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6. Scherben

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Dieses Kapitel zu schreiben, fällt mir schwer. Es kann sein, dass der eine oder andere denkt: So etwas muss nicht in ein Buch. Aber vielleicht lesen ein paar Menschen es auch mit dem erleichterten Gefühl: Endlich geht jemand in den stickigen Raum, der mich auch bedrückt hat, und öffnet ein Fenster. Für euch schreibe ich dieses Kapitel. Für uns – die diesen Raum kennen – zum Trost. Wir sind nicht alleine.

Ich erinnere mich an ein paar Szenen aus meiner Kindheit, die mich zum Lachen bringen, aber wenn ich genauer hinschaue, machen sie mich auch traurig. In einer dieser Szenen sitze ich mit meiner Schwester vor dem Fernseher, und jedes Mal, wenn bei Bullerbü & Co geküsst wurde – oder andere Zärtlichkeiten zwischen Mann und Frau ausgetauscht wurden – stellte unsere Mutter sich schützend vor den Bildschirm. Oder sie sagte, wir sollten die Hände vors Gesicht halten. Manchmal haben wir dabei ein wenig geschummelt, aber meistens haben wir gehorsam die Augen zugekniffen. Ich weiß, meine Mutter hat es gut gemeint. Ganz bestimmt. Und es ist nicht so, dass allein diese Sache in mir ein Trauma ausgelöst hätte (obwohl ich heute manchmal noch die Augen zusammenkneifen will, wenn sich ein Liebespaar hingebungsvoll küsst). Aber wenn sich eine Szene an die andere reiht und sich dann zu einem ganzen Film zusammenfügt, kann das ein Herz auf Dauer schädigen.

Es gibt einen Film, der in einem dunklen Hinterzimmer meines Lebens ablief. Der Titel lautet: „Mein Körper und ich“, und die Geschichte ist so traurig, dass man jedem Kind nur sagen kann: Halt dir die Hände vors Gesicht – dieser Film schadet dir. Es laufen Bilder der Scham für den Körper, den Gott uns geschenkt hat. In einer einschneidenden Szene wird dem Kind (unbewusst) mitgeteilt, dass es in der eigenen Geschlechtlichkeit nicht normal ist, gefolgt von vielen Filmabschnitten, in denen sich dieses Kind in seinem Körper unwohl gefühlt hat. Das Setting ist ein frommes Umfeld, in dem körperliche Bedürfnisse nicht ernst genommen werden und die Sexualität oft in eine dunkle, gefährliche Ecke geschoben wird. Man sollte rein und bewahrt bleiben. Dann würde Gott alles gut machen. Klare Grenzen waren wichtig. Aber vor lauter Angst wurde auch das Leben weggesperrt. Für die Sexualität blieb nur ein kleiner stickiger Raum im Herz, den man besser meiden sollte.

Aber es gibt Kräfte in uns, die lassen sich nicht verdrängen. Wenn sie nicht ans Licht dürfen, dann suchen sie sich einen anderen Weg. Und so kommen Szenen voller Scham in meinen kleinen Film: Ein Mädchen, das Jesus nachfolgen und rein sein will und es nicht schafft. Das durch die Finger schielt und schmutzige Filme sieht und sich dafür verdammt und weint und sich niemandem anvertrauen kann. Dessen Körper zum Feind wird, den es besiegen muss, aber ohne Erfolg. Man kann keinen Hunger leugnen, ohne auf Dauer Schaden zu nehmen. Da sind Szenen, in denen das Mädchen die Not und Leere mit Essen stopft, das es wieder erbricht. Voller Verachtung für den Leib, den es nicht beherrschen kann.

Nein, es ist kein schöner Film. Aber er gehört auch zu meinem Leben. Jahrelang saß ich alleine im Dunkel und habe ihn mir angeschaut. Und dann habe ich die Tür aufgestoßen und mich ein paar Menschen anvertraut. Zuerst waren es solche, die außer entsetzten Blicken nicht viel zu sagen hatten. Aber dann kamen Menschen, die mich umarmt und mir die Scham genommen haben. Und ihr wisst, was geschieht, wenn Licht auf eine Leinwand fällt: Die Bilder verlieren ihre Stärke. Und wenn die Szenen heute wieder vor mir ablaufen, erkenne ich etwas Erstaunliches: Ich sehe Jesus in dem Film.

Ich dachte lange, dass dies sicher kein Ort ist, an dem er mit mir sein will, aber – ER WAR DA! Ich spüre seine Traurigkeit über Worte, die gesprochen wurden und mich verletzt zurückließen, und ich sehe seine Tränen über all das, was nicht gesagt wurde, was Leben hervorgebracht hätte.

Ich sehe ihn in meiner türkischen Nachbarin, mit der ich mich scheu anfreundete. Sie ist eine ungewöhnliche Frau, die gegen alle Widerstände ihres Kulturkreises Medizin studiert hat und Frauenärztin wurde. Keinem anderen Menschen hätte ich mich anvertrauen können. Gott wusste das.

Ich sehe Jesus in den Stunden, die mich ins Dunkel geschleudert haben, in denen mir die Verdammnis den Atem abgeschnürt hat. Wieder und wieder hat er meine Wunden versorgt, und ich habe erlebt, dass er größer ist als mein Herz. Seine Gnade ist so viel größer. Ich liebe ihn so sehr dafür.

Und da war eine Freude, die durchbrach – eine Freude an Bewegung, am Tanzen –, und das Wissen, dass ich Gott mit meinem Körper ehren kann. Dieses Wissen muss direkt von meinem Schöpfer gekommen sein. Denn in meiner Geschichte finde ich keinen Hinweis darauf.

Und dann waren da die kleinen, gebrochenen Körper der Kinder mit Behinderung. Ihre Umarmungen waren Jesus für mich.


Ganz langsam bin ich dabei heil zu werden. Zaghafte Schritte auf einem neuen Weg. Und dabei geht es nicht darum, ein paar Kilos abzunehmen, sondern darum, meinen Körper zu achten, ihn ernst zu nehmen und ihn zu segnen.

Tara Owens schreibt in ihrem wunderbaren Buch Embracing the Body darüber und fragt:

„Reden wir über unseren Körper in einer barmherzigen oder verdammenden Weise? Wann war die letzte Predigt, die du über das Geschenk deiner Körperlichkeit gehört hast? Wer in eurer Gemeinschaft redet darüber, dass wir Gott in unserem Körper wahrnehmen können? Welche Leiterin nimmt ihre Sexualität als Berufung zur Verbundenheit an?“7

Wenn ich das lese, dann meine ich, dass wir uns in christlichen Kreisen bis heute mit unserer Körperlichkeit schwertun. Dass Sexualität oft nur auf den sexuellen Akt beschränkt wird und nicht als Teil unseres Menschseins verstanden wird. Wie sehr müssen wir die frohe Botschaft hören, dass wir uns mit allen unseren Kämpfen und dem Kaputten einfach Jesus hinhalten können, mit dem entspannten Vertrauen, dass seine Gegenwart uns schon heil machen kann.

Tara Owens schlägt in ihrem Buch den Lesern vor, eine Vase zu nehmen und sie auf dem Boden zu zerschmettern. Danach soll man die Teile einsammeln, sie anschauen und überlegen, was man daraus machen kann. Vielleicht kann man sie wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen oder ein Mosaik daraus basteln, aber vielleicht kann man die Scherben auch nur aufsammeln und in ein Gefäß tun.

Ich nahm also eine Vase (die hässlichste, die wir hatten!) und warf sie mit Wucht auf den Boden. Ein tolles Gefühl! Es gab einen Riesenkrach und die Vase zersprang in so viele Teile, dass mir sofort klar war: Das mit dem ursprünglichen Zustand wird nichts mehr. Stattdessen habe ich die Teile in einem Gefäß gesammelt und ins Regal gestellt.

Ab und zu fällt mein Blick darauf, und dann denke ich an den schrägen Film über meinen Körper und bin ein wenig traurig, zusammen mit Jesus. Wegen der Scherben und weil manches kaputtgegangen ist. Langsam kann ich mir auch vorstellen, dass ich mich irgendwann hinsetzen und ein schönes Mosaik daraus basteln werde. Es wird keine unbeschädigte Vase mehr sein, aber eine Erinnerung daran, dass Gott Scherben zusammensetzen kann. Ich glaube, daraus könnte etwas Schönes werden. Ein Symbol dafür, dass Jesus alles in uns erlösen kann. Dass er in allen dunklen Kammern und in allen schlechten Filmen am Werk ist. Und dass er jede Scherbe aufsammelt und aufbewahrt, um ein Kunstwerk daraus zu machen.

Gott ist ein großer Künstler. Alles, was er braucht, sind Menschen aus Fleisch und Blut, die ihm ihre Scherben anvertrauen. Und dann flüstert er uns zu: „Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Bring alles zu mir. Ich bin dein Schöpfer und dein Erlöser. Ich bin derjenige, der das Zerbrochene wieder zusammensetzen kann. Ich bin dabei, dich ganz heil zu machen.“

Vom Stolpern und Tanzen

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