Читать книгу Wer will schon eine Null - Christine Corbeau - Страница 15
ОглавлениеRoad to nowhere
ie heißt es doch so schön? Wenn du für etwas das Wort ‘eigentlich’ benutzt, dann kannst du es eigentlich auch gleich lassen.
Wie wahr.
Eigentlich ließ sich diese fahrende Schrankwand von mir erstaunlich einfach selbst um enge Kurven bewegen.
Eigentlich hielten viele der anderen Verkehrsteilnehmer sogar freiwillig Abstand zu uns – vielleicht, weil sie Angst hatten, vom orangefarbenen Blechkleid geblendet zu werden, wenn sie zu nahe kamen.
Ja, und eigentlich hättest du vor dem Losfahren wohl besser ins Navi einprogrammieren sollen, wo es überhaupt hingeht, anstatt einen auf ‘Katharina die Große’ zu machen.
So aber befand ich mich mitten in dem, für meine Begriffe, völlig chaotischen Verkehrsfluss am Flughafen von Neapel, der mich irgendwo hinbringen würde. Nur wahrscheinlich nicht dorthin, wo ich sein wollte … durfte … musste.
Zum Glück fand ich nach einiger Kurverei den Parkplatz einer Fastfood-Kette meines Vertrauens. Dort angekommen besorgte ich mir etwas zu trinken für die Fahrt. Wieder zurück im Wagen, kramte ich noch einmal die Hotelunterlagen heraus und gab die Adresse ins Navi ein.
»Calcolo dell’ itinerario in corso«, erscholl die Stimme einer für eine Italienerin erstaunlich unaufgeregten weiblichen Person aus einem Lautsprecher irgendwo in den Tiefen des Innenraums. Man konnte sich glatt eine ‘Susi Sorglos’ vorstellen, die, hinter einer Klappe verborgen, herumsaß und ihre Anweisungen verlas. Platz genug dafür wäre vorhanden.
Wenn du es sagst, ging es mir durch den Kopf, während ich den Bildschirm beobachtete.
Nach einigen Gedenksekunden zeigte mir das Display eine Auswahl von Routen an. Ich wählte kurzerhand eine davon aus, da es mir egal war, ob die eine vielleicht länger und die andere schöner war. Ich wollte langsam nur noch ankommen. Als mein Blick dann aber auf die Routeninformationen fiel, stutzte ich.
Warum ist dieses Ding der Meinung, für schlappe 250 Kilometer ganze dreieinhalb Stunden zu brauchen? Im Überblick sieht die Route fast schnurgerade aus. Das kann doch nicht angehen.
Aber egal, ob die große Meisterin der Navigation sich nun geirrt hatte oder nicht. Wenn ich nicht losfuhr, würde ich gar nicht ankommen. Also gab ich meinem überdimensionalen Pferdchen die elektrischen Sporen und flutschte vom Parkplatz wieder in den Verkehrsstrom.
Wir fuhren den Weg, den ich gekommen war, nicht wieder zurück. Das beruhigte mich ein wenig, denn ich hatte schon vermutet, dass ich instinktiv einen Weg gewählt hätte, der mich weiter von meinem Ziel entfernen würde.
Nach einem Weilchen, in dem wir nur dem Straßenverlauf gefolgt waren, meldete Susi sich wieder. »Tra trecento metri svoltare sinistra sulla strada statale cento sessanta due in direzione Acerra.«
‘Strada statale’ hörte sich schon einmal gut an. Das klang nach etwas, das in Deutschland wohl eine Bundesstraße wäre. Trotzdem hatte ich ein Problem. ‘Sinistra’ bedeutete ‘links’, wenn ich mich recht erinnerte. Jetzt blieb immer noch eine Frage: Wo war nochmal dieses ‘links’? Meine Mitfahrer hatten es sich inzwischen angewöhnt, möglichst auffällig in die Richtung zu zeigen, in die es gehen sollte, aber Susi hatte keine Arme. Voller Hoffnung bog ich an der nächsten Ecke ab.
Susi bedachte mich daraufhin mit: »Se possibile effettuare un inversione.«
Okay, das war dann wohl falsch.
Dummerweise fuhr ich nun auf einer mehrspurigen Straße, auf der sich die Autos fast schon stapelten. Und alle Möglichkeiten, umzudrehen, befanden sich zwei Spuren weiter.
»Se possibile effettuare un inversione«, erinnerte mich Susi.
Ja doch.
Ich blickte in den Außenspiegel, konnte aber nirgendwo auch nur die kleinste Lücke in der Blechlawine entdecken. Die Karawane zog weiter und ich mit ihr.
»Se possibile effettuare un inversione«, beharrte Susi stoisch.
Ich hab dich schon beim ersten Mal verstanden.
Hektisch versuchte ich, auf meiner Seite der Straße eine Einmündung zu entdecken, wo ich abbiegen und dann vielleicht wenden könnte.
»Se possibile effettuare …«, begann Susi, aber den Rest hörte ich nicht mehr.
Mit einem frustrierten Aufschrei setzte ich den Blinker, schlug das Lenkrad ein und gab Gas … nein Strom.
Und dann geschah das Wunder.
Ohne dass erkennbar gewesen wäre, wie es dazu kam, bildete sich hinter und neben mir eine Schneise, durch die wir unbeschadet die nächste Wendemöglichkeit erreichten.
Aha, die italienischen Autofahrer reagieren auf Schenkeldruck. Damit kann ich arbeiten.
Dank meines neu erwachten automobilen Selbstbewusstseins und vermutlich auch der schieren Präsenz des orangefarbenen Monsters wurden die innerstädtischen Kilometer zu einer reinen Formsache, die sogar begann, mir Spaß zu machen.
Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist … Genau: Musik. Warum ist mir das vorher nicht aufgefallen?
Aber nun, wo ich es bemerkt hatte, vermisste ich die Untermalung. Allerdings traute ich mich nicht, während der Fahrt nach einem Radio zu suchen.
Dann muss ich eben bis zum nächsten Rastplatz aushalten.
Doch dieser Moment ließ noch eine ganze Weile auf sich warten. Susi bemühte sich zwar, mich schnellstmöglich aus der Stadt zu lotsen, ignorierte dabei allerdings konsequent sämtliche Hinweise auf Autostradas, an denen wir vorbeikamen.
Gibt es da, wo ich hinsoll, vielleicht nicht mal eine Autobahn?
Das erklärte natürlich die errechnete Fahrtzeit, aber so richtig konnte ich mich nicht damit abfinden. Und der Wunsch nach einem Soundtrack für meine Reise wurde immer größer, sodass ich schließlich einfach an einer Bushaltestelle rechts ranfuhr und anhielt. Ich tippte auf das Radiosymbol der Audioanlage und wurde sofort mit einer Melodie aus Vivaldis ‘Vier Jahreszeiten’ begrüßt. Der letzte Fahrer dieses Wagens war anscheinend über 70 gewesen. Kein Problem, es gab ja schließlich noch andere Sender. Ich blickte kurz in den Rückspiegel, um zu prüfen, ob sich vielleicht ein Bus näherte, aber da nichts zu sehen war, vertiefte ich mich in die Suche nach etwas, das mir die Fahrt versüßen würde.
Unverständliches Geschrei, flankiert von kreischenden Gitarren …
Danke, ich brauche meine Ohren noch.
Dröhnende Bässe, gepaart mit nuschelndem Sprechgesang …
Ohne was zum Rauchen nicht genießbar.
Uffz, uffz, uffz, uffz, kombiniert mit psychedelischem Gedudel …
Im Club in Ordnung, aber nicht beim Autofahren.
Italienisches Geschnulze …
Verdammt, hier muss doch irgendwo etwas Genießbares … Moment, ich kann ja einfach mit dem Smartphone Musik machen.
Schnell hatte ich es aus der Tasche gefischt und Spotify aufgerufen. Die hatten bestimmt eine passende Playlist zu meinem Roadtrip.
Doch ich hatte die Rechnung ohne den Gott der Technik gemacht.
‘Du bist offline’, vermeldete die App und schlug mir vor, doch eine Internetverbindung herzustellen, um auf die Startseite zugreifen zu können.
»Du bist ja lustig. Und wie mache ich das?«, platzte ich heraus, erhielt aber selbstverständlich keine Antwort.
Na gut, aber die App funktioniert ja auch ohne Internet, wenn man vorher Musik heruntergeladen hat.
Hoffnungsvoll wechselte ich zur Bibliothek, obwohl ich mich nicht mehr erinnern konnte, ob ich jemals etwas lokal abgespeichert hatte.
Der Inhalt überraschte mich nicht wenig. Dort befand sich nicht nur eine ganze Reihe von Playlists, sondern diese waren auch noch mit so abwegigen Titeln wie ‘Cycling’ und ‘Gym’ beschriftet. Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte Zinos Handy, so, wie er meins hatte. Wir waren ja nicht mehr dazu gekommen, die Geräte zu tauschen.
Verdammt. Das heißt ja außerdem …
Schnell schloss ich die App und wischte durch den Inhalt des Smartphones. Je weiter ich kam, umso mehr machte sich Ernüchterung in mir breit. Zino hatte keine einzige der für mich essenziellen Apps auf seinem Telefon gespeichert. Auch fehlten natürlich sämtliche meiner Kontakte, von den Zugangsdaten zu irgendwelchen sozialen Netzwerken ganz zu schweigen.
Die Wucht, mit der mir bewusst wurde, dass ich, vollkommen abgeschnitten von der Welt, auf dem Weg ins Nirgendwo war, traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich sackte auf dem Fahrersitz zusammen und ließ meinen Kopf auf das Lenkrad sinken.
Wie lange ich so dagesessen habe, weiß ich nicht, aber schließlich legte sich der Panikanfall.
Okay, ich bin also fast komplett ohne Netz. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass ich tatsächlich so etwas wie Urlaub machen könnte, wenn ich es schaffe, mich darauf einzulassen.
Erstaunlicherweise gefiel mir diese Aussicht ganz gut.
Mit neu erwachtem Elan machte ich mich daran, nun endlich für Musik zu sorgen. Ich durchsuchte Zinos Bibliothek weiter, entschied mich für eine Liste, die mit ‘Feelin’ Good’ betitelt war, verband das Telefon mit der Audioanlage und startete.
Johnny Nash begann zu singen und erklärte mir, dass er nun wieder klar sehen könnte, weil der Regen verschwunden wäre. Ich musste unwillkürlich lachen.
Ja, so kann es weitergehen.
Selbst wenn viele unserer Freunde über diesen Musikgeschmack den Kopf schüttelten, standen Zino und ich neben Jazz auch auf die Klassiker aus den sechziger und siebziger Jahren. Es war eines der Dinge, die wir im Prinzip mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Mamma und Mario waren glühende Fans dieser Ära. Sie hatten sich auf einem Festival zum ersten Mal getroffen und die Liebe zur Musik war einer der Grundsteine ihrer Beziehung gewesen. Soweit ich mich zurückerinnern konnte, hatte bei uns zu Hause entweder das Radio oder die Stereoanlage einen Song von Marvin Gaye & Co. gespielt. Für mich war das Hören dieser Musik immer wie eine Zeitreise in die unbeschwerten Tage, als ich noch glaubte, nichts könnte unsere Familie trennen.
Um den Wagen wieder aus der Haltebucht zu steuern, schaute ich in den Rückspiegel und erschrak.
Halb hinter mir und halb noch auf der Straße stehend hatte sich ein Bus ebenfalls in den Haltestellenbereich gequetscht und die Fahrgäste waren gerade dabei einzusteigen. Dafür mussten sie allerdings zuerst auf die Straße treten, da der Bus nicht richtig an die Haltestelle herangekommen war. In Berlin hätten mich entweder die Passagiere maßgenommen oder ich wäre spätestens vom Busfahrer einen Kopf kürzer gemacht worden. Lag das an der grundsätzlich entspannteren Einstellung der Leute hier? Oder vermuteten sie in dem auffälligen und auffällig falsch geparkten SUV mit getönten Scheiben einen Mafioso? Wie auch immer es sich nun verhielt, ich wollte die Geduld der Leute nicht weiter auf die Probe stellen und fuhr los.
Neapel hatten wir schnell hinter uns gelassen. Sogar eine Autobahn fand Susi. Kurz danach wies sie mich allerdings an, sie wieder zu verlassen.
Sie muss es ja wissen.
Etwa eine Stunde später erreichten wir nahe Arienzo die gut ausgebaute Strada statale 7, auf der außer mir kein weiteres Auto zu sehen war. Die ausgezeichnete Playlist mit ihren Oldies trug dazu bei, dass ich mich entspannte, und begann, die Fahrt wirklich zu genießen.
»Boooorn to be wiiiiiiiiild«, sang ich aus voller Kehle, als mein Blick auf die, für einen so sportlichen Wagen erstaunlich unspektakuläre, Geschwindigkeitsanzeige fiel und mir weitere Worte im Hals steckenblieben.
Diese wechselte im Moment von 199 auf 200 und machte dort auch nicht halt. Noch während ich fassungslos auf die Anzeige starrte und Steppenwolf im Hintergrund davon sangen, dass sie geboren wären, um wild zu sein, und niemals sterben wollten, war sie schon bei 210 angelangt.
Ich riss meinen Fuß vom Gaspedal und trat auf die Bremse, sodass im Armaturenbrett diverse Anzeigen hektisch zu flackern begannen und der Wagen schlingernd zum Stehen kam.
Puh, noch einmal gut gegangen.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn.
Ein Blick in den Rückspiegel belehrte mich eines Besseren.