Woher haben Sie nur diese Fingerfertigkeit, Signor Paganini? Wie kommt es, dass Sie wie ein ganzes Orchester spielen? Da hört man Flöten und Hörner mit der Geige dialogieren … und wie Sie den Bogen durch die Luft schwingen …
meine Güte, atemberaubend.“ Signor Quilici lächelte verlegen. Niccolò verdrehte die Augen und versuchte, sich auf das Essen zu konzentrieren. Als Hauptgang wurde eine Art Ölkuchen gereicht, bestehend aus mehreren feinen Blätterteigschichten, unter denen sich eine würzige Artischockenfüllung verbarg. Dazu trank man einen Vino bianco. Normalerweise konzentrierte sich der Virtuose nicht auf das, was er sich herzhaft schmecken ließ. Er genoss und hätte niemandem sagen können, was er vertilgte. Ebenso erging es ihm mit dem Wein. Ob er weiß oder rot war, bemerkte er kaum. Die Hauptsache, es mundete. Auch an diesem Abend fiel es ihm schwer, auf den Geschmack des Weißweines zu achten oder die Artischockenfüllung so geräuschvoll zu kauen, um seinen Ohren das Geschnatter der Hauswirtin zu ersparen. Gott sei Dank nahte von anderer Seite Rettung. Bevor das Dessert aufgetischt wurde, ging die Tür auf und Eleonora erschien. Sie mochte vielleicht zehn oder elf Jahre sein, aber in ihr glühte ein zartes Feuer, in dem das Versprechen loderte. Niccolò hob den Kopf und senkte ihn vorläufig nicht mehr.
Am 26. September heirateten Carlo und Anna in der Chiesa San Tommaso. Zwei Monate wohnten sie gemeinsam in Antonios Haus im Polcevera-Tal, während Niccolò komponierte und seine Konzerte vorbereitete, die für November und Dezember in Lucca geplant waren. Er brannte darauf, Eleonora wiederzusehen. In seinen Gedanken war er stets bei ihr, ja, es war fast unmöglich, zu komponieren, ohne an sie zu denken. Eleonora war jung, viel zu jung, und Niccolò wusste nicht, wie er sich ihr hätte anders nähern können als über eine Komposition. Aber die Melodien wollten im Polcevera-Tal nicht so recht kommen. Die Umgebung war bereichernd, der Oktober launisch. An manchen Tagen vergoldete er die Landschaft, dann umhüllte er sie wieder mit einem abscheulich grauen Mantel. Normalerweise ließ sich Niccolò davon nicht beeinflussen. Seine Melodien waren nicht wetterabhängig. Ob es regnete, die Sonne schien oder ein heftiger Wind blies, die Melodien kamen immer. Sie fingen an zu schwingen, zu tanzen, zu toben, schließlich hörte er sie heftig, wie Regentropfen am Fenster, ganz deutlich jeden einzelnen Ton, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Das war der Moment, in dem er sie festhalten musste und sie aufs Blatt fesselte. Manche Melodie fesselte er allein im Kopf. Das war sicherer, denn so konnte sie ihm keiner nehmen. Augenblicklich schlugen die Töne in seinem Kopf gegeneinander. Er hörte Dissonanzen. Aber was schlimmer war, sie echoten nicht in seinem Herzen, also taugten sie nichts. Was störte Niccolò? Es war das Haus. Der Vater. Die plappernden, geräuschvollen Schwestern Paola und Niccoletta und natürlich Carlo mit Ehefrau. Entweder er suchte sich eine andere Bleibe oder er ging auf Reisen.
Vorerst wählte er das zweite. Wieder wollte Carlo ihn begleiten. Er versprach Anna, eine Stelle beim Orchester von Lucca zu erbitten. Sollte es mit der Anstellung klappen, würde er eine geeignete Wohnung für beide suchen.