Читать книгу Das grüne Symbol - Christina Marie Huhn - Страница 15

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Geschichten

Nachdem Petersen Hédrian mich in die Obhut einer fröhlichen, jungen Frau gegeben hatte, die unbeirrt munter auf mich einschwatzte, obwohl ich kein Wort verstand, wurde ich in ein tagestaugliches Gewand gehüllt.

Ähnlich den Umhängen der Frauen, die ich bereits gesehen hatte, und dem der Frau, die sich um mich kümmerte, war das taubengraue, leichte Kleidungsstück knöchellang. Es wurde mit einem weichen, geflochtenen Gurt an der Taille gehalten. Ein helleres Untergewand bedeckte meine Arme bis zum Ellbogen. Auch Ledersandalen gehörten zur Ausstattung, die bis zur Mitte der Wade mit langen Riemen geschnürt wurden. Sie saßen so leicht und bequem am Fuß, dass ich fast das Gefühl hatte, weiterhin barfuß zu gehen. Meine Haare wurden geflochten und mit einem Band zurückgebunden.

Nun war ich offenbar für den Tag gerüstet, denn ich durfte wieder die Treppe hinabsteigen und auf einem Polsterhocker im Garten Platz nehmen. Ein niedriger Tisch stand davor. Auf einem weiteren Stuhl kniete Petersen Hédrian und wies mit einladender Geste zu den Speisen, die auf dem Tisch standen. Ich hatte nun etwas mehr Muße, ihn zu betrachten. Sein Gesicht war schmal mit einer langen schmalen Nase, und er hatte viele tiefe Falten. Die meisten stammten offensichtlich vom Lachen, doch es waren auch einige Falten dabei, die von Trauer sprachen.

Unter seinen buschigen, weißen Augenbrauen leuchteten klare Augen in kornblumenblauer Farbe. Sowohl das lange Haar als auch der Bart waren ordentlich gekämmt und mit geflochtenen Lederbändern mehrfach in verschiedenen Abteilungen übereinander zusammengebunden.

Seine Tunika bestand aus fließendem, weichem, dunkelblauem Stoff.

Er hatte einen der geflochtenen Teller auf dem Schoß und war bereits genüsslich am Essen. Da ich hungrig war, tat ich es ihm gerne gleich. Ich erkannte die Knollen, die ich schon im Dorf verzehrt hatte, dazu gab es einen mit Honig gesüßten Brei, etwas Obst - auch von den herrlichen Datteln - und ein Gemisch aus Wasser und Saft. Wir aßen mit den Fingern und einem angespitzten Holzstäbchen.

„Möchten Sie mir denn verraten, in welchem Land wir sind?“ Ich konnte meine Neugierde nicht mehr länger zügeln.

„Oh, ich hatte befürchtet, dass Sie das zuerst fragen“, antwortete Petersen Hédrian.

Zwar lächelte er, gleichwohl wirkte er etwas traurig.

„Sie sind in Cóno-Aleea. Natürlich kennen Sie Cóno-Aleea nicht. Dieses Eiland ist der restlichen Welt völlig unbekannt, jedenfalls bis jetzt. Wir führen ein sehr friedliches Leben, und jeder gibt, was er kann, und nimmt, was er braucht. Wir Menschen hier kennen keine Gier und keinen Neid. Außer uns gibt es hier weithin nur Wasser. Denn selbst wenn wir sehr weit mit unseren Booten aufs Meer fahren, erreichen wir kein anderes Land. Ich vermute, unser Eiland liegt weit ab von den Routen der Handelsschifffahrt.“

Meine Stimmung sank mit seinen Worten, denn dies konnte nur bedeuten, dass ich nicht nach Hause zurückkehren konnte. Ich war also auf einer Insel gestrandet, welche für die restliche Welt unbekannt war.

Ich legte meinen Teller auf den Tisch und griff nach einem feuchten Tuch, um meine Hände zu reinigen. Mein Appetit war mit einem Schlag vergangen.

Ein anderer Gedanke fuhr mir durch den Kopf.

„Wenn niemand dieses Land kennt, wie kommt es dann, dass ich Sie verstehen kann?“, fragte ich.

Er lächelte erneut.

„Sie sind schiffbrüchig, nicht wahr? So erging es meinem Urgroßvater ebenfalls. Er hat es trotz aller Bestrebungen nie geschafft, Cóno-Aleea wieder zu verlassen, obgleich er ein wenig mit den Prinzipien der Meeresschifffahrt vertraut war. Möchten Sie seine Geschichte hören?“

Ich nickte, denn es interessierte mich, und ich hatte ohnehin keine andere Aufgabe.

„Mein Urgroßvater nannte sich Hans Petersen. Er stammte aus einem Land, das ganz anders als dieses hier war. Es hieß Holstein.“

Ich horchte auf.

Petersen Hédrian ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und sprach weiter: „Ich war sehr klein, und er war sehr, sehr alt. Ich glaube, ich bin heute sogar noch jünger, als er damals war. Auf jeden Fall hatte er einen langen weißen Bart, so wie ich auch. Mit dem Bartwuchs steht unsere Familie übrigens hier allein. Die anderen Männer hier haben kein Haar am Kinn.“

Er kicherte leise.

„Selbst in diesem hohen Alter legte mein Urgroßvater noch großen Wert auf seine Muttersprache und brachte sie allen bei, damit er selbst nicht verlernte, sie zu sprechen. Meine Großeltern und meine Eltern haben die Tradition fortgeführt, und selbst meine Großneffen und mein Ziehkind sprechen sie noch. Leider fängt unser Brauch trotzdem an, auszusterben. Aber ich schweife ab. Zurück zu meinem Urgroßvater.

Er hat jedenfalls nie die Hoffnung aufgegeben, dass eines Tages ein intaktes Handelsschiff nach Cóno-Aleea fände, das ihn in seine Heimat zurücktrüge. Denn diese hatte er schon lange nicht mehr gesehen, sogar bevor er hier strandete. Zu diesem Zweck wollte er unbedingt seine Muttersprache erhalten. Gern hätte er sein Elternhaus noch einmal gesehen, bevor er starb.“

Das muss lange her sein, dachte ich.

Petersen Hédrian schien mir sehr alt, und er sprach von seinem Urgroßvater, der schon extrem betagt gewesen war, als mein Gegenüber noch ein kleiner Junge war.

„Mein Urgroßvater war erst 16 Jahre alt, als er in die Dienste eines Herrn aus einem Land namens Dänemark trat und mit ihm in ein anderes Land namens Russland zog“, fuhr Petersen Hédrian fort.

„Er sprach von mehreren langen Entdeckungsreisen, denn die Welt, in der er lebte war sehr groß, und die Menschen wollten sie besser kennenlernen. Er sprach von Handel und Eroberung.“

Der alte Mann wurde nachdenklich.

„Ich kann mir das gar nicht vorstellen, denn ich kenne nur Cóno-Aleea, und das ist gut zu überschauen“, murmelte er und driftete in Gedanken ab.

Wenn er immer nur auf dieser Insel gelebt hat, fällt es ihm sicher schwer, die Erzählungen seines Urgroßvaters wirklich zu verstehen, dachte ich.

Ich erinnerte mich an das, was ich in Weltkunde und Geschichte gelernt hatte. Dieser Däne, der Petersen Hédrians Urgroßvater nach Russland mitgenommen hatte, musste Vitus Bering gewesen sein.

Das war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dachte ich ehrfürchtig. Das ist ja fast 200 Jahre her!

Damals kannte man nur Segelschiffe, und die waren oft gesunken oder wurden von Stürmen ganz woanders hin verschlagen, als man geplant hatte. Wie hätte der Urgroßvater von Petersen Hédrian wohl gestaunt, hätte er die modernen, riesigen Motorschiffe gesehen!

„Nun ja“, fuhr Petersen Hédrian fort und bestätigte in seinem nächsten Satz genau meinen Gedankengang bezüglich der Segelschiffe, „man wollte zu den…“, er zögerte kurz, „…japani-schen…“

Das Wort machte ihm Probleme. Ich nickte aufmunternd.

„… zu den japanischen Inseln segeln“, wiederholte er, „aber ein Sturm brachte das Schiff, auf dem sich mein Urgroßvater befand, weit ab vom Kurs. Es war dabei beschädigt worden, und noch während man versuchte, es auf hoher See wieder manövrierfähig zu machen, ereilte es ein zweiter noch mächtigerer Sturm, bei dem es gänzlich zu Bruch ging.

Fischer aus Cóno-Aleea fanden meinen Urgroßvater, der halb tot auf einem Stück Treibholz lag, wo er sich mit einem Stück Tau festgezurrt hatte. Seitdem lebte er hier. Er lernte unsere Sprache und Gebräuche und nahm sich eine treue Gefährtin. Er starb, als ich sieben Jahre alt wurde. Aber ich kann mich noch sehr gut an seine Erzählungen erinnern.“

Petersen Hédrians Blick schweifte in eine imaginäre Ferne ab. Er erinnerte sich wohl an seinen Urgroßvater und trat im Geist eine Reise durch die Zeit an.

Ich legte das Tuch, das ich die ganze Zeit geknetet hatte, auf den Tisch zurück und spann derweil meinen eigenen Gedankenfaden.

Dass ich nicht das nächste Schiff nach Hause nehmen konnte, da es keines gab, hatte ich verstanden.

Gleichwohl, dachte ich, wird diese Insel nicht mehr lange Zeit unentdeckt von der restlichen Welt verborgen bleiben, denn inzwischen gibt es sogar Flugmaschinen, in denen man noch viel schneller voran kommt als zu Schiff! In der Zwischenzeit darf ich einfach den Mut nicht verlieren.

Hans Petersen hatte das schließlich auch geschafft.

Eine Weile verstrich, dann kehrte mein Gegenüber geistig in das Hier und Jetzt zurück.

Er schaute mich an und sagte: „Vermutlich überlegen Sie, wie es mit Ihnen weitergeht, nicht wahr?“

Ich nickte.

„Sie befinden sich auf dem Anwesen von Grésto. Sie ist Vorsteherin in dieser Stadt, sehr weise und gebildet und erste Anlaufstelle für alle Fragen, die die Menschen hier haben. Hier können Sie erst einmal bleiben. Man hat mich gebeten, dass ich Ihnen unsere Sprache beibringe und Sie in unseren Bräuchen unterweise. Dabei werden wir herausfinden, wie Sie am besten in unsere Gesellschaft passen. Bitte beginnen wir, indem Sie mir erzählen, wie Sie hierher gelangt sind.“

Die nächste Zeit erzählte ich von meinem Plan, als Gouvernante nach Deutsch-Samoa zu reisen, und was mir zwischenzeitlich widerfahren war.

„Sie hatten Glück“, unterbrach Petersen Hédrian mich, „dass Sie ausgerechnet in der Nähe von M'árwar gestrandet sind und auf Tíkanan und seine Mutter trafen. D'aïvada kennt mich. Wir sind zusammen hier in dieser Stadt aufgewachsen. Als Sie etwas auf Deutsch sagten, erkannte sie, dass meine Familie und ich Ihnen weiterhelfen können. So sind Sie nach Éngin-Doloh, so nennen wir diese Stadt, gelangt.

Unser Plan sieht vor, dass ich Sie erst einmal ein paar Wochen unterrichte. Wir werden morgen beginnen. Ich werde täglich zum Frühstück erscheinen. Heute ruhen Sie sich bitte noch etwas aus. Ich freue mich auf die Arbeit mit Ihnen.“

Er erhob sich.

Fast sofort erschien eine große, ehrwürdig wirkende Frau, die ich auch vorhin auf dem Weg zum Garten flüchtig gesehen hatte. Sie hatte langes, kunstvoll aufgestecktes, dunkles Haar, ein charaktervolles Gesicht mit einer leichten Hakennase sowie einen sehr dunklen Teint. Sie trug ein schwarzes Gewand und war die erste Frau, die ich hier sah, die Schmuck trug. Es war eine kunstvoll gearbeitete Kette aus schillernden Muscheln.

„Bitte warten Sie!“, rief ich, erschrocken über das abrupte Ende der Konversation. „Wo ist denn Frau Grésto? Ich muss mich doch wenigstens bei ihr bedanken!“

„Sie steht neben Ihnen“, schmunzelte Petersen Hédrian.

Das grüne Symbol

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