Читать книгу Primary Nursing in der ambulanten Langzeitpflege - Christine Bretbacher - Страница 12

1.1 Pflegeökonomischer Hintergrund

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Bereits seit mehreren Jahren informieren medienwirksame Berichte die Gesellschaft über künftige Herausforderungen in der Bewältigung und Finanzierung der Langzeitpflege in Österreich. Grund dafür ist ein steigendes Alter der Bevölkerung unter der Annahme, dass ältere Menschen auch abhängiger in der Versorgung und damit pflegebedürftiger sind (Firgo & Famira-Mühlberger 2014a).

Gerade in der ambulanten Langzeitpflege ist das Pflegesystem in den letzten Jahren zunehmend in Bedrängnis gekommen. Unter dem Blickwinkel der aktuellen demografischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Österreich, die einerseits einen steigendem Bedarf an Pflegedienstleistungen mit sich bringt und andererseits einen noch weiter zunehmendem Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal erwarten lässt, braucht es neben politischen Programmen auch einen Blick auf die pflegerische Arbeitsorganisation (Bachner et al. 2018). Der fiskalpolitische Druck auf die Systeme der sozialen Sicherung hat im letzten Jahrzehnt unter anderem auch zu einem Umbruch in der Personalzusammensetzung und zu vermehrtem Einsatz eines erweiterten Berufsgruppenmix geführt (Rappold & Juraszovich 2019) ( Abb. 1).

Eine überwiegende Delegation von Pflegetätigkeiten und Tätigkeiten der medizinischen Diagnostik und Therapie an die Unterstützungsberufe, auch in komplexen pflegerischen Versorgungssituationen, sind die Folge. Diese bisweilen starke Fragmentierung der pflegerischen Arbeitsprozesse mit zunehmender Funktionalisierung der Pflege führte zur Beobachtung, dass nicht mehr klar ist, welche Pflegeperson für die Pflege per se verantwortlich ist (Gesundheit Österreich GmbH, Geschäftsbereich ÖBIG 2007; Mischo-Kelling 2007b; Rogner 2018). Künftig wird die Personaleinsatzplanung in der ambulanten Pflege und Betreuung durch die Möglichkeit des Einsatzes der Pflegefachassistenz komplexer werden mit der Schwierigkeit, pflegeökonomische Aspekte und qualitative Anforderungen gleichermaßen zu erfüllen (Bretbacher 2017).

Abb. 1: Berufsgruppenmix in der geriatrischen Langzeitpflege (modifiziert nach Rappold & Juraszovich 2019)

Im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Studienautorin in der ambulanten Pflege und Betreuung eines großen Pflegedienstes interessieren die Auswirkungen der Pflegeorganisationsform Primary Nursing aus der pflegeökonomischen Perspektive. Im Mittelpunkt der vorliegenden Pilotstudie steht das Pflegesystem Primary Nursing für die ambulante Langzeitpflege. Dieses Pflegesystem wurde seit 2012 im Pflegedienst sukzessive für die mobile Pflegepraxis konzipiert und für die Umsetzung vorbereitet.

Nunmehr interessiert, wie sich das Pflegesystem Primary Nursing auf die pflegerische Versorgungsqualität, im Besonderen auf den funktionellen Gesundheitszustand und auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität von zu Hause lebenden älteren Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf auswirkt. Denn gemäß den »Richtlinien zur Förderung professioneller sozialer Dienste in Oberösterreich für Hauskrankenpflege und mobile Betreuung und Hilfe« besteht der Auftrag an die Pflegedienstleister dahingehend, […] »hilfs- und betreuungsbedürftigen Menschen zu ermöglichen, bei Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit bzw. einem erkennbaren Vorstadium der Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit und ähnlichen Notlagen durch Inanspruchnahme einer fachlichen, situationsgerechten und individuellen Hilfe eine selbstständige Lebensführung aufrecht zu halten oder (wieder) zu erlangen, um dadurch so lange wie möglich im eigenen Haushalt – und somit in der gewohnten Umgebung – bleiben zu können« (Amt der OÖ Landesregierung 2006, S. 3).

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich Primary Nursing aufgrund seiner hohen Beziehungsorientierung auf die Pflegeausgaben auswirkt. Denn [d]ie Anbieterorganisationen haben die eingesetzten Ressourcen so zu organisieren, dass sowohl die Wirkung bei(m) Kunden/der Kundin als auch die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung den Zielvereinbarungen mit den Regionalen Trägern Sozialer Hilfe bestmöglich […] nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit« entspricht (Amt der OÖ Landesregierung 2006, S. 8).

Das Studium von vielen Fachbüchern und einschlägigen Publikationen weckte das Interesse der Studienautorin, mit Primary Nursing die Pflege durch eine primärverantwortliche Pflegeperson so zu organisieren, dass die Verantwortung für die Pflege einer pflegebedürftigen Person transparent wird. Jede diplomierte Pflegeperson sollte ausreichend fachliche und organisatorische Möglichkeiten haben, professionelle Pflegebeziehungen zu den Pflegebedürftigen aufbauen zu können, um sie umfassend und individuell pflegen und betreuen zu können, auch wenn sie die Pflege überwiegend nicht selber durchführen kann (Manthey 2011).

Rogner kam in einer qualitativen Studie über die theoretische Machbarkeit von Primary Nursing in der ambulanten Langzeitpflege theoretisch zu dem Ergebnis, dass das Pflegesystem unter den gegebenen Rahmenbedingungen grundsätzlich umsetzbar ist und empfahl desgleichen, einen Standard zu entwickeln, wie das Pflegesystem in der Praxis Anwendung finden kann (Rogner 2009). Primary Nursing konnte ursprünglich im angloamerikanischen Raum in einer Notsituation im Zusammenhang mit knappen personellen und ökonomischen Ressourcen einen wesentlichen Beitrag zur Besserung der Situation leisten (Maria Mischo-Kelling 2007b). 2013 wurde im zu untersuchenden Pflegedienst eine Studienarbeit durchgeführt mit der Fragestellung, ob Primary Nursing nach dem Verständnis von Marie Manthey in der Organisation bei gegebenen Rahmenbedingungen auch praktisch umsetzbar ist. In einer umfassenden Auseinandersetzung mit internationaler Literatur wurde herausgearbeitet, wie deren Kernkriterien für die ambulante Pflegepraxis konkret anwendbar gemacht werden können (Bretbacher & Lechner 2017).

Ziel und Nutzen der wissenschaftlichen Abhandlung ist es, Primary Nursing als Pflegesystem in zunehmend arbeitsteiligen und funktionalen Prozessen einer eingehenderen Betrachtung hinsichtlich seiner pflegeökonomischen Auswirkungen zu unterziehen. Es interessiert primär, ob bessere pflegerische Ergebnisse als in der herkömmlichen Pflegeorganisation erzielt werden können und welche Auswirkungen auf die Pflegeausgaben erkennbar sind. Die Ergebnisse sollen einerseits Pflegediensten Denkanstöße liefern, ob es lohnenswert ist, eine über die Jahre gewachsene Struktur in der Arbeitsorganisation, die mittlerweile die Grenzen im Hinblick auf die Attraktivität des Arbeitsfeldes aufgrund zunehmender Funktionalisierung deutlich aufzeigt, an der Basis zu verändern und anzupassen. Andererseits soll die Aufmerksamkeit der Kostenträger und der Pflegedienstleister neben den Pflegeausgaben auch auf allfällige Nutzenaspekte gelenkt werden.

Zur pflegeökonomischen Annäherung an das Themenfeld fiel die Wahl methodisch auf ein quantitatives Forschungsdesign. Es wird eine quasi-experimentelle Längsschnittstudie angelegt, die zwei Untersuchungsgruppen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten miteinander vergleicht. Im Rahmen der Dissertation wurde das Pflegesystem Primary Nursing 2017 in drei Bezirken des Pflegedienstes anhand eines eigens für die ambulante Pflege entwickelten Praxisstandards implementiert. Die Operationalisierung der pflegerischen Outcomes erfolgte auf Basis der Selbständigkeit in den Basisaktivitäten des täglichen Lebens und der subjektiv empfundenen, gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Für die gesundheitsökonomische Evaluation wurden Leistungszeiten und Hausbesuche sowie der genormte Leistungspreis je Stunde direkter Pflegearbeit für ambulante Pflege und Betreuung herangezogen.

Das OÖ Rote Kreuz ist mit einem Marktanteil von über 50 % der größte Anbieter ambulanter Pflege und Betreuung unter den Non-Profit-Organisationen in Österreich. Einer Erhebung des Institutes für interdisziplinäre Non-Profit-Forschung der Wirtschaftsuniversität Wien im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt zufolge hat das Österreichische Rote Kreuz sowohl in der Hauskrankenpflege als auch in der mobilen Betreuung und Hilfe die höchsten Marktanteile an Vollzeitäquivalenten vor Caritas, Volkshilfe, Hilfswerk, anderen Einrichtungen der öffentlichen Hand sowie einigen weiteren kleineren Pflegedienstleistern im Non-Profit-Sektor (Simsa et al. 2004).

Zielgruppe der Untersuchung waren Personen ab dem 60. Lebensjahr mit Pflege- und Betreuungsbedarf, die in ihrer eigenen Häuslichkeit wohnhaft waren und im Untersuchungszeitraum in der ambulanten Pflege und Betreuung im Pilotprojekt versorgt wurden. In den Bezirken Braunau, Kirchdorf/Krems, Wels und Perg wurde Primary Nursing implementiert. Diese Bezirke wurden mit drei Bezirken mit herkömmlicher Pflegeorganisation mit Bezirks- oder Tourenpflege verglichen.

Als herausfordernd sollte sich die Tatsache erweisen, dass bislang in Österreich noch kaum pflegerische Routinedaten in elektronischer Form in der ambulanten Pflege erhoben werden. Die notwendigen Daten müssen in einem separaten Erhebungsverfahren erhoben und dokumentiert werden. Damit könnten sich Probleme mit dem Datenrücklauf sowie ein erhöhter organisatorischer Aufwand ergeben. Erwartet wird durch Primary Nursing ein höherer pflegerischer Outcome aufgrund der Transparenz für die Verantwortung für den Pflegeprozess als pflegerische Kernkompetenz gemäß § 14 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz. Die möglicherweise höheren Kosten für diplomiertes Pflegepersonal müssen in einem positiven Verhältnis zum Outcome stehen.

Es braucht Denk- und Handlungsansätze, die eine Weiterentwicklung der geriatrischen pflegerischen Langzeitversorgung ermöglichen und die auch eine Überprüfung der Wirksamkeit erlauben. Tendenziell sind in den letzten Jahren nicht mehr ausschließlich Kostenaspekte ausschlaggebend. Vielmehr rücken Wirksamkeitsparameter auch in Österreich in den Blickwinkel der Betrachter (Merz-Staerkle et al. 2013; Rothgang 2018 online). Es zeigt sich trotz aller Komplexität der Gesundheitsversorgung, deren Bestandteil auch die ambulante Langzeitpflege ist, wie unmittelbar sich die Veränderung von Rahmenbedingungen auf die Menschen im Einzelnen auswirkt (Ostermann 2017). Wirtschaftlichkeit in der Pflege darf nicht als Gegensatz zu Qualität und Wirksamkeit verstanden werden. Effizienz erzielen zu wollen, darf sich nicht zwangsläufig nur auf Kosten- oder Ausgabensenkung beschränken. Vielmehr sollen Prozesse und Abläufe unter die Lupe genommen werden, um vorhandene Ressourcen so einzusetzen, dass sich der Wert und die Qualität der Pflege für pflegebedürftige Menschen optimieren lässt (Haber 2017).

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