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Nach Canossa

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ls ich vor das aufwendig restaurierte, neugotische Mietshaus trat, in dem mein Bruder residierte, schien mir die Sonne durch das inzwischen zart grünende Blätterdach der Straßenbäume ins Gesicht. Prächtig. Endlich wurde es wirklich Frühling und damit Zeit, mal wieder ‘oben ohne’ unterwegs zu sein. Zum Fahren allerdings würde ich ein Auto brauchen.

Wo habe ich Emmy gestern Abend nur abgestellt?

Mein Blick huschte verzweifelt nach links und rechts auf der Suche nach dem süßen grünen Schnuckelchen, das ich seit der Befreiung von Herrn Schröder mein Eigen nannte.

Wenn es doch bloß eine App dafür gäbe.

Die gab es zwar tatsächlich, aber Emmy war leider zu betagt, um solchen technischen Schnickschnack zu unterstützen.

Also doch auf die altmodische Art und Weise.

Ich drückte auf den Knopf an meinem Zündschlüssel und siehe da, ein Stück zu meiner Rechten, fast hinter einer Linde verborgen, flammte ein Blinklicht auf und wies mir den Weg. Kein Wunder, dass ich Emmy übersehen hatte. Ihr grünes Blechkleid passte sich wunderbar in die Farbenpracht der Umgebung ein, auch wenn es eher einer Tanne ähnelte. Aber natürlich bereute ich die Wahl meines fahrbaren Untersatzes nicht, selbst wenn ich wegen Emmys veralteter Technik möglicherweise zu spät zu meinem Termin kommen würde. Der MG war ein echter britischer Klassiker und die gehören nun mal in ‘british racing green’.

Ganz in der Nähe schlug die Kirchturmuhr einmal.

Ich fuhr zusammen.

Verdammt, nur noch eine halbe Stunde. Warum bin ich heute bloß so abgelenkt? Ach ja, der Restalkohol.


Hastig lief ich zu meinem Wagen, warf mich samt Handtasche hinein und startete den Motor. Auf das Öffnen des Daches verzichtete ich trotz des schönen Wetters. Ich hatte weder die Ruhe noch die Zeit dazu, die unzähligen Handgriffe durchzuführen, die notwendig waren, um aus dem Roadster ein Cabrio zu machen. Zum Glück war mir der Gott des Verkehrs wohlgesonnen, denn ich schaffte es in rekordverdächtigen 25 Minuten, zum Verlag zu gelangen.

Durch meine Pünktlichkeit wieder etwas zuversichtlicher, hüpfte ich die fünf Stufen zum Eingang des Verlagsgebäudes hinauf und stieg in den Lift, der mich in die vierte Etage brachte. Als sich die Tür der Kabine öffnete, wurde ich bereits von der imposanten Gestalt der Assistentin der Geschäftsleitung erwartet.

Liegt es nur an meinem schlechten Gewissen oder hat sie schon immer wie Professor McGonagall ausgesehen?

»Wie schön, dass es Ihnen, anders als beim letzten Lektorat, gelungen ist, diesmal den Termin einzuhalten«, begrüßte sie mich in ihrer üblichen gradlinigen Art, jedoch mit einem Gesichtsausdruck, der mir an ihr bisher noch nicht aufgefallen war.

»Hallo, Frau Krause. Ähm, was meinen …«

»Gehen Sie besser schnell rein zu ihm. Dann haben Sie es hinter sich«, unterbrach sie mich und schritt voraus, eine herbe Wolke ‘CK one’ zurücklassend.

Okay, das hört sich problematisch an.

Meine gute Laune verflog und der Elan, der mich eben noch angetrieben hatte, verebbte ebenfalls. Mit eingezogenem Kopf schlich ich durch die von der Assistentin offen gehaltene Tür ins Allerheiligste. Frau Krause warf mir dabei einen Blick zu, den ich erneut nicht so recht zu deuten wusste. War sie erschüttert? Oder musste sie sich daran hindern in Gelächter auszubrechen?

Kaum war ich drin, nickte sie mir noch einmal in einer Art und Weise zu, die wohl bekräftigend wirken sollte, und schloss die Tür hinter mir.

Angespannt ging ich über den hochwertig aussehenden Orientteppich auf Herwarth Stein zu. Mit dem Rücken zu mir stand er hinter seinem Schreibtisch, sah aus dem Fenster und schien in Gedanken versunken. Als ich an den Stühlen angelangt war, die vor dem antiken, aus Ebenholz gefertigten Tisch aufgestellt worden waren, zögerte ich.

Soll ich mich setzen oder lieber nicht? Was wird in so einer Situation wohl von der Delinquentin erwartet?

Da ich das Gefühl hatte, mir nur aussuchen zu können, wie ich es falsch machte, probierte ich es mit einem zaghaften Räuspern.

Wenn Zino mich so sähe, würde er wahrscheinlich umfallen vor Lachen.

Keine Reaktion.

»Ähm, Herr Stein«, setzte ich erneut an, wurde aber durch eine abrupte Bewegung seiner linken Hand gestoppt.

»Hm«, machte er, ohne sich umzudrehen. »Hm-hm-hm.«

In meinem Kopf überschlugen sich Bilder, von denen kein einziges eine tröstliche Vision darstellte. Zerrissene Verträge, Umsatzanzeigen mit ganz vielen Nullen darauf.

Verdammt, schon wieder Nullen. Wird mich dieser eine Fehltritt von jetzt an verfolgen?

Endlich kam Bewegung in meinen Verleger. Er wandte mir seinen Kopf halb zu und sagte: »Nullendompteure, wie? Wispertaunus?«

Ich hob die Hände in einer Geste, die der Hilflosigkeit darüber entsprach, was der Wein gestern Abend in mir zum Vorschein gebracht hatte. Dann schaute ich ihn in banger Erwartung an.

»Herr Stein, Sie müssen wissen, dass …«

Nachdem er mir während meines Gestammels erneut den Rücken zugewandt hatte, drehte der Verleger sich nun vollends zu mir um.

Ich stutzte.

Habe ich das eben richtig gesehen? Das war doch ein Lächeln in Steins Gesicht, das sich in der Scheibe gespiegelt hat. Oder spielt mir nur das Wunschdenken einen Streich?

Angesichts des Ausdrucks auf meinem Gesicht, brach er in ein volltönendes Gelächter aus. Er schritt zu seinem Chefsessel, ließ sich dort nieder und bot auch mir huldvoll einen Stuhl an.

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Finocchio«, sagte er in seinem angenehmen Bariton und hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe Sie in die Irre geführt, denn wenn wir ehrlich sind, haben Sie mir eine vortreffliche Vorlage dafür geliefert.«

Mein Unterkiefer klappte hinunter, aber mir fehlten noch immer die Worte. Also nickte ich nur.

»Tatsächlich bin ich im tiefsten Grunde meines Herzens Ihrer Meinung. Nur kann ich es mir im Sinne des Verlages nicht leisten, dies öffentlich zur Schau zu tragen. Immerhin verschlingt ein Großteil unserer Klientel gerade diese Art von Geschichten, sodass zu befürchten ist, dass sie Ihre Einlassungen als Affront empfinden würden.«

»Da haben Sie vermutlich recht«, krächzte ich mit einer Stimme, die nicht mir zu gehören schien.

Er fixierte mich mit seinem Blick.

»Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, hätten auch Sie besser daran getan, es zu lassen.«

»Ja, das stimmt natürlich. Es war nur …«

»Und deshalb schicken wir Sie in Urlaub«, schloss Stein und lehnte sich entspannt im Sessel zurück.

»What?!« Das Wort entschlüpfte meinen Lippen, bevor ich sie davor verschließen konnte.

»Sie haben richtig gehört, meine Liebe«, meldete sich die Stimme von Frau Krause hinter mir zu Wort. »Es ist bereits alles arrangiert.«

Ich drehte mich zu ihr herum und starrte sie entgeistert an. Sie musste wohl in den Raum getreten sein, ohne dass ich es in der Anspannung bemerkt hatte.

»Ähm … Sie … also ich … fahre in den Urlaub?«

Die eben noch im Kopf herumgeisternden Endzeitvisionen meines Autorinnendaseins wurden durch Bilder einer Bar an einem kilometerlangen, palmengesäumten, feinsandigen Strand und Cocktails in einem lichtdurchfluteten In-Club ersetzt.

»In der Tat, Frau Finocchio. Sie sind nicht nur eine unserer produktivsten Autorinnen, sondern eine Persönlichkeit, der es schwer fallen wird, in dem zu erwartenden … wie nennt man dies noch einmal?« Er sah seine Assistentin an, die direkt einsprang.

»Shitstorm, Herr Direktor.«

»Was für eine bildhafte Sprache heutzutage«, bemerkte Stein kopfschüttelnd. »Nun, wie dem auch sei, ich habe für Sie Mittel aus unserem Sonderfonds für außergewöhnliche Umstände entnommen und Frau Krause war so freundlich, Ihnen einen zweiwöchigen Aufenthalt in Italien zu organisieren.«

»Italien«, hauchte ich und hoffte dabei, dass sich weder im Tonfall noch auf meinem Gesicht die Enttäuschung erkennen ließ, die mich in diesem Moment durchfuhr. Also wohl eher ein schäbiges ‘Bed and Breakfast’ in der Touristenhochburg Rimini anstatt des schillernden Karibiktraums.

»In der Tat«, bemerkte die Assistentin. »Italien ist schön im Frühling. Und es war erstaunlich, dass sogar noch etwas frei war.«

Und wieder lief ein Film in meinem Kopf ab. Ich sah mich durch die fein parzellierten Liegeplätze des Strandes irren, an den wir als Kinder Sommer für Sommer gezerrt worden waren.

Wie nannten unsere Eltern es damals noch? Ach ja, Teutonengrill.

Und auf dem Rückweg zum Hostel kam man an einem Flachbau vorbei, dessen Inhaber stolz darauf hinwies, dass er die Leibgerichte seiner deutschen Kundschaft beherrschte: Bratwurst, Haxe und Sauerkraut.

»Ist Ihnen nicht gut, Liebes?«, riss mich die besorgt klingende Stimme von Frau Krause aus meinen Überlegungen.

Ich schreckte hoch und blickte direkt in ihr Gesicht. Hoffentlich hatte ich nur abwesend vor mich hingestarrt und kein Stöhnen von mir gegeben, wie ich es, angesichts der kulinarischen Verfehlungen, damals oft getan hatte.

»Es ist nichts«, presste ich hervor. »Wahrscheinlich kam das nur alles so plötzlich. Mein Fehltritt und Ihr überraschendes Angebot. Ich … könnte ich mich mal kurz etwas frischmachen?«

Frau Krause wandte ihren Blick dem Verleger zu.

»Aber selbstverständlich, Frau Finocchio«, sagte Stein mit einer ungewohnt väterlichen Miene. »Sie wissen ja, wo die sanitären Einrichtungen sind. Danach können Sie mit Frau Krause die Details besprechen.«


Schnell stand ich auf und verließ die heilige Halle des Verlegers. Im Waschraum gönnte ich zuerst meiner Blase etwas Entspannung und kühlte mir dann mit Wasser aus dem Hahn Nacken und Handgelenke, um wieder herunterzukommen. In der Tasche begann das Handy zu klingeln. Geistesabwesend fischte ich es heraus und meldete mich, während ich Reste von Seifenschaum dabei beobachtete, wie sie strudelnd im Ausguss verschwanden. Bei dem Gelächter, das mir aus dem Hörer entgegenschoss, fühlte sich der Hammerträger in meinem Kopf spontan dazu berufen, sein Tagewerk wieder fortzuführen.

»Verdammt, wer ist da?«, rief ich unwirsch. »Und wer auch immer es ist, ich hoffe für dich, dass es wichtig ist, was du mir zu sagen hast. Ansonsten kannst du meiner Rache gewiss sein.«

Als ich aufgrund der Lautstärke meines eigenen Ausrufs schmerzerfüllt zusammenzuckte, meldete sich Zino und ich konnte ein breites Grinsen in seiner Stimme erkennen.

»Mahlzeit meine Schöne. Das klingt ja nicht besonders fröhlich. War es so schlimm mit deinem Verleger?«

»Ich bin noch im Verlag und nein, es ist nicht schlimm … nicht ganz … also eigentlich …«

»Okay, das klingt nach interessanten Zeiten. Musst du mir unbedingt später genauer erzählen. Gerade bin ich leider auf dem Sprung. Der neue Laden in der Bleibtreustraße, für den ich das Kassensystem konzipiert habe, hat in einer halben Stunde Eröffnung und will mich unbedingt dabei haben. Aber warum ich dich eigentlich anrufe: Ich bin gerade nochmal kurz zuhause gewesen, um meinen iPod zu holen, da ich anscheinend heute Morgen dein Handy gegriffen habe, aber gern nachher beim Training meine Playlist dabeihaben wollte. Dabei habe ich das Klamottenchaos bemerkt, dass du veranstaltet hast.«

Endlich machten einige Seltsamkeiten einen Sinn. Im Kopf hatte ich das Gefühl, den Groschen fallen zu hören.

»Na klar. Deshalb hab ich auch den Klingelton vorhin nicht erkannt und die Nummer wurde als unbekannt angezeigt.«

»Klug kombiniert, Watson. Aber nochmal zu den Klamotten …«

»Ach Mist, das wollte ich dir noch sagen, Bruderherz. Ich hatte meine Bluse ruiniert, aber ich konnte ja schlecht nackig zu Stein. Ich machs nachher …«

Doch Zino ließ mich den Satz nicht zu Ende bringen.

»Und du bist fündig geworden?«

»Ja, in der hinteren Ecke bei den T-Shirts. Da war wenigstens eines, das mehr zu mir als zu dir passte.«

Zino gab ein unterdrücktes Prusten von sich, räusperte sich dann aber und sagte: »Hast du heute schon mal in den Spiegel geschaut?«

»Das tue ich gerade. Wieso?«

»Du trägst deinen Blazer?«

»Ja, klar. Du weißt doch, dass ich nicht ohne …«

»Knöpf ihn mal auf. Aber halt dich vorher irgendwo fest.«

»Zino, du machst mir Angst!«

»Ach, was würd ich dafür geben, gleich dein Gesicht sehen zu können.«

»Zino!«

»Nu mach schon, es lässt sich sowieso nicht mehr ändern.«

Durch das Telefon war ich leider nicht in der Lage, meinem Bruder eine Kopfnuss zu verpassen. Also seufzte ich schicksalsergeben und öffnete den Blazer. Was ich daraufhin zu sehen bekam, ließ mir die Knie weich werden.

Wer will schon eine Null

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