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Stolz von Preußen

Wie aufgeregt war ich, als ich die Einladung nach Übersee in der Hand hielt. Vorangegangen war ein umfangreicher Schriftwechsel zwischen meinem Vater und Onkel Carl, der mit seiner Ehefrau und seinen drei kleinen Kindern sein Glück in der Ferne versuchen wollte.

Nun wurde ein zuverlässige Gouvernante gesucht, und ich bat Mutter und Vater voller Sehnsucht, mir die weite Reise zu erlauben, hatte ich doch vor kurzem mein Lehrerinnenseminar bestanden, nachdem ich die Höhere Töchterschule mit besten Zensuren abgeschlossen hatte. Nachdem mein Bruder Paul nach Deutsch-Samoa eingeladen worden war, denn ein tüchtiger Verwalter, dem man Vertrauen entgegen brachte, war dem Onkel willkommen, nagte das Fernweh mit Macht an mir.

Mit Engelszungen redete ich auf die Eltern ein, mich mit ihm zu schicken, am Ende mit Erfolg, obgleich ich merkte, dass es meinen Eltern nicht wirklich recht war. Galt ich doch als der Freigeist in der Familie, wollten sie dies einerseits nicht zusätzlich nähren, merkten aber auf der anderen Seite, dass ich in Chemnitz nicht stillhalten würde, hatten sie mich doch mehrfach ermahnt und auch bestraft, wenn sie beispielsweise Schriften des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in meinem Besitz fanden.

Ich vermutete, es war tatsächlich die Furcht vor zukünftigem Gerede der Nachbarn, die meine Eltern am Ende veranlasste, mich in die Ferne ziehen zu lassen.

Am Tag der Abreise war mir doch bange. Zusammen mit Paul bestieg ich die Eisenbahn nach Hamburg, im Gepäck zwei sperrige Überseekoffer, die nicht nur Garderobe, sondern auch eine Menge meiner geliebten Bücher enthielten, von Fontane bis Verne.

Die Lokomotive erschien mir als ein mächtiges Ungetüm mit gewaltigem Leib. Wie zwergenhaft ich mich fühlte! Und wie viel größer noch das Dampfschiff sein musste, das Paul und mich in einer mehrwöchigen Reise nach Übersee bringen sollte.

Unsere Eltern hatten uns zum Bahnhof geleitet. Der Abschied war tränenreich, zumindest der meiner Mutter und der meinige, waren wir uns doch nicht sicher, wann und ob wir uns wiedersehen würden. Selbst Vater und Paul hatten Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, obgleich sie sich Mühe gaben, stoisch und würdevoll zu bleiben.

Noch heute steht mir das Bild der beiden winkenden Gestalten vor Augen, die immer kleiner wurden, während der Zug den Bahnhof verließ. Mutter, die das gute graue Kleid unter ihrem Mantel trug und ihre zerlesene Lutherbibel an die Brust presste, und Vater mit seinem prächtigen Kaiser-Wilhelm-Bart im schwarzen Sonntagsanzug und seinem steifen Homburger Hut.

Paul war noch nie ein Mensch vieler Worte gewesen, und ich hatte viel Muße, aus dem Fenster zu blicken und die vorbeiziehende Landschaft im zarten Frühlingslicht zu betrachten.

Ich sorgte mich, ob ich wohl seekrank werden würde? Irgendwo hatte ich gelesen, dass es um das Wohlbefinden besser bestellt sei, hielte man sich auf Deck auf. Verbliebe man unter Deck, sollte man mit der Übelkeit mehr zu kämpfen haben.

Und natürlich machte ich mir viele Gedanken über Deutsch-Samoa. Wie kultiviert man dort wohl leben mochte? Ob die Menschen deutsch sprachen oder wenigstens französisch, was ich als wichtige Handelssprache in meinen Studien erlernt hatte? Hoffentlich war es nicht Englisch, denn das beherrschte ich nur in Grundzügen. Ob ich wohl mit dem Klima zurechtkäme? Und ob ich Heimweh haben würde nach meiner Familie?

Der Hamburger Hafen überwältigte mich völlig. Die Luft roch hier völlig anders als zu Hause. Eine steife Brise wehte aus Nordwesten, und ich glaubte, den salzigen Geruch der Nordsee riechen zu können. Überall sah ich Menschen: schwer arbeitende Menschen, geschäftige Menschen, reisende Menschen. Und überall wurde gerufen. Das dröhnende Tuten der Schiffshörner lag über alledem, fast wie die Hülle einer Käseglocke. Lastkräne schwenkten gewaltige Kisten auf das Deck der Schiffe oder hoben Frachtgut an Land. Fässer, Kisten, Ballen und Taue langen scheinbar wüst einher, doch musste das Auf- und Abladen der Lastenfuhrwerke einer Ordnung folgen, die sich mir nicht sofort erschloss.

Vielleicht, dachte ich, ist das wie bei einem Ameisenhaufen. Dem unerfahrenen Betrachter offenbart sich der Sinn nicht, doch hat alles Struktur.

Die „Stolz von Preußen“ überragte uns haushoch. Zwei riesige Schornsteine bildeten den Blickfang. In der Hauptsache war das Schiff als Frachtschiff konzipiert, doch es verfügte auch über einige Kabinen zur Beförderung von Passagieren. Nachdem Paul und ich unsere einfache, aber zu meiner Freude sehr reinliche Kabine bezogen hatten, mussten wir nicht mehr lange warten.

Das Schiffshorn erschallte satt und laut, die Dampfmaschine wummerte tief, und schwerfällig legte das Gefährt ab. Paul und ich standen an Deck und sahen der Küste unseres Heimatlandes nach, die nach und nach in der Ferne verschwand. In mir rang Wehmut mit Abenteuerlust. Es war eine sehr seltsame Mischung.

Außer uns befanden sich noch vier weitere Passagiere an Bord, von denen jedoch niemand bis Deutsch-Samoa wollte. Zwei Handelsreisende aus Hannover planten, nach Kapstadt zu reisen, wo sie auf einen Dampfmaschinenkontrakt hofften. Der junge Arzt aus Berlin wollte sein Glück in Kamerun versuchen. Nur ein Mitreisender, ein älterer, betuchter Herr, hatte im Sinn, ein weiteres Stück mitzureisen. Er hatte von der landschaftlichen Schönheit und dem warmen Klima der Südsee vernommen und gedachte, seine vom Rheuma geplagten Glieder vom der eher kühlen und feuchten Wetterlage des Sauerlandes zu befreien.

All diese Herren sah ich nur anlässlich der Mahlzeiten, und ihre Absichten offenbarten sie in der zu diesem Anlass gehaltenen Konversation.

Mit der Besatzung kam ich sehr wenig in Kontakt, was mir ganz lieb war. Ich fühlte mich als einzige Frau an Bord wie ein wunderliches Tier. Zumindest kam es mir vor, dass man mich so ansähe. Ich dankte der Fügung, dass mein Magen wenig Probleme mit dem Schwanken und Schlingern unseres Schiffes hatte, so dass ich viel in der Kabine bleiben und mich dem Studium meiner Bücher widmen konnte.

Paul verbrachte mehr Zeit an Deck, stand dort mit seinem Feldstecher und blickte auf den endlos erscheinenden Horizont. Er unterhielt sich auch weitaus mehr mit den Mitreisenden, als ich es für mich selbst für schicklich hielt.

Wenn ich mich an Deck hinauswagte, hüllte ich mich in meinen Reiseschal und zurrte meine Hutschnur fest unter das Kinn, so dass der Wind mir meine Kopfbedeckung nicht entreißen konnte.

Auf den Stopps unserer Route zog ich es ebenfalls vor, an Bord zu bleiben, auch wenn ich mir das Treiben in den fremden Häfen neugierig vom Schiff aus ansah. Wie vielfältig diese Menschen alle ausschauten, in jedem Hafen anders, und mir schien es, dass die Gesichter der Menschen immer dunkler wurden. Waren mir die Portugiesen in Lissabon schon sehr braun erschienen, staunte ich umso mehr in Lomé in Togoland und in Kamerunstadt Duala.

Der über dem Hafen von Kapstadt thronende Tafelberg war eine Augenweide. Gern wäre ich dort ein wenig gewandert! Paul hingegen lachte mich aus und murmelte etwas von „Sonnenstich“ und „Tropenkrankheit“. Ich sah ihn an und dachte, dass er mit seinem schütteren, blonden Haar und seinem rosigen Teint wohl in der Tat in der südlichen Sonne auf sich achten musste, aber in Deutsch Samoa wäre es sicher kein bisschen besser.

Wie viel einfacher es Männer haben!, dachte ich und grollte ein wenig.

Wenn Paul etwas tun wollte, machte er es. Er musste nicht vorher um Erlaubnis bitten.

Ich wünschte mir manchmal, frei wie ein Mann zu sein. Ich wünschte mir, Hosen zu tragen und nicht diese lästigen, langen Röcke! Kurzes Haar, so dass Kämmen und Frisieren wegfielen, schien mir sehr verlockend. Ich wünschte mir, Pfeife zu rauchen und ab und an auch einmal fluchen zu dürfen, ohne böse Blicke zu ernten.

Ich versuchte mich zu trösten, dass dieses Abenteuer, das ich nun erlebte, den wenigsten Frauen meiner Klasse zugute kam. Die meisten meiner Freundinnen hatten bereits einen Bräutigam. Josefine und Marie waren bereits verheiratet, und Fanny hatte sogar schon ein kleines Kind zur Welt gebracht.

Während ich immer noch zwischen Groll und sinnlosem Wunschdenken schwankte, legte die „Stolz von Preußen“ aus Kapstadt ab. Nach einem letzten Ladestopp sollte die lange Strecke über den weiten Ozean bis nach Singapur in Angriff genommen werden.

Ich hoffte, dass das Wetter uns hold wäre, denn man sprach von gut 10 Tagen auf offener See.

Leider erhörte keine höhere Macht meine Bitten, denn nach sechs Tagen verdüsterte sich das Licht, und schwere Wolken erfüllten den Himmel. Ich spürte, wie das Schiff tapfer seinen Weg durch das zunehmend unruhige Wasser stampfte.

Von Deck erschollen Rufe, die immer aufgeregter wirkten. Der Schiffsrumpf ächzte bedenklich. Über Stunden saßen Paul und ich in unserer Kabine und kämpften mit aufkommender Übelkeit. Das Getöse wurde stetig ärger, die Rufe, die wir schwach vernahmen, wurden hektischer.

Ob wir überhaupt noch auf Kurs waren?

Lesen konnte ich längst nicht mehr. Dazu schwankte es viel zu sehr. Paul wirkte grünlich im Gesicht. Als es Zeit zum Abendessen war, hatte keiner von uns beiden Hunger.

„Ich werde uns entschuldigen lassen“, sagte Paul.

Er zog seinen schweren Wettermantel an, griff die bauchige Schwimmweste aus dem Kabinenschrank und schaute sie kurz an.

Er schüttelte wie zu sich selbst gewandt den Kopf.

„Die brauche ich wohl doch nicht“, sagte er, lächelte, legte die Weste auf den Waschtisch und verließ die Kabine.

Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Das grüne Symbol

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