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Frühlingswunder


Es passiert mir immer im Frühling. Jedes Jahr sage ich mir: »Dieses Mal! Dieses Mal bin ich dabei!« Ich bewaffne mich mit der Kamera und mache Bilder von den kahlen Bäumen in unserem Garten, an denen schon verheißungsvolle kleine, grüne Knöpfchen zu sehen sind. Diesmal will ich Zeuge sein, wie die Knospen sich entfalten und zu farbigen Blütenblättern werden. Ich will sehen, wie es passiert – wie in einem dieser Zeitraffer-Naturverfilmungen, in denen Kommentatoren mit dunkler Stimme Sätze sagen wie: »Früh am Morgen, bevor sich das junge Wild trifft, um zu äsen, öffnen sich die ersten Blütenblätter im Sonnenlicht.« Und Jahr für Jahr ist es dasselbe: Ich schaue einmal kurz nicht hin und schon steht er da – der Baum in seiner ganzen Blütenpracht. Als hätte der Schöpfer eine diebische Freude daran, mich mit dem Frühling zu überraschen.

In diesem Jahr hatte ich allerdings wenig Zeit, um im Garten auf der Lauer zu liegen. Mich hat viel zu sehr der Immobilienmarkt beschäftigt. Wir suchen nämlich ganz dringend eine neue Wohnung. Zum einen aus Platzmangel – das Kinderzimmer auch als Büro für Heio zu nutzen, gestaltet sich zunehmend schwierig –, zum anderen erleben wir eine schwer auszuhaltende Situation in unserem Haus (aber davon später mehr). Also sind wir auf Haussuche. Was in Stuttgart ungefähr so ist, als würde man sich ein neues, zeitraubendes Hobby zulegen. Dieses Hobby wird von so vielen Menschen in unserem Umfeld so verzweifelt betrieben, dass ich finde, man sollte anonyme Selbsthilfegruppen für Wohnungssuchende starten. Man könnte sich dort gegenseitig gestehen, dass man wieder stundenlang auf Immoscout gesurft hat und abends weinend an schönen Häusern vorbeigewankt ist, die man sich NIEMALS wird leisten können, und wie man versucht, ihre Bewohner nicht zu hassen.

Eine Haussuche ist wirklich ein Abenteuer besonderer Art. Wenn man das Glück hat, einen Besichtigungstermin zu bekommen, steht man da und reibt sich staunend die Augen: Die Fotos auf der Anzeige wurden tatsächlich hier gemacht? Dieses Bildbearbeitungsprogramm muss ich haben! Der Nebenraum entpuppt sich als Wandschrank, mit der »romantischen Atmosphäre« ist ein alter Ölofen gemeint und der »weitläufige Garten« ist ein Feldstück am anderen Ende vom Ort. Erstaunlicherweise finden sich immer verzweifelte Menschen, die den Preis nach oben treiben, um dann eine renovierungsbedürftige Vier-Zimmer-Wohnung für eine halbe Million Euro ihr Eigen nennen zu dürfen. Ich übertreibe kaum. So sieht das im Moment in Stuttgart aus.

Nach einem halben Jahr intensiver Suche und noch intensiverem Beten sind wir schon ganz schön fertig mit den Nerven. Und dann ist es wie mit den Blüten in unserem Garten: Gefühlt einmal kurz den Rücken zugedreht und plötzlich steht es da, das Wunder in seiner ganzen Pracht. Frühlingsluft! Neubeginn! Wir laufen staunend durch eine Wohnung, für die wir den Besichtigungstermin fast abgesagt hätten, weil sie so gar nicht in unser Raster passte: kein altes Häuschen. Zu weit draußen.

Und dann stehen wir im Hausgang den wunderbaren Besitzern gegenüber und ahnen, dass es passen könnte (auch sie hatten im Vorfeld dafür gebetet!). Innerhalb kürzester Zeit lösen sich alle Fragen auf: Würden die Besitzer unser Preisangebot annehmen? Würde die Bank uns einen Kredit geben und sich nicht lachend den Bauch halten angesichts unserer monatlichen Einnahmen? Wäre der Weg zur Gemeinde auch unter den 30 Minuten Fahrzeit, die wir uns als Grenze gesetzt hatten? Ja. Ja. Ja. Hier war es. Mein Wort für dieses Jahr. Ein Ja für uns. Offene Türen. Ein Wunder in Zeitraffergeschwindigkeit. Ich schaue immer wieder staunend die Fotos auf meinem Handy an, die ich bei der Wohnungsbesichtigung gemacht habe und kann es immer noch kaum fassen.

Ein ähnliches Staunen überfällt mich in diesem Frühling, wenn ich unsere Gemeinde betrachte. Die »Bilder« sind hier vielleicht weniger spektakulär als die unseres Wohnungswunders. Aber sie sind mindestens ebenso ersehnt. Ich staune darüber, wie sich diese kleine Familie, zu der ich nun schon so lange gehören darf, Sonntag für Sonntag voller Freude am Frühstückstisch versammelt – und das nach einigen Jahren, die, vorsichtig ausgedrückt, nicht so voller Freude waren. Wo auf dem Buffet vor nicht allzu langer Zeit nur ein trockener Hefezopf einsam und allein sein Dasein fristete, steht nun ein kulinarisches Festmahl, dessen Anblick meine Frühjahrsmüdigkeit auf einen Schlag vertreiben kann! Was mich zu der theologischen Erkenntnis gebracht hat, dass Gottes Wirken und gutes Essen im direkten Zusammenhang miteinander stehen (habe ich schon erwähnt, dass Essen meine Liebessprache ist?).

Aber es ist nicht nur das Buffet: Ich sehe, dass wir dabei sind zu lernen, einander im Gebet durch schwere Zeiten zu begleiten. Ich sehe, dass unsere Gemeindeversammlungen nicht mehr im Streit enden, sondern dass wir aufeinander hören und einmütige Entscheidungen treffen lernen. Ich sehe, dass wir hinter dem Rücken der anderen gut übereinander reden und wie wir alle zusammen nach dem Gottesdienst den Dreck wegräumen und dabei nicht mal schlecht gelaunt sind. Ich sehe, dass ein Alkoholiker heute nicht zur Flasche greift, obwohl er mit seiner Familie durch eine richtig schwere Zeit geht. Ach, ich sehe so vieles. Und natürlich auch so manches, was nicht gut ist. Aber das Gute überwiegt ungemein. Und ich frage mich: Wann ist das denn passiert? Das ist ein bisschen so wie in den Momenten, wenn man das eigene Kind betrachtet und fragt: »Wann, um alles in der Welt, bist du denn so groß geworden?« Wann ist aus dem kleinen anfälligen Gewächs ein Baum geworden, der den Stürmen des Lebens trotzt und aus dessen wunderlich knorrigen Ästen Jahr für Jahr kleine neue Blüten aufbrechen?

In einem Gemeindesaal sah ich einmal diesen Schriftzug an der Wand: »Ich werde meine Gemeinde bauen – und ihr werdet meine Zeugen sein.«14 Das finde ich eine wunderbare Zusammenfassung von dem, was Gott tut, und dem was wir tun. Gott wirkt seine Wunder. Er bringt Leben hervor. Und wir? Wir sind dazu berufen, Zeugen zu sein, zu berichten, was wir gesehen haben. Staunend, mit Fotoapparat in der Hand. Und jedem der es sehen will, oder auch nicht, halten wir die Fotos – Panoramabilder und Nahaufnahmen – unter die Nase und sagen: »Schau her! Unser Schöpfer, ist er nicht wunderbar?!«

Als Samuel gerade erst angefangen hatte zu laufen, da stolperte er jauchzend den Gehsteig entlang. Vor jeder kleinen Blume hat er sich niedergekniet. Jeder Autoreifen wurde ausgiebig bestaunt. Jeder Käfer durfte eine Runde über seine Handfläche laufen, bevor Samuel testete, ob dieses leuchtende Kerlchen auch schmeckte. Ich habe so viele Bilder, wie er einfach nur dasteht und staunt. Und wie oft habe ich ungeduldig an seinem Arm gezogen und bis drei gezählt, weil doch noch so viel Wichtiges zu erledigen war. Aber ab und zu habe ich mich neben ihn gekniet und mit ihm gestaunt: »Wow, wie schön! Das hätte ich fast übersehen!« Kleine Kinder haben eine grandiose Fähigkeit dafür, Zeugen zu sein. Denn – das weiß ich von meinen langjährigen Studien des »Tatort« – die besten Zeugen sind diejenigen, die genau hinschauen! Omas, die am Fenster stehen und die Straße im Blick haben. Menschen, die ganz in der Gegenwart leben, aufmerksam beobachten und das Gesicht der Verkäuferin nicht schon wieder vergessen haben, bevor sie aus dem Laden stürmen.


Jahr für Jahr bringt der Frühling für mich diese Aufforderung mit: genau hinzuschauen und Zeuge von Gottes Wundern zu werden. Den Schritt zu verlangsamen und ein bisschen Zeit zum Staunen einzuplanen. Und wie ein kleiner, dickköpfiger Dreijähriger will ich mich weigern, wenn das Leben mich zu schnell von den Wundern wegziehen will. Der Frühling erinnert mich daran, auf Gottes Hände zu achten. Er ist »FoMo« im besten Sinne: Fear Of Missing Out – die Befürchtung, etwas zu verpassen. Nicht mitzubekommen, was Gott jetzt gerade tut. Ich will gespannt in seine Richtung schauen! Das Leben kann gern schon mal ohne mich weitergehen. Und wenn es sich ungeduldig umdreht, soll es mich dabei beobachten, wie ich staunend auf die Knie gehe und rufe: »Schaut her, was unser Gott tut! Er tut Wunder! Er lässt wachsen und Leben aufbrechen aus tot geglaubter Erde. Und er schenkt Räume, in denen wir dieses Leben feiern können. Ich bin sein Zeuge!«

»Wir können Gottes Gegenwart ignorieren, niemals aber ihr entgehen. Die Welt ist voll von ihm. […] Die wahre Anstrengung ist die, gegenwärtig zu sein. Oder eher noch: zu erwachen. Oder vielmehr: wach zu bleiben.«

C. S. Lewis15

Vom Heimat finden und Himmel suchen

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