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Auf das Leben

Gestern haben wir unsere Raketen abgefeuert. Wir haben gemeinsam mit unseren Freunden das neue Jahr begrüßt, das noch so unberührt vor uns liegt wie die Schneelandschaft, die ich aus dem Fenster unserer Allgäuer Ferienwohnung sehen kann. Heute ist endlich Neuschnee gefallen, der von den zwei kleinen Mädchen der Freunde und von Samuel, unserem wilden Achtjährigen, jubelnd begrüßt wurde. Nach einem kurzen Frühstück machen wir uns auf den Weg zum großen Schlittenhang. Dort stellen wir fest, dass alle vorhandenen Schlitten bereits ausgeliehen sind. Die Freunde, die gut vorbereitet ihre Schlitten und einen Bob mitgebracht haben, laden unser Kind mit auf, und ich trotte hinter meinem Mann Heio ein Stück den Abhang hinauf, um die Wintersportler von der Seitenlinie aus anzufeuern. Unter großem Jauchzen und Jubeln sausen zuerst die Kinder, dann die Freunde an uns vorbei. Kurz darauf kommen sie wieder, dieses Mal schwitzend und mit roten Backen, Schlitten und Bob hinter sich herziehend, auf dem Weg nach oben und dann geht es wieder lachend und rufend nach unten.

Es ist wirklich kalt. So langsam gefriert mir das Lächeln im Gesicht. Ich überrede Heio, dass wir uns in der kleinen Skihütte aufwärmen.

Kurz darauf sitzen wir zwischen Wintersportlern, den Geruch von durchgeschwitzten Skisocken und Kaiserschmarrn in der Luft. Ich fühle mich plötzlich sehr alt. So als würde mein Leben in Zukunft wohl nur noch an der Seitenlinie stattfinden, während andere die Piste unsicher machen. Ich beneide die jungen Freunde, die mit ihren Kindern wie ein Rudel Welpen den Hang auf und ab tollen. Seufzend nippe ich an meinem Kaffeebecher und jammere ein wenig. Ich frage Heio, ob er denkt, dass unsere besten Jahre langsam vorbei sind. Mein kluger Mann schaut mich liebevoll an und sagt ganz sanft zu mir: »Christina, du musst ein Ja finden. Zu dem, was ist.« Und plötzlich weiß ich, dass ich mein Wort für das kommende Jahr gefunden habe.

Während andere den Jahresanfang für gute Vorsätze nutzen, suche ich mir seit einiger Zeit immer ein Wort. Einfach weil alle meine guten Vorsätze spätestens im Frühjahr dahinschmelzen und den Rest des Jahres wie trübe kleine Schneereste am Straßenrand liegenbleiben, die mich an mein Versagen erinnern. Deshalb gefiel mir die Sache mit dem Wort auf Anhieb richtig gut. Gestartet hat es vermutlich Mike Ashcraft mit seinem Buch3 und dann hat es sich über die sozialen Netzwerke verbreitet. Dort geht pünktlich zu Anfang des Jahres die Frage um: Was ist dein Wort für das neue Jahr? Ein Wort, das verheißungsvoll und gleichzeitig herausfordernd über dem neuen Jahr stehen soll. Ein Wort, das mich formt. Ein Wort zum Festhalten. Ein Wort, das man wie eine kleine Taschenlampe in die Hand gedrückt bekommt, die man einschalten kann, wann immer man sie braucht. In dieses Jahr bin ich ohne so ein Wort gestartet. Ich habe zwar angestrengt hingehört und gebetet, aber irgendwie wollte sich nichts finden lassen. Also hatte ich schon schulterzuckend gedacht, dass es dann auch ohne gehen wird. Und da kommt es doch noch zu mir. Ruhig lächelnd, aus dem Mund meines Mannes, in dieser Skihütte im Allgäu. »Du musst ein Ja finden.« Und ich wusste: Das ist es! Mein Wort! JA.

Es gab in der Vergangenheit Jahre, in denen musste ich das NEIN lernen. Das war schwierig. Und heilsam. Und ich ahne, dass die zwei Buchstaben fürs neue Jahr nicht weniger herausfordernd sein werden. Kann ich Ja sagen? Kann ich meine Hände ausstrecken und nehmen, was das Leben mir gibt? Nicht im Sinne von lethargisch alles hinnehmend, sondern wie ein Weinglas, das man ganz bewusst entgegennimmt und nach oben hält: L’chaim! Auf das Leben! Dieser hebräische Trinkspruch ist kein Toast auf die Zukunft – wie viele andere Trinksprüche –, sondern auf das, was heute ist. Auf das Jetzt und Hier.

An manchen Tagen wird das Jasagen ganz einfach sein, wenn der Geschmack meines Lebens süß und voll ist. An den Tagen aber, die bitter schmecken und an denen sich das Glas eher leer anfühlt als voll, ist das schwieriger. Und dann gibt es auch die ungenießbaren Zeiten, die mit einem furchtbaren Nachgeschmack daherkommen, die man nur in der verzweifelten Hoffnung hinunterkippen kann, dass uns nicht nachgeschenkt wird; Tage an denen das L’chaim nur schwer über die Lippen kommt. Ob ich dann auch ein Ja finden kann, weiß ich nicht. Aber heute kann ich ein bisschen üben. Auf das Leben – so wie es ist. Auf meine Narben und meine Falten. Auf meine Kraft oder die mangelnde Kraft. Auf die angefrorenen Zehen und die angefressene Seelenlage.

Und während ich so über mein Wort nachdenke, spüre ich, dass es da noch ein größeres Ja gibt. Über uns und über jedem unserer Tage liegt ein unverrückbares, ewiges Ja. In der Bibel lesen wir: »In Christus spricht Gott das Ja und das Amen« (2. Korinther 1,20). Das heißt: Ja. So ist es. Und Punkt. Wow. Es ist das Mutterherz in mir, das genau weiß, was es mit diesem Ja auf sich hat. Wenn ich auf Samuel blicke, der manchmal wirklich alles in mir herausfordert an Gefühlen, von Liebe über Wut bis zur völligen Verzweiflung, dann ist da auch immer dieses Ja. Okay, manchmal versteckt es sich so tief in mir, dass ich es in dem Moment nicht finden kann, aber ich weiß einfach: Es ist irgendwo hier drin. Nie habe ich daran auch nur den winzigsten Zweifel. Ja. Mein geliebtes Kind!

Und diese unperfekte, menschliche Liebe ist nur ein kleiner Funke aus dem gewaltigen Feuer der Liebe Gottes. Diese Liebe hat nichts mit einem kopfwippenden Wackeldackel im Heckfenster eines alten Mercedes gemeinsam. Sie ist nicht soft und um des lieben Friedens willen nachgiebig. Sondern stark und leidenschaftlich. Und glühend. Bereit, jeden Kampf mit mir aufzunehmen, um mich ins Leben zu führen. Die heilige Gegenwart. Sie hält uns fest wie eine starke Mutter. Sie sagt: Ja, mein geliebtes Kind! Jetzt. In diesem Moment. Egal, wie wir über uns denken. Ja zu dem, was hinter uns liegt. Ja zu dem, was wir heute geschafft haben oder eben nicht. Und Ja zu dem, was morgen sein wird.

Und wenn wir es nehmen als dieses an uns gerichtete Wort (das es ja tatsächlich ist!), dann wird es nach und nach wie ein Echo auch aus uns kommen. Wir werden lernen, »das Leben loszulassen, das wir geplant haben, damit wir das Leben bekommen, das auf uns wartet.«4



Ja zur beschränkten Kraft. Ja zur Müdigkeit nach der durchwachten Nacht und Ja zu vielen Tassen Kaffee. Ja zur Schlange an der Kasse. Ja zu der Aufgabe, die mich heute wirklich herausfordert. Ja zu meiner Gemeinde, so wie sie heute ist. Ja zu dem Kind, das ich in manchen Momenten gerne so anders hätte. Ja zu diesem Buch, zu jedem Kapitel das noch ungeschrieben vor mir liegt.

Ich will mein Vertrauen auf dieses alles umfassende Ja Gottes in Jesus setzen. Es wird mich verwandeln. Ja zu mir. Ja zu dir. Ich will zu einem Ja-Sager werden, im besten Sinne!

Ich trinke den letzten Schluck meines Kaffees und wir gehen wieder hinaus an die kalte Luft. Samuel kommt mir lachend entgegen: »Mama, hast du gesehen, wie schnell ich gefahren bin? Ich bin sogar geschanzt!« Er springt mich mit einer Wucht an, dass ich fast im Schnee gelandet wäre. Ich muss ebenfalls lachen. Ich ahne, dass die guten Jahre noch vor uns liegen. So ganz anders, als diese Welt uns einreden will. Gottes Güte und Barmherzigkeit werden mit den Jahren nicht zu einer tröpfelnden Quelle, die langsam leerläuft. Im Gegenteil. Ich werde immer mehr und mehr aus ihr trinken lernen. Gottes Reich ist nicht am Nachlassen. Es ist das kommende und ewige Reich, das mir lachend entgegenläuft. In diesem Vertrauen will ich den Jahreszeiten, die vor mir liegen, entgegengehen. Gott hat genug für uns.

L’chaim! Auf das Leben!


Vom Heimat finden und Himmel suchen

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