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Winterruhe

Nun sind wir wieder zurück in unserer kleinen Stadtwohnung. Heute Morgen klingelt der Wecker unbarmherzig früh. Ich wanke aus unserem Schlafzimmer, balanciere die Leiter zu Samuels Hochbett hinauf und versuche, das warme Knäuel zum Aufstehen zu bewegen. Ein tiefer Seufzer unter der Bettdecke ist die Antwort. Ich ziehe mit lautem Rattern die Rollläden nach oben – eigentlich total unsinnig, weil es draußen noch stockfinster ist. Wieso nur beginnen in Deutschland die Schulen bevor die Sonne aufgeht? Wir frühstücken müde.

Nachdem das Kind widerstrebend mit dem schweren Ranzen auf dem Rücken losgezogen ist, beginnt es ganz leicht zu schneien. Ich entscheide mich, alles noch ein bisschen liegen zu lassen, und gehe eine Runde nach draußen. Die kleinen Schneeflocken wirbeln mir wie ein Graffitiregen entgegen. Ich laufe beschwingt am Postboten und der alten Nachbarin vorbei, die schon mehrfach zu mir gesagt hat: »So, jetzt kennet se endlich wiedr schaffa ganga!« Das ist schwäbisch für: »Ihr Kind ist in der Schule, warum sitzen Sie immer noch faul und untätig zu Hause?« Eine Zeitlang hat mich das ziemlich unter Druck gesetzt. Ich habe bei meiner Rückkehr darauf geachtet, unser Gartentor heimlich und leise zu schließen, nachdem ich Samu zur Schule gebracht hatte. Ich habe vergeblich versucht, in einem Nebensatz zu erwähnen, dass ich von zu Hause aus arbeite. Irgendwann habe ich dann schulterzuckend akzeptiert, dass ich für meine Nachbarin und den Postboten die Frau bin, die in ihrer Wohnung rumhängt, Spaziergänge macht, wenn andere arbeiten, und mittags noch in Jogginghose und ungewaschenen Haaren rumläuft.


Ich mache mich also an diesem Werktag auf einen kleinen Spaziergang in entgegengesetzter Richtung zum Strom der dampfenden Autos, die alle Arbeitswilligen Richtung Stadtmitte befördern, zu dem kleinen Hügel, bei dem die Felder anfangen. Dunkle, frostige Erde liegt vor mir. Winterzeit. Der Boden ruht. Ich bin zwar keine Expertin für Landwirtschaft, aber ich weiß, dass diese Zeit für den Acker wichtig ist. Wenn man das ganze Jahr Profit machen möchte und dem Boden keine Regenerationsphase gönnt, dann erschöpft er sich und ist für lange Zeit nicht mehr zu nutzen. Ein kluger Bauer weiß das. Er setzt sich über diesen Rhythmus nicht hinweg. Sommer und Winter. Erntezeit und Regeneration. Effektivität und Ruhe. Auch wir Menschen sind in diesen Rhythmus hineingeboren. Im modernen Zeitalter können wir ihn vielleicht eine Zeitlang ignorieren. Vieles ist heute auch vorgegeben. Die Spielräume, sich die Arbeit nach den Jahreszeiten einzuteilen und eine Winterruhe zu halten, sind bei den meisten von uns begrenzt. Leider. Und trotzdem: Auch wir brauchen die Zeiten der Ruhe und Regeneration! Unser Leben findet nicht unabhängig von diesem Boden statt, der uns trägt und Nahrung gibt. Gott hat uns sogar aus dieser Erde geschaffen! Wie passend ist es da, dass das lateinische Wort für Boden (humus) denselben Wortstamm hat wie menschlich (humanus) und Demut (humilitas).

Der ruhende Boden erinnert mich an meine Geschöpflichkeit. Dass ich Pausen brauche. Und Ruhezeiten. Und es braucht Jahreszeiten und manchmal sogar ganze Lebensphasen, in denen es wichtig ist, die Dinge langsamer anzugehen. »Alles Lebendige verlangt nach einem Rhythmus der Ruhe«, schreibt der Schriftsteller und Seelsorger Wayne Muller.5 Diese Tatsache habe ich lange Zeit ignoriert. Ich dachte: Ruhezeiten sind ein Luxus, den ich mir irgendwann gönnen kann, aber heute nicht. »Ausruhen können wir auch noch im Himmel!«, war ein Spruch der Generation meiner Eltern, über den ich zwar lachen musste, der mich aber doch geprägt hat. Es war der Glaube, dass ich (wie Paulus an die Epheser schreibt6) die »Zeit auskaufen« muss, was ich so verstand, dass ich ZU JEDER ZEIT meines Lebens ALLES geben sollte, was ich habe. Irgendwann bin ich dabei zusammengekracht. Ich fand mich weinend zu Hause wieder, während alle anderen zur Arbeit gingen, und musste mithilfe einer Therapeutin die Scherben zusammensammeln, die mein ständiges Dienen-Wollen und Begrenzungen-Ignorieren hinterlassen hatten. Mir ging es wie dem erschöpften Boden: Es hat eine sehr lange Regenerationsphase gebraucht – in meinem Fall mit viel Schlaf und Vormittagen in der Jogginghose, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. In dieser Zeit habe ich gelernt, dass Paulus eigentlich geschrieben hat: »Kauft die rechte [oder günstige] Zeit aus!« Da hat dieser Vers plötzlich einen ganz anderen Klang. Es sagt mir, dass es Zeiten gibt, in denen manches sehr günstig ist und manches wiederum sehr ungünstig. Mir fällt dabei sofort die junge Mutter ein, deren Schlaf von einem schreienden Baby unterbrochen wird und sie sich deshalb müde durch ihre Tage kämpft. Was in diesen Zeiten des Lebens so günstig ist wie zu keiner anderen Zeit ist: ein Mittagsschlaf! Und Amphetamine. Okay, Kaffee müsste reichen. Günstig ist auch, mit dem schlafenden Baby spazieren zu gehen, andere müde Mamas wissend und liebevoll anzulächeln und ab und zu dieses kleine Wesen an sich zu drücken und zu staunen und dabei zu sein, wenn es seine vielen ersten Male erlebt. DAS nenne ich die Zeit auskaufen. Und fast alles andere ist in dieser Zeit sehr ungünstig! Und wenn uns äußere Umstände oder unser Körper zur Ruhe anhält, dann dürfen wir das als liebevolle und nachdrückliche Einladung verstehen, den Griff aufs Leben ein bisschen zu lockern und völlig ineffektiv unsere Tage zu verbringen – auch unter den entrüsteten Blicken der Nachbarn.

»Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und für jedes Vorhaben unter dem Himmel gibt es eine Zeit«7, schrieb schon der kluge König Salomo. Erntearbeit im Winter ist ungünstig. Und zur Erntezeit den Winterschlaf einzulegen, ist auch nicht besonders günstig. Die Abschnitte werden kommen, in denen wir das Tempo beschleunigen müssen. Jahreszeiten, die uns einiges an Kraft abverlangen werden, in denen wir Feste vorbereiten und die Nächte kürzer werden und Projekte in Angriff genommen werden können. Jetzt aber ist noch Winterzeit. Ich will in dem ruhigen Wissen starten, dass alles schon da ist, was wir brauchen. Und dass wir geliebt sind. Und genügen. So wie wir sind.

Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gottes Reich in unserem Leben aufgeht wie eine still wachsende Saat, gerade auch in den Zeiten, in denen wir nichts leisten (können) und von außen betrachtet scheinbar nichts geschieht. Die Natur lehrt uns, dass die Saat eine Zeit der Ruhe und Inaktivität braucht, bevor sie sich, zur günstigen Zeit, mit maximierter Kraft entfalten kann. Dann können die Wurzeln tief in den Boden wachsen, aus dem in den kommenden Jahreszeiten wichtige Nährstoffe gezogen werden. Ein Vertrauen auf dieses innere Wachstum drückt sich im Still-Halten aus – und im Lieben-Lassen.

Ich muss dabei an meinen liebsten Moment des Tages denken: Wenn Samuel sich neben mich auf das Sofa kuschelt. Es ist ein zerbrechlicher Moment. Innerlich fürchte ich immer, dass der wilde Kerl sich gleich wieder aus der Umarmung windet, um sein Autoquartett zu suchen oder etwas anderes Wichtiges zu erledigen. Er ahnt nicht, wie glücklich mich diese Momente machen, in denen er einfach stillhält und sich liebhaben lässt. Wir ahnen nicht, wie sehr wir Gott (und uns selbst!) mit unserem Still-Halten und Lieben-Lassen beschenken! Mein Herz tut sich oft schwer damit, das zu glauben. Aber ganz langsam, mit dem Kreislauf der Jahre, lerne ich es: Still-halten. Lieb-haben-lassen. Ich will die ruhige Zeiten nicht nur widerstrebend aushalten, sondern freudig begrüßen. Ich will nicht dem nörgelnden Nachbarn vor der Tür nachgeben und auch nicht den vorwurfsvollen Antreibern in mir. Die Erde ist auch zum Ausruhen da! Ein JA zum Liegen-Lassen und zum Lieben-Lassen! Ein JA zu unseren Begrenzungen! Ein JA zu Vormittagen in Jogginghosen! Halten wir mit unserem Ausruhen eine Welt fest, die kaum mehr in der Lage ist stillzuhalten, und flüstern ihr zu: »Es ist gut! Wir müssen einander nichts beweisen. Wir sind unendlich geliebt!«

Auf die Ruhe! Auf die günstige Zeit des Nichtstuns! Und auf all das, was so ganz ohne unser Zutun geschehen wird.



»Wer ruht, gibt der Liebe Lebensraum.«

Tomas Sjödin8

Vom Heimat finden und Himmel suchen

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