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Viviane

Nebel, soweit das Auge reicht, nur Nebel. Ich liege im Bett, wohlig in die warme Decke geschmiegt, bin zu faul zum Aufstehen, blinzle träge aus dem Fenster.

Die alten Holzfenster im Häuschen meiner Oma wirken heimelig. Gemütlich. Hinter dem Fensterkreuz wabert die Außenwelt komplett milchig, weißlich-grau, halb verdeckt von der altmodischen Blümchengardine.

Ich greife nach meinem Mobiltelefon auf dem Nachttisch. Es ist 9 Uhr 30. Sicher ist meine Mutter längst außer Haus. Ich genieße diese Zeit nach dem Abitur. Noch ein paar Wochen Zeit, bevor das erste Semester an der Universität in Erfurt beginnen wird. Mein Aushilfsjob als Kellnerin in einer kleinen Pizzeria lässt mir viel Zeit, mich auszuschlafen und auf den Umzug in die Universitätsstadt vorzubereiten. Heute Abend habe ich frei und spiele mit dem Gedanken, das Straßenfest in der Nachbarschaft zu besuchen.

Träge wälze ich mich aus dem Bett und schlurfe ins Badezimmer. Etwas kaltes Wasser im Gesicht erfrischt mich. Nach meinem Frühstück schlendere ich im Haus einher. Ganz in Bad Godesberg habe ich mich noch nicht eingelebt. Omi ist vor drei Monaten verstorben, und meine Mom ist froh gewesen, keine Miete mehr zahlen zu müssen. Also sind wir kurzerhand aus unserer Mietwohnung in Troisdorf in das nunmehr verwaiste kleine Haus eingezogen.

Für mich ist es ohnehin fast egal, da ich bald studieren werde und mein Studienplatz weit weg von zu Hause liegt. Mir bangt ein wenig vor der Herausforderung – den geliebten Rhein und meinen Freundeskreis zu verlassen, dafür viele neue Bekanntschaften mit Menschen nicht nur aus anderen Bundesländern sondern auch aus ganz anderen Staaten zu schließen und Kontakt mit vielen fremden Kulturen zu bekommen.

Mein zielloses Wandern durch das stille Haus führt mich nach oben. Auf der letzten Stufe zum zweiten Stockwerk stolpere ich über den Treppenläufer und fange mich an der Kommode neben der Tür zu Omis ehemaligem Schlafzimmer ab.

Ich schaue die geschlossene Tür an. Lange schon bin ich nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Omi war schon recht alt und wirkte gebrechlich. Dennoch hat mich ihr Tod bestürzt. Ich denke, ich habe ihn noch nicht wirklich verarbeitet.

Vorsichtig und sachte drücke ich die Klinke herunter. Die Tür gleitet auf. Ich muss ein wenig schmunzeln – schließlich bin ich allein im Haus. Warum verhalte ich mich so leise?

Ich trete ein. Der Schafwollteppich schmiegt sich unter meinen Haussocken an meine Füße. Ich habe das Gefühl, einzusinken. Es riecht leicht süßlich, zugleich ein wenig herb, ein bisschen wie im Wald. Ich mag den Geruch. Er erinnert mich an meine Kindheit, an glückliche Stunden, die ich hier im Haus bei den Großeltern verbracht habe.

Mein Blick fällt zuerst auf das Fenster. Auch wenn es heute neblig ist, kann ich die Krone des Kastanienbaumes im Garten sehr gut sehen. Seine großen Blätter reichen bis fast an die Scheibe.

Das Zimmer selbst wirkt sehr aufgeräumt. Auf Omis Bett liegt eine Tagesdecke mit einem Muster aus großen, orangeroten Blumen. Neben dem Bett steht der Nachttisch, gekrönt von einer Lampe mit weißem blütenförmigem Glasschirm und goldfarbenem Fuß. Darunter liegt ein Spitzendeckchen. Ich muss ein wenig über das Klischee lächeln, das hier in Vollendung erfüllt wirkt.

In der Schublade des Nachttischchens hatte Omi früher Schokolade. Ich erinnere mich, wie ich sie als Kind einmal gefragt habe, warum das denn so sei, denn dies sei sicherlich schlecht für die Zähne? Omi lachte damals, strich mir übers Haar und erklärte mir, dass sie manchmal schlecht träume und daher einen Trost brauche.

Ob wohl jetzt immer noch Schokolade dort liegt? Zögernd strecke ich die Hand aus, denke gleichzeitig: Viviane, was bis du für ein Feigling!

Die Schublade lässt sich gut öffnen. Ein leichter Seifenduft steigt auf. Schokolade liegt zwar nicht in der Schublade, aber ein langer Schlüssel befindet sich gleich vorn. Säuberlich daran befestigt hängt ein Schildchen mit der Aufschrift „Truhe Dachboden“ in feiner Handschrift in veraltetem Stil. Ich nehme den Schlüssel in die Hand. Er ist schwarz und fühlt sich recht schwer und kühl an.

Truhe Dachboden?

Ich habe ja heute keine Termine und beschließe nachzusehen, was wohl darin sein mag. Vielleicht finde ich ja etwas, das mir in Erfurt nützlich sein kann, wie das Lederetui für meine Schulhefte, das mir Omi im vorletzten Schuljahr geschenkt hat. Oder vielleicht ein Kleid aus Omis Jugend für den nächsten Karneval? Das gefiele mir sehr!

Ich bin fast aufgeregt, als ich den Stock mit dem Haken hole, um die Klappe zum Speicher zu öffnen. Nachdem ich die Leiter herunter gezogen habe, klettere ich hinauf.

Staubig.

Das ist mein erster Gedanke. Und schummrig obendrein. Durch die kleinen Dachfenster kommt nur sehr wenig Licht, zumal es heute recht trüb ist.

Wo mag wohl diese Truhe sein? Ein paar Pappkisten stehen zuvorderst, aber die sind es wohl kaum. Eine Pappkiste mit Schlüssel – das wäre mir neu. Ein leichtes Grinsen umspielt bei diesem Gedanken meine Mundwinkel.

Ich taste mich in dem spärlichen Licht um den kleinen Stapel herum, und – richtig – da steht eine Truhe. Sie schaut aus, als wäre sie schon recht alt. Sie ist aus Holzbrettern gefertigt, mit Eisenbanden und einem eisernen Vorhängeschloss, das genauso altmodisch ausschaut wie der Schlüssel, den ich in der Hand habe. Vermutlich ist das Ding selbst in leerem Zustand mindestens so schwer wie ich selbst.

Halb spähe, halb fühle ich nach dem Schlüsselloch und schiebe den Schlüssel hinein. Er passt, lässt sich aber wirklich schwer drehen. Ehrgeiz packt mich, und ich strenge mich an. Es klackt. Das Schloss lässt sich öffnen. Ich ziehe es aus der Öse, die den Truhendeckel mit dem Korpus verbindet und klappe den Deckel auf. Es knarrt, dann kippt der Deckel nach hinten und knallt mit einem dumpfen Geräusch gegen die Truhenwand. Eine Staubwolke stiebt auf.

Warum wohl hatte Omi den Schlüssel fast griffbereit, wenn diese Truhe dermaßen verstaubt ist? Vielleicht wollte sie danach sehen, hat es aber nicht mehr geschafft.

Der Gedanke macht mich traurig.

Doch die Neugier ist stärker als die Trauer, und kaum, dass sich die Staubwolke gesenkt hat, beuge ich mich über die Truhe und blicke hinein.

Ist das dunkel!

Viel scheint allerdings nicht darin zu liegen. Ich taste in die Schatten hinein. Etwas Eckiges stößt gegen meine Finger. Ein Rahmen? Ich hebe es heraus. Es ist eine alte Fotografie hinter Glas in einem hellen Holzrahmen, der flache Schnitzereien im Blumenmuster trägt. Das Glas ist verstaubt.

Ich lege das Bild beiseite und krame weiter.

Der nächste Gegenstand ist weicher. Er scheint aus Leder zu sein. Vielleicht ist hier etwas, das ich gebrauchen kann? Er ist dicker und viel schwerer als das Foto und rutscht mir aus der Hand, plumpst in die Truhe zurück. Ich angele erneut danach. Es scheint ein in Leder gebundenes Buch zu sein. Auch dieses lege ich neben die Truhe, deren restlicher Inhalt sich als für mich enttäuschend erweist, besteht er doch lediglich aus Wäsche – weiße Laken, weiße Bettbezüge und Kopfkissenbezüge, alles fein säuberlich gefaltet und rein von der Optik her schon sehr alt.

Es erscheint mir beinahe grotesk - neues Bettzeug, das anscheinend niemand jemals benutzt hat, und nun liegt es hier herum.

Ich schließe die Truhe und lasse das Schloss mit Schlüssel daneben liegen. Das Foto und das Buch nehme ich mit mir.

Nachdem ich beides abgestaubt habe, schaue ich mir das Bild im Licht meines Stubenfensters genauer an. Es zeigt eine sehr junge Frau, vielleicht in meinem Alter, in einem hochgeschlossenen, langen Kleid mit Spitzenkragen und Hochsteckfrisur. Die Haare könnten vielleicht kastanienbraun gewesen sein, so wie mein eigener Schopf. Bei genauerem Hinsehen scheinen einige Locken hartnäckig der Friseurkunst widerstanden zu haben. Wie kleine Reiser ragen sie heraus und geben der Frau etwas Lebendigkeit in der ansonsten stocksteifen Pose.

Ich besinne mich, dass die Bilder damals sehr lange belichtet werden mussten und die Menschen auf diesen Bildern wahrscheinlich deshalb häufig so steif wirken.

Die Gesichtsform der jungen Frau ist eine Mischung aus herzförmig und weichem Oval, der Mund voll und eher breit, dafür die Nase klein und zierlich. Die Augen sind groß und rund, vielleicht sogar so grün wie meine, darüber die Augenbrauen eher zart, aber in gefälligem Schwung. Ob sie wohl Sommersprossen hat, wie ich selbst welche habe? Das kann ich leider zwischen all den Sepiatönen nicht so gut erkennen. Ich denke, dass das Bild über hundert Jahre alt sein muss.

Insgesamt… ja… Ich könnte ihr wirklich sehr ähnlich sehen, denke ich, kleidete und frisierte ich mich in diesem Stil. Vielleicht war es ja eine Ahnherrin?

Ich will das Bild auf meinen Nachttisch stellen, habe aber übersehen, dass dort noch mein Telefon liegt. Das Bild kippt und auf fällt den Boden. Zwar landet es weich genug auf dem Teppich, so dass das Glas nicht springt, doch trennen sich Glas und Rahmen, und der Pappkarton mit dem Foto selbst rutscht heraus.

„Mist!“, murmele ich ungehalten und hebe die Teile auf.

Auf der Rückseite des Fotos ist die Prägung mit dem Fotografennamen, der Jahreszahl 1906 und dem Vermerk „die Platte bleibt für Nachbestellungen aufbewahrt“. Ich muss schmunzeln. Angenommen, das Geschäft „Hermann Uhlig Photographie Atelier“ in Chemnitz gäbe es noch, und ich käme herein und bäte um die Nachbestellung!

Chemnitz.

Ich erinnere mich flüchtig, dass die Familie meiner Omi dort vor dem zweiten Weltkrieg ihre Wurzeln hatte. Durch die Fliegerbomben der Alliierten war das Haus völlig zerstört worden, und sie hatten sich in den Kriegswirren zu einem Onkel nach Bonn durchgeschlagen. Omi war damals noch ein Kind, vier oder fünf Jahre alt und hatte nur bruchstückhafte Erinnerungen daran.

Unter der Inschrift des Fotografen ist mit Feder und Tusche etwas Handgeschriebenes zu sehen, leider in deutscher Schreibschrift.


steht da.

Gab es da nicht mal eine App zu Schriftarten? Mein kluges Mobiltelefon muss mir hier weiterhelfen. Ein bisschen kurios fühle ich mich – ein Bild von 1906 auf dem Schoß und einen Minicomputer aus dem Jetzt in der Hand. Die Suchmaschine liefert mir das gewünschte Ergebnis. Ein wenig rätseln muss ich, doch dann bin ich ziemlich sicher, dass da „Karin Mehrendt“ steht.

Zufrieden setze ich das Bild wieder in den Rahmen ein und stelle ihn dieses Mal ohne Panne auf den Nachttisch.

Nun widme ich mich dem Monstrum aus Leder. Die Seiten sind gewellt. Der Deckel will sich zuerst gar nicht öffnen lassen. Vorsichtig, ganz vorsichtig löse ich ihn.

Gewelltes vergilbtes Papier, das ein wenig brüchig wirkt, offenbart sich meinem Blick.

Schon wieder diese alte Handschrift, denke ich.

Drei Worte stehen auf der ersten Seite. Die ersten beiden kann ich sogar schnell entziffern, sind sie doch die gleichen wie auf der Fotorückseite: „Karin Mehrendt“. Nach meinen computerunterstützen Entzifferungskünsten erfahre ich, dass das dritte Wort nüchtern „Reisebericht“ lautet.

Welch ein interessanter Fund!, geht es mir durch den Sinn. Hier habe ich einen handgeschriebenen Reisebericht mitsamt einem Foto der Person, die diesen verfasst hat, und das alles vermutlich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Das einzige, was mich wirklich abschreckt, ist das Buchstabieren der ungewohnten Schrift. Hieroglyphen oder chinesische Schriftzeichen könnten im Moment gefühlt auch nicht schlimmer sein!

Dann erinnere ich mich, dass ich im Alter von elf Jahren unbedingt das „Nibelungenlied“ lesen wollte. In Omis Bücherschrank stehen einige alte Bücher, gleich oben das Konversationslexikon von Brockhaus aus dem Jahr 1892 in Goldauflage. Darauf war Omi immer sehr stolz, besonders auf die Goldauflage. Ich erinnere mich an meine Fingerkuppe, die golden glänzte, wenn ich als Kind heimlich über die feinen Linien im Innendeckel dieser Bücher strich. Ich erinnere mich auch an den ganz speziellen Duft, der mir aus dem Bücherschrank entgegen wabert, wenn ich ihn öffne, herb, holzig, gleichwohl leicht süß, ähnlich süß wie der Geruch im Schlafzimmer meiner Omi.

Ich bin froh, dass Mutter den Bücherschrank auf jeden Fall behalten will.

Ein anderes Buch namens „Götter und Helden“ findet sich auch darin, mit einer Widmung „Meinem Kollegen Heinrich Schwarz zur Hochzeit, September 1934“. Darin war das „Nibelungenlied“ enthalten, allerdings in deutscher Druckschrift. Die ersten Seiten fielen mir schwer, aber ich habe mich damals durchgekämpft, und nachdem ich das „s“ mitten im Wort vom „f“ auseinanderhalten konnte, ging es auch ganz gut.

Das wäre doch gelacht, wenn ich mich nicht mit gleichem Erfolg durch diesen handgeschriebenen Wust kämpfen kann!

Nun will ich mich der Lektüre widmen, stelle eine Flasche Wasser und eine Tüte Kekse bereit, lege mich bequem auf den Bauch. Die Welt außerhalb des Hauses versinkt immer noch im Nebel. Es kommt mir vor, als ob das Haus eine Insel sei, einsam und still und abgeschieden. Die Straßengeräusche von draußen wirken gedämpft, fast unwirklich.

Und ich selbst versinke in der Geschichte, einer unglaublichen Geschichte, die mich komplett in ihren Bann zieht und mich das Gefühl von Raum und Zeit vergessen lässt.

Das grüne Symbol

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