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Apfelsinen

DURST.

Langsam drang das Wort in mein Bewusstsein vor. Im ersten Moment dachte, ich, ich läge zu Hause im Bett. Doch schnell spürte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Das Licht, das durch meine Lider drang, war viel zu grell. Auch fühlte ich meine Kleidung steif, einem Brett gleich, an meiner Haut liegen. Etwas Klobiges drückte in meinen unteren Rücken.

Ach ja, natürlich, die Schwimmweste.

Dann brach die Erinnerung mit Macht über mich herein. Die Schiffsreise und der Sturm. Und die Woge, die mich von Deck gerissen hatte. Erschrocken riss ich die Augen auf, nur um sie gleich wieder zu schließen, denn sie waren trocken, und es war viel zu grell.

Ich richtete mich zum Sitzen auf, blinzelte erst einmal und beschirmte meine Augen mit einer Hand. Wo war ich hier? Es sah aus wie ein Strand.

Es ist ein Strand. Ich bin an einem Strand.

Ich hatte überlebt. Unsägliche Dankbarkeit brandete in mir auf.

Die Sonne stand ein Stück über dem Horizont und leuchtete warm und stark von einem wolkenlosen Himmel herab. Ich nahm an, dass jetzt Vormittag war. Etwa fünf Meter neben mir lag die See, ruhig, fast völlig still. Nur eine sachte Brandung spülte kaum hörbar über den Ufersand.

Wie absonderlich, dachte ich, erst benimmt sich die See wie ein Monstrum, und dann ist sie so harmlos und friedlich wie ein Schoßtier.

Der brennende Durst, der mich geweckt hatte, machte sich noch stärker bemerkbar. Ich musste etwas Trinkbares finden. Unbeholfen rappelte ich mich auf, stand schwankend.

Meine Beine fühlten sich gummihaft und weich an. Egal. Ich musste weg vom Strand, um etwas zu finden, mit dem ich meinen Durst löschen konnte.

Ich wandte mich vom Meer ab und blickte in ein grünes Dickicht. Hoffentlich gab es hier einen Fluss oder Bach! Ich streifte die Schwimmweste ab und nahm sie in die Hand. Meine ersten Schritte waren wacklig, wurden aber zunehmend stabiler und führten mich in den Schatten der Gewächse.

Die vorherrschende Farbe war Grün. Bewuchs, der mich an Schachtelhalme erinnerte, stand dicht und ragte mir bis zum Kinn. Etwas weiter entfernt wuchsen buschige Palmen, was ich am ruppig wirkenden Stamm und an den Wedeln erkannte. Früchte trugen sie leider nicht.

Schnell merkte ich, dass ich am Strand selbst entlanggehen musste, da das Pflanzenwerk viel zu dicht war, um mir einen Weg zu bahnen. Ich blickte in beide Richtungen, welche mir günstiger erschien. Da im Grunde alles gleich aussah, fuhr ich einfach fort, in die bereits eingeschlagene Richtung zu gehen.

Die Sonne stieg höher, und es wurde wärmer. Scheinbar endlos zog sich der Strand entlang. Ich begann zu schlurfen. Meine Kräfte schienen zu versiegen. Aber – halt – was roch ich da? Leicht süßlich drang ein Duft aus dem Pflanzengewirr. Ich hatte nichts zu verlieren und folgte im wahrsten Sinne des Wortes meiner Nase, bahnte mir einen Weg durch das dichte Grün. Nur wenige Meter hinter dem Randbewuchs befanden sich einige Bäume, die rötlich-gelbe Früchte trugen. Am Boden lagen ebenfalls Früchte, einige bereits verrottend und aufgeplatzt.

Apfelsinen! Das waren Apfelsinen!

Ich blickte empor. Fast in Reichweite hing eine reife Frucht über mir. Ich unternahm einen kleinen Hopser und griff zu. Die Frucht löste sich und lag nun warm und verheißungsvoll in meiner Hand. Schnell hatte ich die Schale abgerissen und saugte den süßen Saft in meine ausgedörrte Kehle. Es war eine unendliche Wohltat. Ich schickte ein stummes Gebet des Dankes zur Bläue des Himmels empor. Dann aß ich reichlich, so dass Durst und Hunger versiegten.

Zum Abschluss steckte ich noch einige Früchte in meine Rocktaschen und wollte mich dem Strand wieder zuwenden.

Doch bevor ich dies tun konnte, zupfte es an denn Bändeln der Schwimmweste, die ich immer noch bei mir trug.

Ich erschrak, sprang ein Stück rückwärts und schaute, nach unten blickend, in zwei große, dunkelbraune Kinderaugen. Vor mir stand ein kleines Mädchen in einem kurzen, gelben Kleidchen mit sonnenbrauner Haut, Grübchen, dunklen Locken und cherubenhaftem Aussehen. Neugierig piepste sein Stimmchen Wörter in einer völlig unbekannten Sprache.

Ich selbst fand mich sprachlos.

Mein Mund öffnete sich, nur ein Ton kam nicht heraus.

Das Kind unternahm einen weiteren Konversationsversuch und plapperte etwas Längeres, für mich ebenso Unverständliches. ”Es tut mir leid. Ich spreche deine Sprache nicht…”, murmelte ich rau.

Der Ruf einer Frauenstimme schallte plötzlich vom Strand herüber. Die Kleine quietschte ein kurzes Wort, sah mich an, umschloss mit ihrer kleinen, warmen Hand vertrauensvoll die meinige und zog mich hinaus aus dem Dickicht, geradewegs einer hochgewachsenen, jungen Frau vor die Füße, die einen mit Fischen gefüllten Korb trug.

Genau wie meine kleine Begleiterin hatte auch sie eine sonnengebräunte Haut, dunkle Locken, die sie mit einem geflochtenen Band zu einem Zopf gebunden hatte, und dunkelbraune Augen. Sie war in eine Art Umhang mit grüngrauem Karomuster aus grober Webfaser gehüllt, der bis fast zum Knöchel reichte. An den Füßen trug sie Ledersandalen mit langen Riemen. Ebenso aus Leder war der breite Gürtel um ihre Hüfte, in dem ein breites Messer steckte.

Als sie das Mädchen mit mir im Schlepptau sah, ließ sie den Korb fallen.

Ein weiterer Ausruf, jetzt mit dem Unterton des Entsetzens, erklang aus ihrem Mund.

Sofort ließ ich die Hand des Mädchens los und hob meine Hände, damit die Fremde erkennen konnte, dass ich keine bösen Absichten hegte.

Meine Schwimmweste hatte ich immer noch in der Hand, und sie baumelte zwischen uns einher, während die Apfelsinen meine Rocktaschen gewaltig ausbeulten und nach unten zogen. Ein Außenstehender hätte die Situation vermutlich als reichlich bizarr empfunden. Ich hingegen kämpfte gegen eine aufsteigende Panik und zwang mich, stehen zu bleiben und ruhig weiter zu atmen. Ich hatte das Gefühl, meine Lage sei durchaus gefährlich. Ausgerechnet jetzt schossen mir Geschichten von Kannibalen, die angeblich in der Südsee lebten, durch den Kopf.

Das Kind jubilierte derweil unbeschwert in der fremden Sprache und zeigte auf meine Taschen. Die Frau richtete argwöhnisch ein fragendes Wort an mich, während sie eine Hand auf den Messergriff legte und mit der anderen das aufgeregt hüpfende kleine Mädchen hinter sich schob.

“Ich verstehe Sie leider nicht”, brachte ich heraus.

Mein Hals war kloßig vor Aufregung. Mir wurde ausgesprochen flau, und meine Knie schlotterten.

Die Fremde musterte mich von oben bis unten und schien zu dem Schluss zu kommen, dass ich keine Bedrohung für das Mädchen oder sie selbst darstellte. Ohne mich aus den Augen zu lassen, klaubte sie ihren Korb auf und gab einen knappen Befehl in meine Richtung. Ihr Ton hatte etwas unmissverständlich Aufforderndes. Sie gestikulierte mit dem Kinn in eine Richtung ins Gebüsch hinein, wo sich bei genauerem Hinsehen ein fast zugewachsener Pfad befand. Ich sollte offensichtlich vorangehen.

Wohl war mir damit wirklich nicht, doch eine bessere Idee hatte ich auch keine, also stakste ich dem Duo voraus.

Nur wenige Minuten später wurde der Pfad breiter und wirkte hier oft begangen. Während des Marsches plapperte das Mädchen hinter mir aufgeregt auf die Frau ein, die ab und an anscheinend eher einsilbig antwortete. Offensichtlich teilte sie die Begeisterung ihrer kleinen Begleiterin keineswegs.

Ich selbst versuchte mich indessen zu überzeugen, dass die beiden mir helfen wollten und ich nicht doch noch am Ende als Hauptspeise vorgesehen war. Gleichzeitig war ich froh, vorhin die Apfelsinen verzehrt zu haben, denn sonst wäre ich vielleicht vor Durst und Schwäche umgefallen.

Meine Schuhe drückten, denn es war heiß und ich hatte geschwollene Füße. Zudem war das Leder durch das reichliche Bad im Salzwasser und das anschließende Trocknen hart und ungefügig geworden. Ich begann zu humpeln und biss die Zähne zusammen, da ich mir in der derzeitigen Situation keine Blöße geben mochte.

Nach einer Weile wurde der Pfad noch breiter und mündete in eine Lichtung, auf der fünf niedrige Steinhäuser mit Strohdächern im Kreis standen. In der Mitte war eine Art Dorfplatz, der momentan menschenleer war. Die Frau deutete auf das größte Haus, dessen hölzerne Tür mit fremdartigen Schnitzereien verziert war. Ich nahm an, dass ich dorthin gehen sollte und tat wie geheißen.

Meine Begleiterin sagte etwas zu dem Mädchen, das zuerst zu widersprechen versuchte, sich jedoch fügte, nachdem das Ganze mit Nachdruck wiederholt worden war. Es lief zu einem der anderen Häuser und verschwand darin, sah sich jedoch noch mehrfach nach mir um.

Die Fremde stellte ihren Korb ab und klopfte mehrmals kräftig gegen die Tür, vor der wir standen. Ein wie sie selbst hochgewachsener Mann mittleren Alters öffnete. Er trug ein Kleidungsstück, das mich an eine Tunika erinnerte, in ähnlicher Farbe und Webart wie der Umhang der Frau, die neben mir stand, nebst Gürtel und Sandalen. Sein dunkles Haar war lang und zu einem Zopf gebunden, und sein kantiges Kinn war glatt und bartlos. Er hatte kräftige Arme und Hände und stämmige, sehr muskulöse Beine. Ich nahm an, dass auch er viel im Freien unterwegs war, denn seine dunkle Bräune stand der der Frau und des Kindes in nichts nach.

Als er mich erblickte, erstarrte er kurz, um mich im Anschluss von oben bis unten prüfend anzusehen. Ohne dass er etwas gefragt hätte, begann die Frau mit ihm zu sprechen. Ihre Worte wirkten bedacht und überlegt. Ich vermutete, dass sie ihm erklärte, wie sie mich gefunden hatte.

Seine Antwort war kurz und wirkte voller Autorität. Die Frau nickte.

Das Gesagte traf offenbar ihre Zustimmung.

Er trat zur Seite und zeigte ins Haus hinein. Ich nahm an, dass ich eintreten sollte und schob mich zögernd an ihm vorbei. Im Haus war es kühl und angenehm. Es roch nach Erde und Kräutern, was mir gefiel. Der Boden bestand aus festgestampftem Lehm und wirkte penibel gekehrt. Die Wände waren weiß gekalkt, und ein solider Holztisch nebst passenden, niedrigen Stühlen stand in der Mitte des Raums. Von der Decke hingen einige Bündel mit Kräutern. An der Wand lehnten Werkzeuge. Ich glaubte, unter anderem eine Hacke und einen Rechen zu erkennen.

Die beiden Fenster standen offen, hatten aber Rahmen, in denen zwei Vorrichtungen angebracht waren. Die äußere bestand aus Holz und diente wohl als Fensterladen. Die innere trug in einem hölzernen Gestell ein dünnes, durchsichtiges Material.

Der Mann ging voraus und winkte mich in einen weiteren Raum, in dessen Mitte ein Gestell stand, das wohl als Bett diente. Er schloss die innere Vorrichtung des Fensters, verriegelte diese mit einem Bolzen, den er mit einem einfachen Hammer aus Holz festkeilte, und verließ den Raum. Die Tür schloss er auch. Von außen rumpelte es. Ich vermutete, er hatte sie blockiert. Auf jeden Fall ließ sie sich nicht mehr öffnen, obwohl ich fest daran rüttelte: Ich war eingesperrt.

Ich setzte mich auf das Bett, dessen Rahmen aus Holz bestand, das durch biegsame Ranken zusammengehalten wurde. Statt einer Matratze hatte man Flechtwerk in den Rahmen gespannt. Darauf waren mehrere Lagen dickes Tuch angeordnet. Weitere Lagen eines leichteren Tuches schienen als Zudecke zu dienen. Das Ganze roch frisch und sauber, ein bisschen nach Laub und Holz.

Jetzt, da ich keine Ablenkung mehr hatte, brach das Erlebte mit voller Wucht auf mich herein.

Das Schiff.

Der Sturm.

Wo war Paul, ging es ihm gut?

Wie würden es meine Eltern aufnehmen, wenn ich verschollen oder Paul womöglich sogar tot war?

Würde ich nach Hause zurückkehren können?

Das kleine Leben, das ich in Chemnitz geführt hatte, das kleine Leben, das mir so langweilig und eng erschienen war, wirkte plötzlich sehr erstrebenswert.

Ich wollte heim, wollte mich neben meiner Mutter auf der gepolsterten Sitzbank in der Wohnstube zusammenrollen, meinen Kopf auf ihre Beine betten und von ihr getröstet werden, wollte hören, dass alles gut werde.

Außer dass ich am Leben war, dünkte mir jedoch gerade jetzt gar nichts gut.

Ich barg mein Gesicht in meinen Händen und weinte eine Weile. Dabei versuchte ich mich schniefend zu ermahnen, meine Lage rational zu betrachten. Die Menschen wirkten auf jeden Fall zivilisiert. Falls man mich hätte töten wollen, wäre ich sicher nicht so gut untergebracht worden.

Das war schon einmal ein kleiner Hoffnungsschimmer!

Irgendwann versiegten meine Tränen. Ich spürte, wie die Apfelsinen gegen meine Oberschenkel drückten, und es störte mich. Nachdem ich meine Taschen ausgeleert hatte, legte ich die Schwimmweste, einem Kopfkissen gleich, auf das Bett und beschloss ein wenig zu ruhen, denn nicht nur das Weinen hatte mich ausgelaugt, sondern auch der Marsch durch das Dickicht war anstrengend gewesen.

Mein ganzer Körper schmerzte, wobei auch mein Überlebenskampf im aufgewühlten Meer seinen Tribut forderte.

Tatsächlich schlief ich fast augenblicklich ein.

Das grüne Symbol

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