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7. Kapitel
ОглавлениеDer doppelt promovierte Zehntel ist nicht aufzufinden, was Dr. Marlies Winter zu sexuellen Spekulationen hinter Mundschutz hinreißt. Sie obduziert niemals ohne, aus Angst vor tuberkulösen und anderen ansteckenden Leichen. Die Mundbinde dämpft ihre Stimme, wofür Eva dankbar ist, auch wenn sie die Maskerade albern findet.
Winter über Zehntel: «Er hat Weibergeschichten. Alle Männer haben Weibergeschichten.»
«Dieser hier hat’s hinter sich.» Hauptkommissar Benedikt Hermann umkreist seine Leiche, während sein Kollege Schultz fotografiert und Eva Röhm versucht, das Bein im Kniegelenk zu beugen, um die Totenstarre festzustellen. Das Bein ist weiß und unbeweglich. Sie läßt es auf den Metalltisch zurückfallen.
«Unbekannte, männliche Leiche in mittleren Jahren in gutem Ernährungszustand. Totenstarre an den großen und kleinen Gelenken voll ausgebildet. Blaurote livide Totenflecke an den rückwärtigen Partien ...»
Eva schaltet das Gerät ab. «Er ist mindestens neun Stunden tot, vielleicht auch länger. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?»
Hermann sieht auf die Stelle, an der einmal ein Gesicht war. Es gibt für ihn zwei Sorten Opfer: die armen Schweine und diejenigen, die es verdient haben. Bei dieser Leiche ist er noch unentschieden. «Er ist gegen neun Uhr abends mit seiner Dame aufs Zimmer. Um zehn Uhr morgens hat ihn das Zimmermädchen gefunden.»
Um zehn Uhr dreißig war das Hotelzimmer mit Polizisten gefüllt, Arzt und Fotografen und Kollegen von der Spurensicherung, die die Leiche vollständig abklebten und die nummerierten Streifen in Plastiktüten bargen; mit einem Kriminalhauptkommissar, der die Beschreibung der Leiche und des Fundortes auf sein Band diktierte ... Routinehandlungen, die später in Erkenntnissen münden, vielleicht ... Hermann trägt sein Bündel an ungeklärten Fällen mit stoischer Ergebenheit.
«Hat man einen Behälter mit Säurerückständen gefunden?»
Hermann schüttelt den Kopf. Eva und Marlies Winter sind über das Gesicht der Leiche gebeugt, ein Restgesicht aus Gefäßen und Knochen und Hautfetzen, die mit der Pinzette entfernt und konserviert werden.
«Schwefelsäure», sagt Franz und zieht seine Nasenflügel zusammen. Eva riecht nichts, wie immer, und Marlies Winter denkt an die Gallenblasenoperation ihrer Schwiegermutter.
Man wird sie im Krankenhaus besuchen müssen, und Marlies haßt Krankenhäuser. Der Gallenblasensohn ist, wie immer in Krisensituationen, dienstlich verhindert. Die Kinder werden ihre Begleitung ins Krankenzimmer von Gefälligkeiten abhängig machen. In dieser Familie gibt es nichts umsonst.
«Mein erster Säurefall, Hauptkommissar. Sie werden auf den Obduktionsbericht warten müssen.» Eva weiß, daß Benedikt Hermann schnelle Ergebnisse will und es haßt, auf Berichte zu warten. Er wird täglich zweimal anrufen und danach fragen, und er wird sie zum Essen einladen, um sie auszuhorchen. «Keine weiteren Säurespuren außerhalb des Gesichtsbereiches. Aber die Verätzungen sind nach erster Einschätzung nicht tief genug, um den Tod herbeigeführt zu haben. Für eine postmortale Verletzung spricht, daß keine Spuren an den Fingern sind. Er hätte versucht, es abzuwehren ...»
Marlies Winter untersucht die Handgelenke des Toten. «Keine Druckspuren, er war nicht gefesselt.»
Manchmal denkt sie mit, denkt Eva und deutet ein anerkennendes Nicken an. Gut möglich, daß ausnahmsweise niemand im Hause Winter an physischen oder psychischen Krankheiten leidet, Kinder und Ehemann sich wie vernünftige Wesen benehmen und Marlies eine Atempause bis zur nächsten Familientragödie gegönnt ist, an der sie stets das halbe Institut teilhaben läßt. «Wir nehmen seine Fingerabdrücke, vielleicht hilft Ihnen das weiter.»
«Anaphylaktische Reaktionen?» Franz sägt am Kiefer, um das Gebiß zu entnehmen.
«Er könnte doch einen tödlichen Schock bekommen haben?» Hermann sieht zu, wie das Fleisch sich teilt, und denkt an seinen nächsten Zahnarzttermin.
Klugscheißer, denkt sie und sagt: «An irgendwas ist er sicherlich gestorben, Herr Hauptkommissar».
Hermann grinst in ihr ärgerliches Gesicht. «So was nenne ich einen aufschlußreichen pathologischen Befund, Frau Doktor. DARAUF ist sogar unser Polizeiarzt gekommen.»
Ihr flüchtiges Lächeln erwärmt den kühlen Raum. Er versucht, ihren Blick festzuhalten und in ihn hineinzudeuten, was sein kaltes Herz erfreuen könnte. Doch ihre Augen sind längst wieder bei der Leiche, die er ihr gebracht hat. Die Toten sind die einzige Verbindung zwischen ihnen, Anlaß zum Wiedersehen, Telefonieren und zu Gesprächen bei gelegentlichen Essen. Man muß ihnen also dankbar sein, den Objekten seiner und ihrer Neugierde, auch wenn er in den langen Momenten des Selbstzweifels weiß, daß diese Beziehung so leblos ist wie das, was vor ihm liegt.
Sie steht jetzt neben Dr. Winter, die die Genitalien des Toten in der Hand hält, mit professioneller Geste und abgründigem Gesichtsausdruck.
«Unauffällig.» Dr. Winter biegt den schlaffen Penis mit ihrem Daumen. Eva Röhm deutet auf das Vorhautbündchen. «Hier ist ein winziger Kratzer am Frenulum, vermutlich auf den vorhergegangenen Sexualverkehr zurückzuführen ...»
Benedikt Hermann besieht sich die Entdeckung flüchtig. «Muß ja ein wilder Fick gewesen sein, den er sich zu guter Letzt gegönnt hat.»
Nur der Kollege grinst, er hätte die Bemerkung gern zurückgenommen. «Aber warum zum Teufel hat sie ihm das Gesicht verätzt?»
Dr. Winter läßt den Penis los. «Vielleicht, weil er sie nicht zum Orgasmus gebracht hat?»
Jetzt lächelt sie, die Röhm, und Hermann denkt, typisch, so etwas finden Frauen komisch. Außerdem, wenn es eine Prostituierte war, hatte sie ja wohl keinen Anspruch darauf.
«Oder es war einer von diesen Sexfreaks, die einen ausgefallenen Kick brauchen, um einen hochzukriegen.» Polizist Schultz kann das Geräusch der Säge nur schwer ertragen. Er mag Leichen nicht und denkt über eine Laufbahn im Bereich der Wirtschaftskriminalität nach. Zweite Wahl wäre die Sitte. «Na ja, ich meine, vielleicht hat er sich die Nutte geholt, damit sie ihn mit ein bißchen Säure antörnt, und dabei ist ihr das Flaschen aus der Hand gerutscht, und ... dann ist sie vor Schreck abgehauen ... und ...»
«Der kleine Tod», murmelt Marlies Winter und denkt an Perverse, die sich Plastiktüten über den Kopf stülpen oder sich dosiert drosseln, um zum Orgasmus zu gelangen. Leider ist ihr noch keiner unters Messer gekommen, bei dem der große Tod die Lust einholte. Die Impotenz der Männer findet sie himmelschreiend.
«Und darüber hat sich unser Mann so erregt, daß er an Herzversagen starb ... Sie sollten zum Fernsehen gehen, Schultz.» Benedikt Hermann lächelt mit der Überheblichkeit eines Vorgesetzten, und Schultz errötet.
Marlies Winter setzt zum Schnitt an. Impotent, dumm, überheblich, gefühlskalt ... und einen von ihnen liebt man doch, das ist das Gemeine. Das Messer gleitet durch das Fleisch. Bei Georg Winter wären eindeutig mehr Fettschichten zu durchtrennen, denn Georg läßt sich gehen, ein Vorwurf, den er allerdings auch gegen sie erhebt. Er ißt, sie raucht. Er trinkt, sie trinkt. Sie haben einiges gemeinsam, auch die Kinder, um die er sich selten bemüht. Ein Wunder, daß man nicht selbst da liegt, gestorben an Überforderung durch die Familie. Marlies beneidet Eva Röhm um deren Unabhängigkeit, ist aber nicht sicher, ob sie die Einsamkeit ertragen könnte.
Hermann hält das von Franz gesäuberte Gebiß hoch, als ob er darin lesen könnte. Kein Zahnersatz und keine Kronen, ein völlig intaktes Gebiß, das man nur über DNA identifizieren könnte. Er sieht Dr. Röhm an, daß sie überarbeitet ist, kein Wunder bei Zehntels Faulheit und dem blinden Aktionismus von Marlies Winter. Während der letzten gemeinsamen Obduktion war ihr das Herz aus der Hand geglitten, und er hatte gesehen, wie ihre Hände zitterten, als sie es vom Boden auf hob. Es würde ihn nicht wundern, wenn die Winter ein Alkoholproblem hätte. Eva Röhm klatscht nicht über Kollegen, er ist also auf Spekulationen angewiesen. So wie bei dieser verflixten Leiche, deren Identifizierung schwierig sein wird. Kein Gesicht, keine Papiere, keine maßgeschneiderte Kleidung, Nullachtfünfzehnschuhe, keine Operationsnarben ... und möglicherweise keine schlüssige Todesursache. Bleibt die unbekannte Frau, deren Beschreibung durch den Nachtportier auf jeden Blondinenwitz und einige hunderttausend Frauen im Lande zutrifft. Daß die Fingerabdrücke im Computer sind, wäre die einzige Chance.
Dr. Winter schneidet, und Eva Röhm diktiert. Sie hat Ringe unter den Augen, seine Favoritin unter den Rechtsmedizinern, und in einem fast zärtlichen Gedankenflug stellt er sich vor, daß sie nachts zu lange liest, Akten oder Bücher, und daß sie erst nach Mitternacht zu Bett geht, ein französisches Bett vielleicht, das unter besonderen Umständen Platz für zwei böte ... Nein. Unsinn. Sie könnte auch Lockenwickler tragen und einen Fernseher im Schlafzimmer haben sowie Krümel im Bett von irgendwelchem Knabberzeugs ...
Ihre Haare sind lockig und lang, hinten mit einer Spange zusammengehalten, aus der sich immer wieder Strähnen lösen und ihr ins Gesicht fallen. Benedikt Hermann entscheidet sich für die Lockenwickler-Version, als sie ihn fragt, ob es Fortschritte bei Sissy’s Identifizierung gäbe.
Braune Augen, umgeben von Fältchen, die einer Frau über vierzig zustehen. Die Blicke sind immer nur fachlich interessiert. Nein, sagt er und fügt hinzu: «Vermutlich eine Illegale aus dem Osten, die von ihrem Zuhälter umgebracht wurde.» Es waren nur noch einzelne Knochen gewesen, die Schulkinder gefunden hatten, Skelettfragmente, die zusammengetragen und in der Rechtsmedizin geordnet wurden. Man hatte immerhin festgestellt, daß es sich um eine Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahren handelte, die an einer Schußverletzung im Herzbereich verstorben war. In dem Knochen-Puzzle hatten einige Teile gefehlt, die wahrscheinlich von Tieren verschleppt worden waren. Professor Wirtz und Dr. Röhm hatten die Restbestände mit absurder Begeisterung sortiert und sich über die Entdeckung der Schußverletzung fast kindlich gefreut. Nun, es hatte nichts gebracht. Das Skelett, das sie Sissy tauften, war mit keiner vermißten Frau auf der Computerliste identisch. Die Knochen liegen immer noch in der Rechtsmedizin, doch irgendwann wird Sissy, die Unvollständige, Geheimnisvolle, den ewigen Frieden finden, wie es. die Spezialisten der Seele nennen.
Es ist schwierig, diese Metapher an diesem Ort nachzuvollziehen. Der geöffnete Leichnam wird nunmehr ausgeweidet und die Einzelteile vermessen, gewogen, untersucht. Appetithäppchen, so nennt Zehntel die Organteile, die für weitere Untersuchungen abgeschnitten werden, landen in Marmeladegläsern. Auch dieser Begriff ist eine Zehntel-Schöpfung, und Hermann ist dankbar für die Abwesenheit des Doppeltpromovierten. Nichts gegen dessen Scherze, aber Zehntel macht sich nicht nur über seine Leichen lustig, sondern auch über die anwesenden Polizeibeamten. Was entschieden zu weit geht und ihn zu einem Seitenblick auf Schultz veranlaßt, der etwas grünlich aussieht. Der Junge hat noch keine Verwesten mit Madentango gesehen, denkt er. Eva Röhm behauptet, daß die Maden sich wie Tangotänzer bewegen; alle Pathologen sind ein wenig seltsam, auch sie ist nicht frei davon.
«Gegen eine Zigarettenpause ist nichts einzuwenden.»
Schultz sieht ihn dankbar an und zieht sich durch die offene Tür in den Vorraum zurück. Marlies Winter asserviert Magen- und Darminhalt, Blut, Galle, Leber, Niere und Gehirn für die Forensische Toxikologie sowie Oberschenkelvenenblut und Harn zur Alkoholbestimmung. Es riecht nach Alkohol wie in einer Kneipe, die lange nicht gelüftet wurde. Man hatte zwei Flaschen Champagner im Zimmer des unbekannten Mannes gefunden. Die Gläser waren ohne Fingerabdrücke.
Eva Röhm hat die Arme verschränkt und das Aufnahmegerät gegen ihre Brust gepreßt. «Man kann von reichlichem Alkoholgenuß ausgehen, die genaue Promillezahl später ... Aber sonst, mit allem Vorbehalt: keine auffälligen Befunde. Keine Einstichspuren. Haare, Fingernägel, Haut- oder Sklerenverfärbung weisen nicht auf eine Vergiftung hin. Kein ungewöhnlicher Geruch ... aber wir haben alles Nötige für die Toxikologie entnommen. Wenn es sich nicht um ein ungewöhnliches Gift handelt, bin ich ... im Moment überfragt.»
Hermann sieht so enttäuscht aus, daß sie nach einer kurzen Pause weiterspricht. «Ich bewege mich jetzt im Bereich des Spekulativen, aber... fest steht, daß sogenannte Seitensprüngler während des Koitus häufiger an Herzversagen sterben als es bei ehelichem Geschlechtsverkehr der Fall ist. Wenn unser Mann eine leichte Vorschädigung hatte, beispielsweise Herzrhythmusstörungen, die pathologisch nicht unbedingt nachweisbar sind, dann könnte er ... möglicherweise ... doch an Herzversagen gestorben sein ...»
«Zuviel Lust kann eben tödlich sein.» Dr. Winter sagt diesen Satz mit mörderischer Entschiedenheit, und Hermann denkt, daß ihm diese Todesart wohl nicht beschieden sein wird. Er ist ein wenig enttäuscht, jedoch nicht entmutigt. Dr. Röhm sieht nachdenklich aus, sie wird nicht so schnell aufgeben, denkt er, denn sie ist eine, die sich an Leichen festbeißt und erst losläßt, wenn sie was gefunden hat.
Marlies Winter zieht sich vorsichtig die blutverschmierten Gummihandschuhe von den Händen und wirft sie angewidert in den Abfallkorb. Warum sollen Männer nicht an Herzversagen sterben, wenn dieses Organ schon im Leben nicht all seine Funktionen ausfüllt? Man nehme den Sohn, der seinem Vater in vielem ähnelt: Siebzehn ist er, kalt wie eine Hundeschnauze und von einer Respektlosigkeit, die sie gewiß nicht verdient. Kinder sollten nicht erwachsen werden, es ist immer eine Enttäuschung, wird immer zum Generationenkrieg, und am Ende bleibt man hohl zurück.
Hauptkommissar Hermann kämpft mit seiner Ungeduld. Es wird Tage dauern, bis die toxikologischen Untersuchungen abgeschlossen sind. An Toten muß man dranbleiben, so lange sie frisch sind, aber wie zum Teufel soll er den Spuren eines Mannes ohne Identität und Todesursache folgen? So folgt er Eva Röhm in den Vorraum, in dem Aschenbecher überquellen. Auch Pathologen brauchen Krücken, um den Tod abzuschütteln. SIE raucht nicht, auch dies gehört zu ihren erfreulichen Zügen. Würde sie seine schüchterne Zuneigung erwidern, wäre sie fast perfekt – für eine Frau.
Sie zieht sich die grüne Kittelschürze aus und wäscht sich die Hände. Ihre Blicke treffen sich im Spiegel über dem Waschbecken, und er kann ihr endlich sagen, daß sie erbärmlich schlecht aussieht, und sie antwortet, daß es in letzter Zeit zu viele Leichen und zu wenig Schlaf gegeben hat.
«Wenn er an Herzversagen starb, warum dann die Gesichtsverätzung?» Hermann wiederholt sich, weil ihm unbeantwortete Fragen ein Greuel sind.
«Ich habe mich nicht festgelegt, Hauptkommissar. Ich weiß es einfach nicht. Wir müssen das Ergebnis der Untersuchungen abwarten.»
«Das dauert grauenvoll lange.»
«Ich für meinen Teil werde mich beeilen.» Sie blättert in der Akte mit den Tatortfotos. Er sieht auf die Uhr, es ist nach sechs. «Abendessen?»
Eva Röhm schüttelt den Kopf. «Heute nicht. Ich bin einfach zu müde.»
«Was war das für ein Typ, ich meine, so nach dem Körper zu urteilen?»
Sie studiert die Aufnahmen des Fundortes. «Nicht unbedingt jemand, der gewöhnlich in einem Mittelklassehotel absteigt, allerdings in Begleitung einer Prostituierten ...?! Ich schätze ihn auf vierzig bis fünfzig, aber das läßt sich noch genauer bestimmen. Gepflegte Hände, einer, der mit den Händen arbeitet, ist er bestimmt nicht. Kein durchtrainierter Körper, aber er hat auf ihn geachtet, würde ich sagen. Waren Spermaspuren auf dem Laken?»
Er schüttelt den Kopf.
«Sind Sie sicher, daß eine Frau bei ihm war?»
«Ein Transvestit?» Hermann sieht sie verblüfft an.
«Oder ein Mann, der sich als Frau verkleidet hat. Ich meine, wenn wir schon im mysteriösen Bereich sind ...»
«Sie meinen, ’ne Frau würde zu so etwas nicht fähig sein?»
Eva lächelt beinahe: «Unsinn, Frauen sind zu allem fähig.
Ungeklärte Todesursachen bringen mich auf dumme Gedanken.»
Sie steht jetzt an der Tür, und er zerbricht sich den Kopf nach einem Satz, der sie zurückhalten könnte. Er ist zu langsam, zu glatzköpfig, zu gewöhnlich, um eine Frau zu begeistern. Ihr freundlicher Abschiedsgruß ist eine von vielen kleinen Niederlagen, die ihn schmerzen oder wütend machen. Er wird es an seinen Untergebenen auslassen oder an der Bedienung seiner Stammkneipe. Das Hinnehmen und Austeilen gehört zu dem Scheißspiel zwischen Geburt und Tod. Benedikt Hermann nimmt seinen Hut und blafft den Kollegen Schultz an, der sich für das Gebiß im Plastikbeutel nicht zuständig gefühlt hatte.
Franz schiebt die mit einem Laken bedeckte Leiche zu dem Aufzug, der zu den Kühlräumen führt. Er macht sich seine eigenen Gedanken, zum Beispiel diesen, daß die Verätzungen durch Schwefelsäure nur beigebracht wurden, um von dem Gift abzulenken, das zum Tod geführt hat. Er wird später darüber mit Dr. Röhm sprechen, nicht in Gegenwart der Polizeibeamten, da ist er nur der Mann fürs Grobe. Dr. Winter findet wieder einmal ihren Autoschlüssel nicht, er sieht sie entnervt in der Handtasche kramen, bevor sich die Aufzugstüren schließen. Es geht abwärts in den Raum, in dem sie temperierte Ruhe finden, zurückkehren zu dem Nichts, das sie einmal waren, zum Leben erweckt auf Zeit, die ungeschätzte Zeit des Lebens, die auf alles vorbereitet, nur nicht auf den Tod.
Sie liegen nebeneinander, der Mann ohne Gesicht und die Pennerin, das Unfallkind und die alte Frau, die sich erhängt hat. Der Tod macht gleich und zeitlos, und seine Uhr tickt ohne jeden Sinn. Für sie. Sie brauchen nichts mehr als die Zeit, zur Erde zurückzukehren und ein Teil von ihr zu werden. Diese Vorstellung findet er natürlich und akzeptabel. Schließlich sind sie auf der Oberfläche nutzlos geworden, nur noch Gegenstand pathologischer Neugierde und bestattungstechnischer Fragen. Über die Seelen und ihre Verwendung nachzudenken, ist nicht seine Sache. Als er Dr. Röhm einmal nach ihrer Einstellung zum Tod fragte, sagte sie, daß sie keine habe. «Wenn ich da bin, ist er weg; und wenn er da ist, bin ich es.» Es gäbe keine Begegnung, sagte sie, weil Leben und Tod einander ein- und ausschließen.
Möglich, daß sie recht hat, denn die toten Gesichter sind einander ähnlich und verraten nichts über letzte Gedanken und Gefühle. Sie sind nicht friedlich, sondern einfach leer. Als er Kind war, sagte man ihm, daß die Seelen davonflögen, und er fragte, aus welcher Öffnung, worauf es eine Ohrfeige gab. Ungefähr seit damals glaubt er, daß es genug Sinn macht, wenn man Anfang wie Ende hinnimmt als die Zeit, die einem gewährt wird zu denken, fühlen und handeln.
«Franz, du redest wieder mit den Toten.»
Der Pförtner hält seinen Schlüsselbund hoch. «Sie sind alle weg, bis auf Dr. Röhm, die sitzt noch in ihrem Zimmer. Und Dr. Winter hat beim Rausfahren die Hofmauer erwischt, da haste was versäumt. Erst hat sie geflucht, dann geheult und schließlich ihren Mann angerufen. Wenn du dich beeilst, kriegst du das dicke Ende noch mit.»
«Kein Bedürfnis.» Franz zieht seinen Kittel aus und folgt dem Pförtner aus dem Kühlraum in den Flur, seine Nase wittert Schnaps, seine Empfindungswelt besteht im wesentlichen aus Gerüchen, und oft sind die der Lebenden nicht angenehmer. Es gibt eine Reihe von Leuten im Institut, die er nicht riechen kann, beispielsweise Max Zehntel, der so viel «Egoiste» aussprüht, daß er manchmal seine Geruchsorgane blockiert, um konzentriert arbeiten zu können. Die Frauen im Institut sind durchwegs erträglicher, und daß ihn die meisten für einen kauzigen Menschen halten, stört ihn nicht. Sie respektieren ihn, solange er in ihrem Sinne funktioniert. Mehr hat er von anderen nie verlangt.
Zu anspruchslos sei er, hat ihm die letzte Frau vorgeworfen, der er sich in besten und schlechtesten Absichten genähert hatte. Das hat ihn eine Weile beschäftigt, denn er findet seine Gedanken nur langsam und hat Schwierigkeiten, sie in die von anderen erwartete Richtung zu ordnen. Bedächtig sei er, sagen die Gutwilligen, und weil er nur ihnen zuhört, kann er an sich nichts Besonderes finden. Schließlich hat Schnelligkeit keine Bedeutung in seinem Leben, und er hat nie nachvollziehen können, was die Meute hetzt ... bis in den Tod. Es gibt nichts zu versäumen, außer der Zeit, die man hat. Dr. Röhm würde das verstehen, denkt Franz, und wählt den Hauptausgang, um dem Winterdrama im Innenhof zu entgehen. Eva Röhms Distanz zu den anderen zeugt von einer wunderbaren Langsamkeit, die nur er erkennt und versteht.
Sein Fahrrad, nicht angekettet, hat auf ihn gewartet. Die Frau, die seine Anspruchslosigkeit kritisierte, hat ihn verlassen. Sie war Verkäuferin in einer Metzgerei und behauptete, daß er sie auf die dümmsten Gedanken brächte. Der Verlust ist nicht tragisch, denn sie war auf eine unbeschwerte Weise sehr schlicht gewesen, auch wenn ihn ihr Geruch sexuell erregt hatte.