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4. Kapitel
ОглавлениеRechtlich gesehen endet die Persönlichkeit des Menschen mit dem Tod. Eine Leiche ist eine res extra commercium, eine nicht geschäftsfähige beziehungsweise nicht «verkehrsfähige» Sache und daher kein Gegenstand von Eigentumsrecht. Eine Leiche ist aber auch keine «fremde Sache», sie unterliegt dem «Gewahrsam des Berechtigten». Obduktionen können nur durch Gerichte oder bei Seuchenverdacht angeordnet werden.
Dreißig Mark pro Leiche bringt den Rechtsmedizinern an Evas Institut die gesetzlich vorgeschriebene Leichenschau der «Feuerbestattungsleichen». Sie werden von den Bestattungsunternehmen in den Institutshof gefahren, von Männern mit schlechtsitzenden dunklen Anzügen und gutsitzenden Trauermienen. Sie werden vor die Kühlkammern gebracht und dort auf Strangulierungsmerkmale, Schuß- oder Stichverletzungen untersucht, bevor das Feuer alle Spuren vernichten könnte.
Der alte Mann ist an Herzversagen gestorben, eine Nullachtfünfzehnleiche, und Eva untersucht ihn kurz, aber sorgfältig, bevor der Fahrer den Sargdeckel mit gemessenen Bewegungen schließt, was Eva an Marlies Winters Betriebsunfall vor fünf Monaten erinnert: Dr. Winter war bei einer Leichenbesichtigung der Sargdeckel auf den Kopf gefallen. Marlies, mit einer Beule am Hinterkopf, hatte nicht verstanden, warum dies im Institut große Heiterkeit ausgelöst hatte.
Der Fahrer zieht drei Zehnmarkscheine aus der Tasche, die Eva in die Tasche ihres weißen Kittels steckt. «Schönes Wetter heute», sagt er, und sie denkt, daß die Witwe, falls es eine gibt, davongekommen ist, sollte sie ihren Mann in einer Weise vergiftet haben, die keine äußeren Spuren hinterläßt. Eva könnte die Leiche beschlagnahmen lassen, wenn es Verdachtsmomente gäbe, doch in der Praxis kommt das selten vor. Und wie viele gehetzte Notärzte oder mit der trauernden Familie vertraute Hausärzte sind wohl bereit, auf dem Leichenschauschein «Todesursache ungeklärt» anzukreuzen?
Die beiden Männer schieben den Sarg in den schwarzen Wagen, und Eva tritt einen Schritt zurück und blinzelt in die Sonne. Es ist warm und freundlich, und sie würde gern am Rhein Spazierengehen, doch in ihrem Zimmer warten, in Pappmappen aufbewahrt, feingewebliche Leichenschnitte, die mikroskopisch untersucht werden müssen, unfertige Berichte sowie eine Reihe von Alkoholgutachten. Flüchtig denkt sie an die Sekretärin, die nach ihrer Alkoholfahrt mit tödlichem Ausgang zu zwei Jahren mit Bewährung verurteilt wurde und im Gerichtssaal weinend zusammenbrach. Die Frau sagte, daß sie ohne Führerschein nicht leben könne, ein Satz, der Eva seltsam vorkam.
Ein Mathematikprofessor hat ihr die Unterwäsche seiner Frau gebracht, mit dem Auftrag, sie auf Spermaspuren zu untersuchen, die seiner Meinung nach nicht von ihm stammten. Kosten spielen keine Rolle, sagte der kleine Mann, der die Wäsche in Geschenkpapier verpackt und sie Eva wie ein Präsent überreicht hatte.
Theoretisch bis zu vierzig Stunden, in der Praxis zwischen fünf und acht Stunden lassen sich bei Toten Spermien feststellen, entweder mit saurer Phosphatase oder genauer durch den mikroskopischen Nachweis. Anders bei Kleidungsstücken: Hier sind manchmal noch nach Wochen Spuren zu finden. Der Mathematikprofessor, er will es genau wissen, und Eva ist nicht überzeugt davon, daß sie ihm helfen kann, eine Formel gegen den Schmerz zu finden.
Sie geht zurück in ihr Zimmer, in dem Bücher, Papiere und Akten in nur für sie geordnetem Durcheinander gegen den Staub ankämpfen. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen, Zeitungsausschnitte und Zitate.
Das Wort «Familienbande» hat einen Beigeschmack von Wahrheit.
Am unverständlichsten reden die Leute daher, denen die Sprache zu nichts anderem dient, als sich verständlich zu machen.
Man muß wissen, was man nicht will. Der Rest ergibt sich von selbst.
Tabus muß man vernichten, ohne sie zu berühren.
Tabu sind Fotos, die in dem Zimmer vollständig fehlen. Ein einziges, winziges Bild trägt Eva Röhm in ihrer Brieftasche, verborgen unter dem Führerschein. Ihre große Handtasche hat sie achtlos auf den Tisch geworfen, der für Besucher gedacht ist. Auf den beiden Besucherstühlen stapeln sich Zeitschriften und Fachbücher. Vertrocknete Rosen ragen aus einem leeren Wasserglas, das einen geborgenen Platz hinter dem Mikroskop gefunden hat. Ein leichter Paraffingeruch schwebt im Raum, er kommt vom nahe liegenden Labor.
Auf einen ihrer zahlreichen Memoblocks schreibt Eva die Zahl 305. Zweitobduzenten bekommen Extrageld, gestaffelt nach «normalen Leichen», Leichen mit erhöhtem präparatorischem Aufwand, zum Beispiel bei zahlreichen Messerstichen oder verwesten Leichen mit Madenbefall. Dieses Zusatzeinkommen zu ihrem Gehalt wird ergänzt durch Privataufträge und Sachverständigentätigkeit vor Gericht. Diese «Extras» sind beständiger Anlaß zu institutsinternen Querelen, die auf Nebenkriegsschauplätzen ausgetragen werden. Niemand möchte über Geld reden, und jeder denkt darüber nach, ob andere mehr verdienen könnten. Schließlich ist es so, daß die wöchentliche Einteilung für Zweitobduktionen und Leichenschauen in kollegialer Absprache erstellt wird. Nach jeder Besprechung ist von «leichengeilen Kollegen» die Rede. Dr. Dr. Zehntel beschuldigt die Institutspförtner, ihn bei Privataufträgen und Feuerbestattungen systematisch zu übergehen. Der Direktor nimmt streng vertrauliche Beschwerdebriefe entgegen und läßt die Dinge laufen.
Eva versucht sich herauszuhalten. Sie hat keine Geldsorgen. Sie lebt allein in einer Dreizimmerwohnung, deren «ruhige Lage» den Mietpreis bestimmt. Außer den geschätzten und gemiedenen Kollegen kennt sie kaum jemanden in dieser Stadt, doch sie hat sich umgesehen, als sie ankam, Viertel für Viertel, und auf einer Liste vermerkt, welche Gegenden für sie unbewohnbar wären. Ruhig sollte die Straße sein, aber nicht von jener fassadenschönen Spießigkeit, die weite Teile dieser Stadt am Rhein prägt. Das Wohnhaus, das sie schließlich fand, ist ein renovierter Altbau mit vier Etagen und einem kleinen Vorgarten, den ein ihr unbekannter Idiot zuzementiert hat, so daß nur noch eine einsame Linde das Mauergrau auflöst. Ein Zimmer ihrer Wohnung steht leer seit dem Einzug, und sie hat es seit Monaten nicht mehr betreten.
Eva überlegt, ob sie ihre Mittagspause beim Vietnamesen verbringen soll, als das Telefon klingelt. Benedikt Hermann meldet sich mit seiner Dienststimme, und sie weiß sofort, daß er sie weder zum Essen einladen noch Anekdoten aus der vergnüglichen Kripoarbeit erzählen will. Hermann ist Kriminalhauptkommissar, Karnevalist, Glatzkopf, ein Scheidungsopfer in emotionaler und finanzieller Hinsicht. Wenn sie gelegentlich mit ihm ausgeht, dann vor allem deshalb, weil er sich für sie als Frau nicht interessiert, keine dummen Fragen stellt und die Rechnung kommentarlos teilt.
«Hallo, Dr. Röhm. Ich hab’ mal wieder eine schöne Leiche.»
«Die gibt es nur in Wien, Hauptkommissar. Hier am Rhein finde ich sie nicht so aufregend.»
Hermann kichert, es ist eine merkwürdige, unkontrollierbare Angewohnheit, die sie vor allem im Obduktionssaal irritiert. «Diese schon, das verspreche ich Ihnen. Wir haben den Mann in einer Absteige gefunden, genauer gesagt, ein Mittelklasseschuppen, wo schon mal stundenweise vermietet wird. Ist angeblich mit einer Dame gekommen, gestern nacht, aber die Dame ist verschwunden, was in Anbetracht der Umstände nicht weiter verwunderlich ist. Er lag nackt in seinem Bett und starrte zur Decke. Keine sichtbare Todesursache, keine Papiere, unauffällige Kleidung, ein Mensch wie du und ich, nur eben tot ... Unser Polizeidoktor meint, daß es Herzversagen war, aber wie immer glaubt ihm keiner.»
Gegenstand seines Spottes ist Dr. Otto Lanzen, ein bemerkenswert unfähiges und unsympathisches Exemplar eines Polizeiarztes. Eva ist der Meinung, daß Lanzen eine Schußverletzung nur dann erkennen würde, wenn es sich um ein großkalibriges Geschoß gehandelt hatte.
«Wann ist der Tote gefunden worden?»
«Heute morgen, vom Zimmermädchen.»
«Ist die Temperatur gemessen worden?»
«Ich glaube nicht.»
«Und warum wurde ich nicht geholt?»
«Lanzen meinte, er würde erst mal allein damit fertig. Aber Sie kriegen ihn, Dr. Röhm, keine Angst. Ich wär’ ja schon dankbar, wenn Sie was finden, womit wir diesen verdammten Kerl identifizieren könnten.»
«Wie alt?»
«Schätzungsweise vierzig, vielleicht darüber. Lanzen hat immerhin eindeutig festgestellt, daß es sich um eine männliche Leiche handelt.»
Eva lacht. Polizisten brauchen ihre Witze und ihre Feindbilder. Hermann haßt vor allem seine Exfrau, gefolgt vom Polizeiarzt, von Kinderschändern, faulen Staatsanwälten und arroganten Anwälten. Die Liste seiner Abneigungen ist lang, er pflegt sie mit Spott und Griesgrämigkeit und fügt dieser Selbstdarstellung jene des abgebrühten Kripomenschen hinzu.
«Am besten bringen Sie ihn gleich vorbei, Hauptkommissar. Ich habe morgen früh eine Wasserleiche und danach einen Gerichtstermin, die Levin-Sache, sie ist wirklich hochinteressant.»
«Ich weiß, Frau Doktor, denn es war mein Fall. Levin hat seinen Sohn umgebracht, aber er wird schon einen Advokaten finden, der ihn rauspaukt. Ich bringe unseren Kunden, sobald wir mit ihm fertig sind. Die Jungs kleben noch, und im Moment sieht er aus wie ’ne Mumie.»
Hermanns Sprache ist eine Mischung aus Polizeijargon, Bildzeitung und Sportreportage, der verbale Ausdruck seiner Welt, die im wesentlichen aus Verbrechen und genügsamer Freizeitbeschäftigung besteht. Doch in ihren längeren Gesprächen läßt Benedikt Hermann den Menschen aus sich heraus, verwundbar und wund, und dann hat sie ihn beinahe gern. Und es scheint ihn überhaupt nicht zu stören, daß sie nichts von sich preisgibt. Er ist unglücklich, was interessiert ihn da das Unglück anderer?
«Und tun Sie mir einen Gefallen, Hauptkommissar: Den Beamten mit den wahnsinnig komischen Leichenwitzen möchte ich nicht dabeihaben.»
«Sie haben keinen Sinn für Humor, Dr. Röhm, das ist Ihr Problem. Ein zweites ist die Identifizierung der Leiche. Sie werden sein Gebiß raussägen müssen.»
«Warum veröffentlichen Sie nicht sein Foto?»
Hermanns Stimme klingt belustigt: «Oh, das hatte ich ganz vergessen. Er hat kein Gesicht mehr. Es wurde weggeätzt.»
Eva spielt mit ihrem Brieföffner, ein Geschenk ihres Vaters. «Und dann ist er an Herzversagen gestorben ... War Lanzen betrunken?»
Der Kriminalhauptkommissar lacht, aber es ist immer noch eine Art von hysterischem Kichern: «Lanzen ist entweder besoffen oder verkatert. Lang wird es nicht mehr dauern, bis er auf Ihrem Tisch landet. Aber das mit dem Herzversagen war meine Erfindung. Lanzens einzig sinnvoller Kommentar am Tatort war, daß einer, dem man Säure ins Gesicht schüttet, doch schreien und sich wehren würde. Im Nebenzimmer wurde Geschlechtsverkehr ausgeübt, das hätten die trotz des eigenen Geräuschpegels hören müssen. Nein, nein, das Zeug wurde ihm verabreicht, als er schon tot war, darauf wette ich. Unsere Unbekannte wollte eine rasche Identifizierung verhindern. Nach Aussage des Nachtportiers war sie eine Nutte in den besten Jahren, blond und hübsch, ein Herzchen mit Millionengesicht.»
Evas Brieföffner bohrt sich in eine Akte von Kindesmißhandlung. «Cherchez la femme.»
«Na klar doch, und soll ich Ihnen was sagen? Ich hasse die Frauen, weil sie Männer auf die eine oder andere Weise zu Tode befördern.»
Schweigen.
«... von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen, Frau Dr. Röhm. Und sagen Sie jetzt nicht, daß die Geschichte auch umgekehrt funktioniert. Ich würde sagen, in dem Fall sind die Männer nur schneller gewesen.»
Eva nimmt Hermann in ihre Sammlung der verletzten Wesen auf, die sich nur noch mit Zynismus wehren können. «Aber bitte keine weiteren Leichen mehr. Das halbe Institut tanzt in Wien beim Kongreß ...»
Hermanns Kichern: «... Wahrscheinlich buddeln sie Leichen im Zentralfriedhof aus und diskutieren darüber beim Heurigen.»
Eva lacht pflichtschuldig. Sein Humor richtet sich gegen sich selbst und den Rest der Welt. Das gibt Hoffnung auf eine Art von Genesung, irgendwann. «Also dann ...» Sie legt langsam den Hörer auf, weil sie noch keine elegante Form eines Gesprächsendes am Telefon gefunden hat. Sie überlegt, noch zwei Gutachten zu diktieren, bevor Hermanns Leiche anrollt. Doch sie hat Hunger und beschließt, die Akten mit nach Hause zu nehmen. Die Abende sind lang, wenn sie sie nicht mit Arbeit ausfüllt. Und an die Nächte möchte sie lieber nicht denken. Eva Röhms Nächte sind ein Horror der ganz besonderen Art.
«Soll ich Ihnen Salat mitbringen?» Die Sekretärin, die sie mit Zehntel und zwei anderen Kollegen teilt, heißt Gertrud Weiler und leidet daran, nicht wie Claudia Schiffer auszusehen.
«Nein, danke, ich gehe essen.» Die Gertruds ihrer Welt essen immer Salat, ziehen sich stets die Lippen nach, investieren ihr Geld in Kleidung und ihre Energien in die Gewinnung von Männern. Wenn sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns erkennen, meist ziemlich spät, werden sie esoterisch, religiös oder feministisch. Jede dieser Optionen ist Eva Röhm verwehrt, weil sie den Gleichklang der Gefühle zwischen mehr als zwei Menschen pathetisch, ja unmöglich findet. Die Einsamkeit ist mittlerweile wie ein Winterfrost, der sie nie verläßt. Merkwürdig, daß bei ihrem ausgeprägten Talent zur Lüge jede Form der Selbsttäuschung stets sehr kurzlebig gewesen ist. Es ist in Betracht zu ziehen, daß Magda, die Beschränkte, Hartherzige, in ihrer Scheinwelt sehr viel glücklicher war als ihre Tochter, die reflektierend, verlierend einem Ende entgegengeht, das nicht mehr ist als das: ein Ende.