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Gesellschaft

Die nächsten Wochen verliefen genau so, wie Petersen Hédrian angekündigt hatte. Nach dem Frühstück unterrichtete er mich in Sprache und Schrift von Cóno-Aleea, die ich beide zu meiner Erleichterung und Freude recht einfach fand. Wir schrieben auf einer Art Papyrus mit Griffeln aus Holz, die wir in kleine Tongefäße mit dunkler Farbe tauchten.

Sobald die Sonne etwas höher stand, unterbrachen wir die Lektion. Nun erfuhr ich, wie das hiesige Gesellschaftssystem funktionierte. Es erinnerte mich ein wenig an das von Karl Marx beschriebene Idealbild des Kommunismus, denn alle Menschen galten hier als gleich wichtig, und niemand lebte besser oder schlechter als andere.

Wenn jemand eine Familie gründete und noch keine Wohnstatt hatte, suchte er sich zusammen mit den Menschen seines Dorfes oder seines Wohnviertels einen geeigneten Platz. Die Gemeinschaft half ihm bei der Errichtung seines neuen Hauses, wobei Baumeister aus der jeweiligen Gegend mit Rat und Tat zur Seite standen.

Ich war positiv erstaunt, dass Frauen den Männern in Rang und Ansehen gleichgestellt waren. Grésto zum Beispiel war in ihre Funktion hineingewachsen, da sie einen scharfen Verstand, ein präzises Auge und ein hervorragendes Urteilsvermögen besaß, aber auch großherzig und liebevoll im Umgang mit ihren Mitmenschen war.

Ihr Gefährte, der vor einigen Jahren verstorben war, hatte sich auf das Anfertigen von Schmuck und Zierwerk spezialisiert, also eine eine völlig andere Funktion, als seine Frau ausübte, innegehabt.

Die Menschen pflegten Monogamie, wobei es deutlich weniger Etikette gab, als ich es kannte. Es konnte auch geschehen, dass Männer einen Mann als Gefährten und Frauen eine Frau zur Gefährtin nahmen und zusammen einen Hausstand hatten. Das war für mich zwar sehr ungewöhnlich, doch überzeugte Petersen Hédrian mich, dass es sinnvoller sei, Menschen, die sich lieben in diesem Glück zu belassen.

Die herrschende Meinung hierzulande war: wer zufrieden lebte, leistete für die Allgemeinheit einen besseren Beitrag. Und der Nutzen des Einzelnen für alle anderen war hier das Wichtigste.

Wenn sich zwei Menschen gefunden hatten, versprachen sie einander und lebten gemeinsam. Sollten sie im Laufe der Jahre feststellen, dass sie sich nicht mehr verstanden oder liebten, trennten sie sich ohne große Zeremonie.

Kinder wurden sowohl in Partnerschaften geboren als auch außerhalb derer, ohne dass irgendwer die Wertigkeit der Kinder oder der Mütter anzweifelte.

Letzteres geschah nur, wenn jemand, egal wer, seinen Dienst an der Allgemeinheit versagte. Da jeder von jedem profitierte, war dies Petersen Hédrian zufolge, äußerst selten.

Die Kinder wurden vielseitig erzogen. Sie wurden morgens zum Beispiel in Schrift, Technik, Geschichte und Religion gelehrt. Nachmittags halfen sie unter anderem beim Fischfang, dem Ackerbau, der Herstellung von Werkzeugen und Gerät, der Pflege von Kranken und dem Hegen der Tiere. Wo sich ein Kind interessiert und begabt zeigte, wurde es ermutigt, seine Fertigkeiten zu verfeinern.

Da alle Kinder von vornherein in alle Richtungen ausgebildet wurden, konnte jeder stets auch seine Hauptaufgabe wechseln, wenn er das Gefühl hatte, er könne etwas anderes besser als das bisher Ausgeübte.

Die Religion folgte keinem Monotheismus, sondern es wurden viele Gottheiten verehrt, wobei diese ein wenig wie die Schutzpatronen der katholischen Kirche fungierten. Für fast alles gab es ein passendes höheres Wesen, wobei sich auch hier weibliche und männliche Gestalten die Waage zu halten schienen.

Obwohl die Leute in Cóno-Aleea einen hohen Wissensgrad hatten - so kannten sie zum Beispiel eine Technik, mit der man Wasser bergauf lenken konnte - und Phänomene wie eine Sonnenfinsternis oder Donner erklären konnten, waren sie achtsam im Umgang mit dem Göttlichen.

Gern pflegten sie täglich intensive Zwiesprache mit ihren Gottheiten zu halten, indem sie sich an einen ruhigen Ort zurückzogen und dort in eine Art Meditation versanken.

Dass ich meiner Familie als Freigeist gegolten hatte, erwies sich jetzt definitiv als Vorteil. Ich war offen, andere Facetten eines Glaubens zu akzeptieren. In den letzten Jahren hatte ich alles für mich Interessante gelesen, was mir zugänglich war, egal ob es ein Roman von Kurd Laßwitz oder eine Publikation des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins gewesen war. Ich hatte mich in „Meyers Konversationslexikon“ über andere Religionen als das Christentum kundig gemacht.

Da ich aus einem streng protestantischen Haus kam, hatten meine Eltern meine diesbezügliche Wissbegierde nicht wirklich gern gesehen. Es hatte viele Verweise gegeben, und zum Teil hatte ich heimlich unter meiner Bettdecke gelesen.

Abends trafen die Menschen gern auf den vielen öffentlichen Plätzen in Éngin-Doloh zusammen, um gemeinsam zu musizieren und die verschiedenen Götter zu ehren. Diese abendlichen Zusammenkünfte waren, so berichtete Petersen Hédrian, von eher informellem Charakter und nannten sich Aën-Sangaa, was so viel wie „Lied am Abend “bedeutete.

Das Volk lebte von Ackerbau und Fischfang. Tiere wurden als Nutztiere gehalten, aber nicht verzehrt. Haustiere wie ich sie kannte, waren hier nicht geläufig, und es gab weder Raubtiere noch Ratten oder Mäuse. Petersen Hédrian hatte seinen Urgroßvater lediglich von Letzteren erzählen hören, daher waren sie ihm zumindest ein Begriff. Vogelartige Wesen lebten auf der Insel, waren aber sehr groß und scheu und konnten nicht fliegen.

Fast jeden Tag lachte über Éngin-Doloh die Sonne. Selten war es bewölkt. Nachts hingegen regnete es oft, so dass die Pflanzen optimal gediehen. Wochentage wie ich sie kannte, gab es nicht. Stattdessen erfolgte die Orientierung an den Mondphasen.

Insgesamt maß man wiederum in Jahren, wobei man sich an der Sonnenwende orientierte.

Da das Klima ganzjährig mild war, wie Petersen Hédrian sagte, wurden die Häuser nicht beheizt. Zum Kochen, zur Herstellung von Arznei oder zur Verarbeitung mancher Materialien befeuerte man Öfen aus Stein.

Das Holz zum Feuermachen wuchs in speziellen Plantagen, ebenso die biegsamen Gerten, die für die Herstellung des mannigfaltigen Flechtwerks benötigt wurden.

Ab und an bebte die Erde leicht, ein Phänomen, das hierzulande bekannt war und niemanden zu stören oder zu beunruhigen schien. Auch ich begann mich nach einigen Wochen an das tiefe Grollen und daran, dass der Boden unter mir und das Haus um mich herum etwas schwankten, zu gewöhnen. Die schwingende Bettstatt erwies sich nachts bei den leichten Erdbeben als nützlich. Oft bemerkte ich im Schlaf gar nicht, dass die Erde sich bewegte, und erfuhr es erst morgens aus Erzählungen.

In diesen Wochen hatte ich die Gewohnheit entwickelt, nach der Morgentoilette noch eine Weile am Fenster meiner Bleibe zu verweilen, bis ich, häufig von Grésto persönlich, abgeholt und zu Petersen Hédrian in den Garten geleitet wurde, wo ich den Tag bis zum Einbruch der Dämmerung mit meinen Lektionen verbrachte. Mir fiel auf, wie sehr Grésto meinen Mentor schätzte und daher gern jede Gelegenheit zum Plausch mit ihm ergriff.

In der Zeit des Wartens auf Grésto oder ihre Helfer genoss ich die wundervolle Aussicht auf die Gärten und den Hafen: Doch noch mehr erfreute mich die frühmorgendliche Anwesenheit des musikalischen Gärtners, der dann oft seine komplizierten wundervollen Weisen zur Arbeit trällerte.

Manchmal, als ob er meinen Blick spürte, blickte er zu meinem Fenster hinauf. Ich duckte mich schüchtern hinter die Läden, denn eigentlich war es nicht schicklich, dass ich ihn beobachtete, zumal mir die peinliche Szene, als ich unwissend im Nachtgewand vor ihm gestanden hatte, noch deutlich in Erinnerung war. Leider war er nicht jeden Tag zugegen und auch niemals in der Nähe, wenn ich mit Petersen Hédrian draußen im Garten saß.

Das Abendessen nahm ich dann allein in meinem Gemach zu mir. Da das viele Lernen anstrengend war, schlief ich meist recht früh ein.

In Éngin-Doloh war es nachts herrlich ruhig. Es war kein Vergleich zum Lärm in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Ich lauschte der Meeresbrandung, häufig untermalt vom Geräusch des leisen nächtlichen Regens.

Oft aber weinte ich mich auch in den Schlaf, wenn ich an Paul und an meine Eltern dachte und mich die Ungewissheit übermannte, ob ich sie jemals wiedersehen würde.

Das grüne Symbol

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