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8. Kapitel
ОглавлениеEs war der Sommer, in dem Louis Armstrong und Nikita Chruschtschow starben, Zehntausende von Pakistanflüchtlingen und die Besatzung des sowjetischen Raumschiffs Sojus II. In Nordirland ließ der Premierminister IRA-Mitglieder in Internierungslager einweisen, und bei Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten wurden sechsundzwanzig Menschen getötet. Kathleen trug schwarze Kleider, die bis zu den Knöcheln fielen, und verwandelte ihre schwarzen Locken in eine Twiggy-Frisur von geschecktem Blond. Serena bekämpfte den internationalen Faschismus, und Heather zog sich vor der Sommerhitze immer öfter in ihr Schlafzimmer zurück, wo ein riesiger Deckenventilator Kühle surrte. Lily, für uns andere unerreichbar, schwebte zwischen Küche und Schlafgemächern, und Alfred ließ uns gelegentlich wissen, daß Madame sich nicht wohl fühle, das Hinzuziehen eines Arztes jedoch kategorisch ablehnte.
Ich vermißte Heather, doch Rosa führte ihre Geschichte fort und erzählte mir, daß Heather unter ihren Freiern einen Bankier fand, der sie in den Stand der Mätresse erhob. Auch Huren haben manchmal Glück, sagte Rosa. Und sie fügte hinzu, daß Heather Männer immer nur benutzt habe, um weiterzukommen. Ich war geneigt, ihrer feministischen Interpretation von Heathers Lebenslauf zu folgen, in dem das Wort Liebe in verschiedenen Begriffen vorkam: Abhängigkeit, Selbstverleugnung, Kampf, Sieg ...
Was wußte ich von Liebe? Das Zusammenleben meiner Eltern schien dieses Wort nicht auszufüllen, ebensowenig wie die Handgreiflichkeiten meiner pubertierenden Mitschüler oder die Defloration durch einen Fremden. Real waren die tragischen Liebenden der Literatur: Ich glaubte daran, daß große Gefühle mit Entsagung oder Tod enden mußten – wie anders wären sie über längere Zeit hinweg zu ertragen? Rosa lachte, als ich das sagte. Meine Romanfrauen seien nichts weiter als die Ausgeburt perverser männlicher Phantasien. Liebe sei ganz anders: Erregung, Hingabe, Ernüchterung, Schmerz.
Rosa sagte, daß Heather ihren Bankier verließ, nachdem sie erfolgreich an der Börse spekuliert hatte. Die Freiheit währte ein knappes Jahr, dann verlor sie ihr Geld im Weizengeschäft, doch die Lust an der Unabhängigkeit, deren Basis Geld sei, habe Heather nie wieder verlassen.
Wir saßen im Garten, tranken Eistee mit Minze und aßen Gurkensandwiches, die nur in England so weich und leer schmecken, daß man meint, niemals satt zu werden. Heather, arm und auf der Suche nach finanzieller Unterstützung, fand Harry, einen Beamten Ihrer Majestät, der auf seine Versetzung nach Asien wartete. Die Hochzeit fand noch in London statt, und sie war so grauenvoll wie der Rest der Ehe, sagte Kathleen, die sich zu uns gesetzt hatte und sich mit Rosa in der Erzählung abwechselte. Immer, wenn eine der anderen dabei war, wirkte Rosa eine Spur demütig, und sie schwitzte wie ich, während Kathleen unter ihrem großen Strohhut sehr kühl wirkte, ein wenig abwesend wie immer und von distanzierter Freundlichkeit.
Heather hatte einen Teil ihrer früheren Kolleginnen zur Hochzeitsfeier eingeladen, ein mutiges Bekenntnis zu ihrer Vergangenheit, das von Harry und seiner versnobten Verwandtschaft naturgemäß nicht gewürdigt wurde. Heather war schwanger und erbrach sich während der Rede des Brautvaters, und Harry begann angesichts der geballten Mißbilligung seiner Gäste zu trinken, bis er vom Stuhl fiel.
Ich lachte, und Kathleen sagte, daß Heather ihren einzigen Ehemann als widerwärtigen und korrupten Trunkenbold bezeichnete. Dennoch blieb sie zehn Jahre bei ihm, in dem kleinen Haus in Hongkong, in dem es immer nach Fisch und Whisky roch, im «duftenden Hafen», wie die britische Kronkolonie genannt wurde, in der die englischen Damen die mörderische Hitze und tödliche Langeweile hinwegfächelten, Bridge und Krickett spielten, vom Ball des Gouverneurs träumten und an ihren chinesischen Hausangestellten verzweifelten. Heather war kein gesellschaftlicher Erfolg beschieden. Man betrachtete sie nicht als ebenbürtig, schlimmer noch, als sexuelle Gefährdung aller Ehemänner.
«Hat sie Harry denn betrogen?» Ich nahm das letzte Gurkensandwich und tupfte mit meinem feuchten Zeigefinger Krümel von der Platte. Kathleen hatte ihre riesige Sonnenbrille aufgesetzt und sah aus wie ein unterernährter Pandabär. Ihr letzter Friseurbesuch, ich vermerkte es mit Genugtuung, hatte ihre Schönheit deutlich beeinträchtigt.
«Ja, natürlich. Aber nur in den Wintermonaten. Heather sagte, daß es in der übrigen Zeit einfach zu heiß für jegliche körperliche Betätigung gewesen sei. Mit ihren Affären habe sie die öde Aneinanderreihung von Tagen unterbrochen, auch wenn die Männer Harry alle sehr ähnlich gewesen seien: robust, selbstgefällig, humorlos – und ab Sonnenuntergang betrunken.»
Heather verlor ihr erstes Baby im sechsten Monat; das zweite starb bei der Geburt. Sie war nicht robust, aber zäh genug, Harrys trunkene Wutanfälle zu überstehen und den permanenten Vorwurf, daß eine Hure nicht als Ehefrau und Mutter tauge. Harry kompensierte sein Unglück mit sehr jungen chinesischen Prostituierten und Bestechungsgeldern, die er von chinesischen Geschäftsleuten für die Vergabe von Lizenzen erhielt. Den Großteil seiner Abende verbrachte er an der Bar seines Clubs, wofür Heather sehr dankbar war. Sie sammelte jahreszeitgemäß Männer und antike Buddhafiguren, die aus China geschmuggelt wurden, und bezahlte das eine mit dem anderen. Ihre sexuelle Gunst war bis zu einem gewissen Punkt käuflich. Sie war «Harrys Hure», aber sie war wählerisch und trotz starker chinesischer Konkurrenz ein umschwärmtes Objekt der Begierde, weil sie weiß war, ein Stück Heimat und so rar wie die saftigen Steaks und süßen Puddings, die man in Hongkong vermißte. Die Frauen sahen es anders. Nur wenige beteten für Heathers Seelenheil. Die meisten wünschten sich, daß sie von einer chinesischen Horde vergewaltigt und anschließend ins Meer geworfen würde.
Auch Harry mußte bezahlen, wenn er ihre Nähe wünschte, den höchsten Liebeslohn von allen, was Heather damit begründete, daß Sex mit einem betrunkenen Tier seinen Preis habe. Sie war einsam und unglücklich, sagte Kathleen und fügte mit irischem Nachdruck hinzu, daß dies zu erwarten sei, wenn man sich mit Engländern einlasse.
Die Offensive der britischen Ehefrauen, den Gouverneur zur Ausweisung von Harrys Hure zu bewegen, erreichte ihren Höhepunkt, als Heathers unzüchtige Beziehung zu einem chinesischen Antiquitätenhändler ruchbar wurde. Die gelben Kulis, denen man das Spucken mit Stockhieben ausgetrieben hatte, sie hatten in einem britischen Unterleib nichts zu suchen, darüber waren sich alle Anständigen einig. Das Vergehen rangierte knapp unter einer Majestätsbeleidigung und gefährdete nicht nur Harrys Karriere, sondern auch das Leben des Antiquitätenhändlers, der es vorzog, in einem buddhistischen Kloster unterzutauchen. Harry verprügelte Heather, bis sie eine lächelnde Buddhastatue nach ihm warf, die ihm zwei seiner Zehen brach. Hongkongs Gesellschaft war empört, und Kathleen lächelte böse, als sie sagte, daß es nichts Schlimmeres gäbe als die bigotte Weltanschauung der britischen Mittelklasse. Rosa, die Eiscreme in den Garten brachte, blinzelte mir verschwörerisch zu, und ich wußte nicht, was sie damit meinte.
Die Offensive der britischen Damen wurde von der japanischen überrollt. Hongkong fiel in die Hände des Feindes. Harry, der sich an der aussichtslosen Verteidigung mit gnadenloser Tapferkeit beteiligt hatte, wurde leicht verwundet und kam in ein Internierungslager. Heather fand sich mit anderen Damen in einem Bordell für japanische Offiziere wieder, ein Schicksal, das sie als weniger hart empfand als ihre Leidensgenossinnen. «In dieser Wendung lag natürlich eine wunderbare Ironie», sagte Rosa, und ich nahm an, daß diese Formulierung von Heather stammte. Sie hatte kein Talent zu Selbstmitleid. Sie klagte nicht und beklagte nichts. Wenn es nicht Demut war, dann eine Arroganz gegenüber dem Leben, die beinahe an Unverwundbarkeit grenzte. Im Gegensatz zu Magda, die sich in den Mittelpunkt der Welt stellte und sie von da aus kommentierte, war Heather eine distanzierte Reisende zwischen ihrer und anderen Welten. Ich stellte mir vor, daß sie in jenem japanischen Bordell, in dem sie zwei Monate verbrachte, ihr Bild über Männer zu Ende gemalt hatte. Und vielleicht, aber nur vielleicht, hatte sie Mitleid mit den anderen Frauen empfunden, die nun so nackt waren wie sie und nichts hatten, woran sie sich wärmen konnten.
Kathleen und Rosa wußten keine Einzelheiten über diesen Abschnitt aus Heathers Leben, und ich füllte die Lücke mit fragmentarischem Wissen über japanische Greueltaten während des Krieges, über die unser Geschichtslehrer mit deutlich mehr sittlicher Entrüstung gesprochen hatte als über die «sporadischen Übergriffe» der deutschen Wehrmacht, in der österreichische Soldaten nur eine mitlaufende Rolle gespielt hätten. Ich war im Besitz keiner Wahrheit, nur ein Gefäß, halb gefüllt mit dem selektierten Wissen anderer und Erfahrungen, die in diesem Haus nicht zählten. Niemand fragte mich nach meiner Vergangenheit oder Zukunft, und ich hätte nicht viel zu erzählen gewußt, weil ich mich für das Kaff schämte und sehr vage Vorstellungen über mein künftiges Leben hatte. Die Ärztin einer Leprastation war die romantische Variante, die sich mit der einer berühmten Forscherin, Nobelpreis inklusive, schwer vereinbaren ließ. Keine Kinder: das Risiko, Magda zu kopieren, wollte ich unter keinen Umständen eingehen. Wenn ich gelegentlich davon träumte, John Lennon zu heiraten, antwortete der Spiegel mit Nein. Die Kluft zwischen dem, was ich wünschte, und dem, was ich war, blieb zu groß, um mich zuversichtlich zu stimmen.
Rosa bemalte ihre Zehennägel, und Kathleen sagte, daß man im Leben ein Ziel haben müsse, um nicht verrückt zu werden. Ich dachte, daß sie eine große Künstlerin sein wollte, womit ich völlig falsch lag. Kathleen verriet mir ihr Ziel nicht, und als ich es erfuhr, war es für vieles zu spät. An diesem Sommerabend, auf der Gartenbank, hätte ich vielleicht mehr davon hören können, doch ich war auf Heathers Leben fixiert. Rosa sagte später, daß nichts und niemand Kathleen davon hätte abhalten können, das zu tun, was sie für richtig hielt. Rosa, die Pragmatische, sprach sich und mich von jeglicher Schuld frei, schloß allerdings nicht aus, daß Heather viel gewußt und dazu geschwiegen hatte. Die Nähe des Todes schaffe Angst, die sich auf alle anderen Gefühle lege wie Schnee, sagte Rosa, und sie meinte damit nicht nur Heather, sondern auch Kathleen.
Kathleen, die uns ebenso unvermittelt verließ, wie sie gekommen war, überließ es Rosa, die Geschichte zu Ende zu erzählen, um meine Neugierde zu befriedigen. Während der japanischen Herrschaft in Hongkong verlor Heather ihre wertvolle Buddha-Sammlung und ihren Ehemann. Harry starb im Internierungslager an Wundfieber und mangelnder medizinischer Versorgung einen Heldentod, wie seine Kameraden es nannten. Nachdem der Spuk vorüber war und die britische Fahne wieder auf dem Peak wehte, ging das Gerücht, daß Heather mittels ihrer Beziehungen zu japanischen Offizieren dafür gesorgt hatte, daß Harry das Lager nicht überlebte. Es galt, ein Trauma zu überwinden, und neben Helden brauchte man Verräter. War sie nicht geradezu freundschaftlich mit den Schlitzaugen umgegangen, während ehrbare Frauen die Augen schlossen und beteten, während der Feind sie attackierte?
Die Witwe verließ Hongkong fluchtartig und reiste nach London, wo Harry dankenswerterweise seine Bestechungsgelder deponiert hatte. Der Krieg war zu Ende, und in Japan wurden erstmals Frauen zu den Wahlen zugelassen. In London standen die Sieger um Lebensmittelkarten an, und die britischen Militärbehörden erklärten den Verlierern auf Plakaten, daß ihr Hunger Teil der Welternährungskrise sei. 39 Juden wurden bei einem Pogrom in Polen getötet. Die chinesischen Kommunisten riefen die 190 Millionen Chinesen zum Aufstand gegen Tschiang Kaischek auf. Die Salzburger Festspiele wurden eröffnet. Heather richtete sich in einer Hotelsuite ein und wartete auf bessere Zeiten. Als die Börse wieder eröffnet wurde, spekulierte sie mit Aktien und vermehrte Harrys Nachlaß. Sie kaufte das Haus in St. Johns Wood und unterhielt eine Affäre mit dem Architekten, bis die Renovierung abgeschlossen war. Dann holte sie sich ihre vier Frauen ins Haus.
Der Architekt sei Heathers letzter Mann gewesen, behauptete Serena beim Abendessen, dem Heather fernblieb. Anschließend hielt sie uns einen flammenden Vortrag über die Unrechtsurteile im Prozeß um Andreas Baader und nannte Rosa eine blondierte Faschistin, worauf Rosa empört erwiderte, daß zwischen der Wahl ihrer Haarfarbe und ihren politischen Überzeugungen absolut kein Zusammenhang bestehe. Deutschland war ein besonders kräftiges unter Serenas Feindbildern, und auf meinen schüchternen Einwand, daß Willy Brandt ja doch eine ganz andere Nation repräsentiere, reagierte sie nur mit einem verächtlichen Schnauben. Sie klärte mich dahingehend auf, daß ihr britischer Vater jüdischer Abstammung gewesen sei. Dies würde sie nicht hindern, für die Rechte der Palästinenser einzutreten, doch den Deutschen könne sie niemals verzeihen, geschweige denn trauen. Serenas Verein zur Bekämpfung des internationalen Rassismus und Faschismus hatte an diesem Tag ein Glückwunschtelegramm an Idi Amin abgesetzt, der in Uganda die Macht übernommen hatte. Uns sagte das nicht viel, Rosa meinte allerdings, daß er auf dem Zeitungsfoto wie ein Schwein ausgesehen habe.
«Schweine sind rosa», brüllte Serena, bevor sie aus dem Zimmer stürmte. Ihre Abgänge waren stets vom heftigen Zuschlagen der schweren Tür begleitet, und wir zuckten jedesmal aufs neue zusammen, wenn es soweit war. Kathleen verließ nach Serena das Eßzimmer, und zum ersten Mal fiel mir auf, daß sie hinkte, ein wenig nur, und ich dachte an einen von Magdas Merksätzen: daß man sich vor Krüppeln in acht nehmen müsse. Es waren diese Sätze, vor denen ich mich fürchtete. Kathleen zog die Tür sanft hinter sich zu. Sie bewegte sich stets leise und unauffällig, als ob sie es vorziehe, für andere unsichtbar zu sein.
Rosa, die als einzige Nachtisch aß, sagte, daß Kathleens Vater ein Säufer und Schläger gewesen sei, und daß Kathleen schon früh von zu Hause weggelaufen sei und mehr oder weniger auf der Straße gelebt habe, bevor Heather sie fand. Rosa sprach von Kathleen wie von einer herrenlosen, verwundeten Katze, deren Krallen man akzeptieren müsse. «Bei Serena ist es was anderes. Sie braucht ihre Wut wie die Luft zum Atmen. Sie braucht Pinochet und Johnson und das Apartheid-Regime und die Gestrandeten und Entrechteten ...» Rosa hielt die Luft an, als die Haustür krachend ins Schloß flog ... «Sie raubt mir den letzten Nerv, aber man muß sie auch bewundern und gern haben.»
Ich sagte ihr, daß ich alle in diesem Haus bewundere, insbesonders Heather, die ihren Reichtum so großzügig teile. Manchmal versuchte ich ihnen zu schmeicheln, doch nur Rosa war empfänglich dafür.
Rosa lachte, es klang ein wenig schrill, obwohl sie sonst eine weiche und warme Stimme hatte. «Du kennst das Ende der Geschichte noch nicht, meine Kleine. Heather WAR reich. Aber leider hat sie ihr Geld verspekuliert, jedenfalls war sie vor zwei Jahren pleite, absolut, kein Penny mehr auf der Bank, nur das Haus war geblieben. Sie war immer eine Spielerin, unsere gute Heather ...»
Rosa folgte meinem Blick zur Wand, an dem ein Ölgemälde hing, das Heather zeigte: alt, herrisch, ungebrochen. Sie trug ein goldenes Kleid und hielt eine Rose in der Hand, ein abscheuliches, kitschiges Werk, von dem Rosa nun sagte, daß es ein Geburtstagsgeschenk gewesen sei, gemalt von einem afrikanischen Künstler, der zu Serenas Bedürftigen gehörte. Ich glaubte sofort, daß es sehr preiswert gewesen war. «Hat es Heather gefallen?»
Rosa gab mir keine Antwort, sie schien zu überlegen, wieviel Wahrheit ich vertragen konnte. Ich hielt ihrem Blick stand; Rosas Augen waren blau und kalt.
«Wir drei beschlossen also, das Haus zu retten. Wir wollten, daß alles so bleibt, wie es war. Und taten das, was alle von uns kannten und konnten. Der gute Alfred organisierte die Apartments und vermittelte anfangs die Kunden. Inzwischen läuft das Geschäft sozusagen von selbst – strikt außerhalb dieser Mauern selbstverständlich.»
Rosas Handbewegung umfaßte alle Sonderbarkeiten des Hauses, und bei Gott, es waren nicht wenige, angefangen von der nackten Figur eines griechischen Gottes, der einen Lampenschirm auf dem Kopf hatte, über die chinesischen Masken im Flur bis hin zum viktorianischen Mobiliar, das sicherlich wertvoll, aber äußerst unbequem war. Abgesehen von der farblichen Einheit der Räume paßte alles nicht so recht zusammen, so wenig wie meine Vorstellungen und die Realitäten dieses Hauses. Ich war nicht geschockt, nur ein wenig enttäuscht. Was ich bisher nur geahnt hatte: Nichts war wie es schien in diesem Haus. Es war auf vielen kleinen Lügen gebaut, die sich harmonisch zusammenfügten. So wie Rosa, deren Güte auch herzlose Nuancen hatte. Sie sah mich neugierig und ein wenig triumphierend an, und ich fragte: «Weiß SIE davon?»
«Ja, natürlich. Es wäre doch merkwürdig gewesen, wenn sie etwas dagegen gehabt hätte. Ihre einzige Bedingung war, daß wir unsere anderen Tätigkeiten nicht einstellten. Kathleen sollte weiter zur Kunstschule gehen, und Serena die Welt verbessern. Ich habe mich ohnehin nie für etwas Besonderes interessiert. Männer mögen das, weil sie dumme Frauen für erotischer halten.»
Rosas Blick war abschätzend auf meine Person gerichtet, die braunen Haare und braunen, ungeschminkten Augen, die Jeans und das T-Shirt mit Lennons Kopf darauf. Die Whiskyflasche war halbleer, Rosa hätte sie halbvoll genannt, weil sie das Leben von dieser Seite betrachtete.
«Und es macht euch nichts aus, ich meine ...»
«Du bist nicht in einer Einzimmerwohnung mit Küche und Außentoilette aufgewachsen, meine Kleine. Sechs Personen, zwei Erwachsene und vier Kinder auf engstem Raum. Waschen neben dem Herd, und Hausaufgaben, die vom Geschrei der kleinen Geschwister begleitet waren. Nächte, in denen ich die Matratze der Eltern ächzen hörte. ICH LIEBE DIESES HAUS. Und wir alle klammern uns an Heather, weil sie und das Haus eins sind. Weil wir nur gemeinsam überleben können. Ich glaube nicht, daß du das verstehst.»
«Warum hast du es mir dann erzählt?»
Rosa sah auf das Gemälde. «Weil mich das Spiel manchmal nervt, und weil ich die Wahrheit mehr schätze als die anderen. Heather ist eine Hure, keine Herzogin. Alfred ist nebenberuflich Zuhälter. Serena und Kathleen bedienen nicht nur ihre politischen Ideale, sondern auch ihre perverse Stammkundschaft. Ich berechne fünfzig Pfund für einen blow job und hundert Pfund für normalen Geschlechtsverkehr. Und es macht mir auch noch Spaß, jedenfalls meistens. Ich mache mir nicht vor, etwas anderes zu sein, als ich bin. Das mußt du noch lernen, Eva: Die Wahrheit zu schätzen, auch wenn sie oft sehr gewöhnlich ist.»
Die Entzauberung hatte stattgefunden, eine Woche vor meiner geplanten Rückreise, und ich trank zum ersten Mal in meinem Leben Whisky, der mir half, Rosas Wahrheiten leichter zu sehen, und sie drückte mich an ihren gewaltigen Busen und sagte mir, wie sehr sie mich vermissen würde. Dann weinten wir ein wenig, Rosa und ich, und sie sprach davon, daß sie gerne ein Kind hätte, nur würden das die anderen Frauen kategorisch ablehnen. Ich sagte, daß Rosa doch weggehen könne, und sie meinte, daß ich nichts verstanden habe.
Als ich am nächsten Abend ins Speisezimmer kam, saß Heather an ihrem Platz am Ende der Tafel. Es war kühler geworden, und nun fror Heather, so daß Alfred das Feuer im Kamin entzündet hatte. Kathleen war rothaarig geworden, trug aber immer noch Schwarz. Rosa lächelte mich an wie eine Komplizin. Ich hatte Kopfschmerzen von unserer Whiskyorgie.
«Du kommst spät», sagte Heather, und ich setzte mich stumm an meinen Platz neben Serena, die mir Tee einschenkte und einen kleinen, braunen Finger spreizte, als sie ihre Tasse hochhielt. Eine alte neue Aufführung wurde gegeben, und ich beobachtete Heather, die ein weißes Kleid trug und ihren Jadeschmuck, der alte, königliche Vogel, der seine Schwingen wieder über uns auszubreiten beliebte. Es gab Roastbeef, das war ungewöhnlich, und Heather wartete, bis Alfred abgetragen hatte, bevor sie uns mitteilte, daß Lily nach China zurückkehren und sie das Haus verkaufen wolle.
Rosa schrie auf, als habe man soeben ihr Todesurteil verkündet. Kathleen verkrampfte ihre Hände, und Serena begann mit dem Kopf zu schwingen, ein Zeichen, daß sie sehr erregt war.
«Das kannst du nicht tun», sagte Rosa. «Nicht nach allem, was wir für dich getan haben.»
Serena und Kathleen nickten, und Rosa ergriff Heathers Hand: «Du machst einen Scherz, nicht wahr?»
Heather schüttelte die Hand ab. «Sei nicht albern, Rosa. Natürlich meine ich es ernst, ich hatte lange genug Zeit, darüber nachzudenken. Ich verkaufe das Haus und ziehe in eines dieser Heime, in denen alte Damen wie ich luxuriös zu Tode gepflegt werden. Was meinst du dazu, Eva?»
Sie war eine so unglaubliche Egoistin. Wie konnte sie die drei auf die Straße setzen, nachdem sie sie von ebendort geholt hatte? «Ich dachte, du hängst an diesem Haus.»
Rosa sah mich flehend an, als ob es an mir läge, die Katastrophe abzuwenden. Serena wackelte mit dem Kopf, und Kathleen kaute an ihren Fingernägeln, während die Herrin des Hauses steif und aufrecht in ihrem Stuhl thronte. «Wir verdienen doch genug», sagte Rosa, sie flehte um Gnade, und ich wußte, daß Heather sie ihr nicht gewähren würde.
«Ich finde, daß es Zeit ist, etwas Neues zu beginnen. Außerdem müßte das Dach erneuert werden, und das können wir uns nicht leisten.»
Ich erkannte wieder ihre Angst, die Angst vor dem Tod, obgleich ich noch im Alter vermeintlicher Unsterblichkeit war. Rosa sagte, daß man doch einen Kredit aufnehmen könne.
«Ich bin nicht kreditwürdig, Rosa, und ich denke, daß auch eure Art der Erwerbstätigkeit die Banken nicht überzeugen. Im übrigen halte ich die Abhängigkeit von ... Dingen für gefährlich. Es lenkt vom Leben ab, sich an tote Gegenstände zu klammern.»
Heathers Blick war auf den Kristallüster gerichtet, der diese bemerkenswerte Szene erhellte. Ich dachte, daß sie etwas mit der Vertreibung aus dem Paradies zu tun hatte, und Heather die Rolle Gottes spielte. Die drei hatten nicht den Hauch einer Chance, und Serena war die erste, die das begriff. Ihre Stimme war bitter. «Und du meinst, daß du auf all dies verzichten und mit einem Zimmer im Altersheim vertauschen kannst. Und wir sind die Mohren, die ihre Schuldigkeit getan haben.»
Serena blieb ihren Farbbildern treu, und ich fragte mich, ob dies eine Premiere der Wahrheiten war und wie weit Heather gehen wollte, bevor sie den Vorhang senkte.
«Es ist eine Senioren-Wohnanlage, Serena. Mit lauter reizenden alten Leuten, wie mir die Direktorin versicherte. Und ich glaube, daß ich mich dort besser an den Gedanken des Todes gewöhnen kann: Schließlich kommen alle zum Sterben dorthin. Und was eure Schuldigkeit betrifft: Ich habe euch damals nicht gebeten, das zu tun, was ihr mir heute vorwerft. Und selbst wenn ihr es anders empfindet, denke ich, daß das Maß an Geben und Nehmen durchaus ausgewogen ist.» Heather legte eine kurze Pause ein, bevor sie die Peitsche in Zuckerbrot verwandelte. «Gleichwohl habe ich euch und Eva in meinem Testament zu gleichen Teilen bedacht. Und aus dem Erlös des Hauses und Inventars werde ich euch drei etwas Startkapital aushändigen; ich dachte an jeweils zwanzigtausend Pfund.»
Ich fand es großzügig, auch wenn ich nur Viertelerbin war, doch Rosa war keineswegs beeindruckt. «Es geht nicht ums Geld», sagte sie, «sondern um unser Zuhause. Ich finde es sehr unfair von dir, daß du uns vor vollendete Tatsachen stellst. Vermutlich hast du auch schon einen Käufer für das Haus.»
Heather verneinte dies und ließ Rosas Vorhalt unwidersprochen. Sie fragte Kathleen nach ihrer Meinung und füllte ihr Glas zum vierten Mal, ein Zeichen zunehmender Gereiztheit. Alt und müde sah sie aus, doch unbeugsam wie immer. Alle Worte waren vergeblich. Kathleen wußte es, denn was sie sagte, klang wie ein Abgesang.
«Das hier war die einzige Familie, die ich je hatte. Ich glaube, daß auch Rosa und Serena es so sehen. Du verkaufst kein Haus, Heather, du zerstörst eine Familie. Wir sind keine ‹toten Dinge›, verdammt noch mal. Wir haben gedacht, daß auch DU an uns hängst – das war offenbar ein Irrtum. Also bitte: Verkauf den Krempel und geh in dein Altersheim, um zu sterben. Nur erwarte nicht, daß wir dir dabei zusehen. Du wirst alleine sterben, Heather, weil du es dir so ausgesucht hast.»
Rosa zog den Kopf ein, und Serena spielte mit dem Messer, das Alfred beim Abtragen des Tisches übersehen hatte. Ich beobachtete die Wirkung von Kathleens Worten auf Heather. Nur das Wort «sterben» hatte ein leichtes Zucken des linken Augenlids zur Folge. Heather griff nach ihrem Glas und betrachtete die schmelzenden Eiswürfel, als gäbe es nichts Wichtigeres als diesen Vorgang des Vergehens. Sie sprach erst, als Kathleen aufstand.
«Ich hasse sentimentales Geschwätz, und ich habe keine Neigung, meine Gefühle zur Diskussion zu stellen. Nur so viel: Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich habe sie getroffen, weil ich mein Leben lang eine Abneigung gegen die Taktik des Bewahrens hatte. Sie macht unbeweglich und träge. Sie untergräbt den Mut zu Entscheidungen und die Lust am Risiko. Ihr seid noch ziemlich jung und trotz eures exotischen Berufs erschreckend unbeweglich. Wenn ihr mich allein habt sterben lassen, werdet ihr das eines Tages begreifen.»
Ihr letztes Wort zu diesem Thema war gesprochen, denn Heather stand vorsichtig auf und verließ, auf ihren Gehstock gestützt, den Raum. Rosa weinte. Serena schenkte sich Whisky ein, ich hatte sie noch nie Alkohol trinken sehen. Kathleen sagte: «Sie hat in ihrem Leben jede Menge falscher Entscheidungen getroffen.»
Und ihr noch eine hinzugefügt, dachte ich, denn ich stand auf seiten des Hauses. Man mochte es als abscheuliches Monstrum sehen, doch ich liebte seine hohen Räume, den Garten und vor allem die Mauern. Dieses Haus war ein Symbol für Größe – und ich konnte es mir nur so erklären, daß die Angst Heather klein gemacht hatte.
Serena trank ihr Glas leer und warf es gegen die Ritterrüstung, wo es klirrend zersprang. Alfred trat ins Zimmer, als ob ein Drehbuch es vorgeschrieben hätte. Er hatte sein Gesicht unter Kontrolle, wie immer, im Grunde war es kein Gesicht, sondern die Maske, die Alfred zu tragen beliebte, vielleicht schon seit seiner Kindheit. Er war in seiner Tarnung perfekter als wir, nur Heather mochte an ihn heranreichen. Und ich war sicher, daß er bereits alles wußte, doch er kehrte schweigend die Scherben auf, während wir ihm sprachlos zusahen.
Niemand machte sich Gedanken um den Butler und Zuhälter, er war ihrer aller Schattenmann zwischen Keller und Dachgeschoß, und zum erstenmal fiel mir auf, daß wir noch nie mehr als zwei Sätze miteinander gesprochen und daß sie nie etwas berührt hatten, das außerhalb seiner dienstbaren Tätigkeit lag.
Alfred kniete vor dem Ritter, stand etwas mühsam auf und balancierte die Handschaufel mit Serenas Scherben vorsichtig in Richtung Tür. Mit seiner freien Hand zog Alfred sie hinter sich zu. Die Tür knarrte.
«Sie sollte ihn mit in ihr Altersheim nehmen», sagte Serena, die den Zuhälter verachtete. Kathleen kaute an ihren Nägeln, erschöpft von ihrer langen Rede und wieder völlig in sich versunken. Ich versuchte, Rosa zu trösten, und gab ihr mein Taschentuch, in das Magda meine Initialen gestickt hatte. Magda würde mich nach den Erlebnissen dieses Sommers fragen, und was sollte ich ihr erzählen?
Kathleen verlor ihre Familie nicht, sie verlor ihr Leben und nahm Serena mit, was sicherlich nicht beabsichtigt war. Serena hatte zufällig Kathleens Zimmertür geöffnet, als die Bombe hochging. Ich hörte die Detonation im Garten und sah die Fensterscheiben bersten, ein Schauspiel sekundenschneller Zerstörung, das ich nicht gleich verstand, weil Explosionen nicht zu den Gepflogenheiten des Hauses gehörten.
Erst als ich vor der zerborstenen Treppe im hinteren Trakt stand, als ich den Rauch sah und das riesige Loch, das einmal Kathleens Zimmertür gewesen war, begriff ich einen Teil des Geschehens. Es war drei Uhr nachmittags, fünfundsiebzig Stunden vor meiner Abreise, und ich hatte auf dem Weg vom Garten einen Schuh verloren. Ich wußte nicht, wo Kathleen, Serena und Rosa waren. Ich schrie ihre Namen, aber es war Alfred, der hinter mir stand und mich sanft von der Treppe wegzog.
«Die Gasöfen in den Badezimmern hätten längst erneuert werden müssen», sagte Alfred, und es klang vernünftig und irgendwie beruhigend. «Ich werde die Feuerwehr anrufen, und Sie sollten Madam informieren. Sie ist in ihrem Zimmer.»
«Und die anderen?»
«Miss Rosa ist außer Haus.» Alfred sah nach oben. «Von den anderen weiß ich es nicht.»
Als ich einen Schritt hin zur Treppe machte, zog er mich zurück. «Es ist sinnlos, Sie kommen da nicht rauf. Das hier kann jeden Augenblick einstürzen.»
Beethoven stürzte, seine Büste fiel von der Balustrade krachend aufs Parkett und zerbarst, während wir zurücksprangen. Beethoven überzeugte mich, und ich folgte Alfred in den Haupttrakt, wo Heather uns entgegenkam, ein Geist im seidenen Morgenmantel, der erleichtert schien, mich zu sehen. «Ich habe bereits telefoniert», sagte Heather, und mein erster klarer Gedanke war, wie sie etwas melden konnte, das sie nur gehört, aber nicht gesehen hatte.
Heather brachte mich in die Küche, und Alfred schenkte mir Brandy ein, als die Sirenen näher kamen. Das Klingeln, die eiligen Schritte, die lauten Befehle, das alles hörte ich wie durch eine gläserne Wand. Ich saß am Küchentisch, trank Brandy und wartete darauf, daß Kathleen und Serena nach Hause kommen würden. Die Küchenuhr aus dem Schwarzwald tickte unmäßig laut und ohne jeden Sinn. Serena hatte Heathers «bourgeoisen Krempel» stets mit Spott überzogen. Nichts wünschte ich mir mehr, als ihre laute, herrische Stimme zu hören.
Serenas revolutionäres Gedankengut war unerschöpflich gewesen, doch war Kathleen in ihrem Bemühen, die Welt zu verändern, weiter gegangen – zu weit, was ihre Existenz betraf. In den letzten Tagen vor meiner Abreise war das Haus ein Schauplatz der Staatsgewalt, Polizei überall, und Fragen über Fragen, die Heather ausweichend oder nicht beantwortete. Sie sei nur eine alte, kranke Frau, war ihr Standardsatz, und Rosa spielte die dumpfe Blondine mit tränenerstickter Stimme und pathetischer Trauer. Alfred servierte unablässig Tee; er sei nur der Butler und die Tätigkeiten der Damen seien ihm gänzlich unbekannt. Der Besuch aus Österreich wußte tatsächlich von nichts, doch selbst mir schien der Beamte mit dem Gesicht eines heruntergekommenen Landedelmanns nicht zu glauben.
Kathleen und Serena hatten das Haus in Metallbehältern verlassen, in Einzelteilen mehr oder weniger. Heather hatte die Leichen identifiziert und sich danach mit einer Whiskyflasche in ihr Zimmer zurückgezogen. Der weitgehend zerstörte Seitentrakt wurde von der Polizei versiegelt, doch sie ließen uns nicht in Frieden, schließlich war Kathleen Staatsfeindin gewesen, eine IRA-Aktivistin, deren künstlerisches Schaffen sich auf den Bau von Sprengsätzen beschränkt hatte. Ob sie die Bombe in Selbstmordabsicht gezündet oder eine Unachtsamkeit die Explosion verursacht hatte, diese Frage beschäftigte den Inspektor und seine Männer ebenso wie der Verdacht, daß wir alle an der großen Verschwörung beteiligt waren. Für ihn stand fest, daß Serena eine Mittäterin war; kommunistische Agitatorinnen standen nicht zufällig neben Bomben, die hochgingen.
Rosa schlief in meinem Zimmer, in dem Alfred ein Bett gerichtet hatte. Wir schliefen in den Pausen zwischen Rosas Weinen und ihren Geschichten über Kathleen und Serena, mit denen sie die beiden zurückholte. Jede winzige Begebenheit hielt Rosa fest, und mir wurde bewußt, daß auch Rosas Beziehung zu Serena und Kathleen nur aus losen Enden bestanden hatte, die zu verknüpfen niemand wirklich gewollt hatte. Nichts hatte sie gewußt von Kathleens zerstörerischer Kreativität, und nichts hatte sie ihr vorzuwerfen, denn Rosa definierte Recht und Unrecht nicht nach biblischen oder staatstragenden Grundsätzen. Für sie war Kathleen Revolutionärin und Märtyrerin. Ihr Tod war ein Unfall gewesen, und Serenas Begleitung ein tragischer Zufall. Rosa vertrat ganz ernsthaft die Meinung, daß es eine Art Paradies für Menschen wie Kathleen und Serena gäbe, einen Ort, in dem sie Eamus de Valera, Che Guevara und Gandhi träfen, die Geschwister Scholl, Janus Korczak, Sacco und Vanzetti, Marx und Engels ...
Ich widersprach nicht, auch wenn mir die Mischung bizarr erschien. Wir diskutierten bis zum Morgengrauen darüber, wer den Vorsitz dieses Paradieses übernehmen sollte. Rosa votierte für de Valera und ich für Korczak. Weitere Überlegungen führten dahin, daß sich die Engel in zwei Parteien spalten würden: Kathleen und Serena würden den Revolutionären folgen, die die Märtyrer niederschreien und unterdrücken würden. Und Marx würde sie alle langweilen. Bei Marx schliefen wir erschöpft ein.
Alfred zog die Uhren des Hauses auf und stockte den Vorrat an Tee, Whisky und Sandwiches auf. Heather strapazierte die Nerven des Inspektors unter anderem dadurch, daß sie bei Verhören immer wieder einschlief. Rosa, die tagsüber mit ihrem Schmerz umzugehen wußte, versuchte mit ihm zu flirten, nicht ganz erfolglos, wie mir schien. Ich freundete mich ein wenig mit einem Polizisten an, den man vor unserer Tür postiert hatte, wohl für den Fall, daß die IRA versuchen sollte, mit dem Haus der Verschwörerinnen Kontakt aufzunehmen. Der Polizist hieß Sean, er war in meinem Alter und sprach diesen hübschen schottischen Dialekt, in den ich mich hineinhören mußte, wenn ich draußen auf dem steinernen Löwen saß und ihm Gesellschaft leistete. Er sprach mit mir über Fußball und Filme, und ich erzählte ihm von meiner unehelichen Herkunft, einer tragischen Jugend im Wiener Waisenhaus und von meinen Plänen, nach Feuerland auszuwandern, um dort Schafe zu züchten. Er fand mich sehr interessant, und ich fand ihn hinreißend normal. Wenn ich auf dem Löwen einschlief, Folge meiner Nächte mit Rosa, wachte Sean über meinen Schlaf. Und als ich ihm sagen mußte, daß der Tag meiner Abreise gekommen war, schien er traurig oder zumindest enttäuscht zu sein. Wir tauschten Adressen aus und wußten, daß wir uns nie wiedersehen würden. Es lag nur ein leichtes Bedauern in diesem Wissen und gleichwohl die Hoffnung, daß es anders kommen könnte. Der Abschied von Kathleen und Serena war in seiner Endgültigkeit viel grausamer. Doch Heather wollte nichts davon wissen, daß ich bis zum Begräbnis bliebe. Ich müsse zurück und mit dem Studium beginnen. Und die beiden möge ich so in Erinnerung behalten, wie ich sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Ich dachte an Kathleen, wie sie im Flur stand, mir ein flüchtiges Lächeln schenkte und die Haustür in ihrer sanften Weise hinter sich zuzog. An Serena, wie sie in der Küche Erdnußbutter auf Weißbrot strich; ihre langen, rotbemalten Fingernägel; ihren letzten Satz, daß sie den Friseurbesuch wegen einer spontanen Demonstration absagen müsse. Sie hatte sicher nicht die Absicht gehabt, die Welt mit 29 Jahren zu verlassen. Wenn Rosas Theorie vom Paradies stimmte, würden Serena und Kathleen ewig darüber streiten, mit welchen Waffen man die Welt verändern solle.
Heather gewährte mir ein letztes Mittagessen, an dem auch Rosa teilnahm. Es gab Dim-Sum in großer Auswahl, und der Tisch war zu groß für uns drei. Wir aßen überwiegend schweigend, und Heather gab mir dankenswerterweise keine Ratschläge für die Zukunft. Zerbrechlicher als je zuvor saß sie in ihrem hohen Stuhl, ganz in schwarz gekleidet wie auch Rosa, und es mag ihr in den Sinn gekommen sein, daß ich ihr Unglück gebracht hatte in den drei Monaten, in denen ich Gast in ihrem Haus war. Ich wiederum dachte, daß sie von Kathleens zweiter Familie gewußt hatte. Vielleicht nicht, daß Kathleen in ihrem Zimmer an einer Bombe bastelte, aber doch, daß Kathleens politische Leidenschaften sehr viel konsequenter waren als Serenas. Ich wagte nicht, sie danach zu fragen. Ihre steinerne Trauer war schrecklicher als Rosas tränenreicher Schmerz.
Einmal hatte Heather gesagt, daß man in dem großen Strom am besten schwimme mit geschlossenem Mund und sparsamen Bewegungen. Nun schien es mir so, als ob sie nur noch im Wasser treibe, zu müde, um der Welt mitzuteilen, daß sie untergehen würde.
«Wir werden das Haus verkaufen, so gut es geht, und ein kleines, hübsches Häuschen mieten», sagte Rosa. Sie hatte kaum noch geweint in meiner letzten Nacht in Heathers Haus, und Magda würde ihren Zustand als gefaßt und würdevoll beschreiben. Heathers Augen flackerten, doch sie widersprach Rosa nicht und biß in einen gedämpften Knödel, der mit gehacktem Schweinefuß und Ingwer gefüllt war. Daß ihr dabei ein wenig Sauce übers Kinn rann, schockte mich nicht so sehr wie Rosas Reaktion: Sie tupfte Heathers Kinn mit ihrer Serviette sauber. Es kam noch schlimmer: Heather ließ es über sich ergehen.
Sie sah meinen Blick und legte die Stäbchen zur Seite. «Ich werde mich jetzt zurückziehen. Alfred wird dich zum Bahnhof bringen, Eva. Ich wünsche dir eine gute Reise ... und es tut mir leid, daß du diese Tragödie miterleben mußtest.»
Wir standen beide auf, und ich dachte, daß sie mich umarmen würde, doch es gab nur einen flüchtigen Kuß auf beide Wangen. «Vergiß alles, was ich dir gesagt habe. Es war falsch.» Es war ein Flüstern, ein Abschied, wieder ein Abschied. Ich weinte, aber Heather hatte sich bereits umgedreht und stakste zur Tür. Der Stock mit dem Silberknauf pochte laut auf den Marmorfliesen, vielleicht war ich auch nur empfindlicher geworden für die Geräusche des Hauses.
Rosa fragte, ob sie mir beim Packen helfen sollte, sie war so praktisch und offensichtlich getröstet von dem Gedanken, den kläglichen Rest der Familie bis ans Ende zu umsorgen. Ich lehnte dankend ab, es war ja nur ein Koffer, und als er in der Diele stand, ging ich noch einmal durch das Haus, in die Zimmer, die noch heil waren. Ich ging in den Garten und lehnte mich an die Mauer. Die Brombeeren waren noch nicht reif.