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6. Kapitel
ОглавлениеDie Köchin hieß Lily, stammte aus Shanghai und verbrachte ihre Tage in der weißgekachelten, riesigen Küche im Untergeschoß, die nach Ingwer und Koriander duftete. Jeden Abend um sechs trug Alfred Tabletts mit seltsamen Gerichten in das grüne Speisezimmer: dampfende Schüsseln mit Reis, Nudeln und Suppen, Bambuskörbe mit gegarten oder gebratenen Winzigkeiten aus Fleisch, Fisch und Gemüsen, und Schalen mit Saucen, die am österreichischen Gaumen, an Gewürze wie Salz, Pfeffer und Kümmel gewöhnt, wie Feuer brannten.
Ihre Nächte verbrachte Lily in Cousine Heathers rosa Schlafzimmer. So jedenfalls erzählte Rosa, die aus Berlin stammte, und sich mit Kathleen und Serena den hinteren Trakt der Villa teilte. Rosa war blond, Kathleen eine schwarzhaarige Irin, und Serena trug zum Farbenspiel des Hauses mit hellbrauner Haut bei. Ich lernte die drei beim ersten gemeinsamen Abendessen kennen, ebenso wie Lilys Speisen, zu denen grüner Tee, Wasser und Whisky serviert wurden.
Cousine Heather trank Whisky mit Wasser, die drei Frauen Tee, und sie musterten mich über ihren hauchdünnen Tassen in einer Mischung aus Neugierde und Abwehr. Mir schien, daß sie bei diesem ersten Zusammentreffen eine Verteidigungslinie gegen den Eindringling schlossen, der ihnen beiläufig als «österreichische Verwandtschaft» vorgestellt wurde. Die Cousine meiner Großmutter hatte gesprächige und liebenswürdige wie auch lange und schweigsame Phasen. Ich fand Heather sehr exzentrisch, ein märchenhaftes Wesen zwischen böser Hexe und guter Fee. Später sagte Rosa zu mir, daß ich einen Hang zu unmoralischen Menschen habe und Heather deshalb verehre.
Wir saßen weit voneinander entfernt an einem langen, schmalen Tisch, von Alfred umkreist, der Schüsseln und Schälchen weiterreichte und nachschenkte, während ich im Essen stocherte und staunend das in mich aufnahm, was ich als die große Welt jenseits des Kaffs empfand.
Der grüne Tee schmeckte anfangs bitter, doch zumindest ließ sich damit die Schärfe der Speisen mildern. Außerdem hegte ich die verwegene Hoffnung, daß das explosive Gemisch in meinem Körper abtöten könne, was ich so fürchtete. Ein Winzling würde Lilys Essen nicht überleben, so dachte ich, und lud mir den Teller voll. Cousine Heather bemerkte, daß mein Appetit ebenso erfreulich sei wie Edward Heaths Wahl zum Premierminister.
«Affenhirne sind besonders delikat», sagte Serena und sah mich mit messerscharfem Lächeln an. Erst dachte ich, daß sie den Premierminister meinte, doch Serena blickte auf meinen Teller. Sie war, das begriff ich ziemlich schnell, eine Rassistin wie Tante Ludovika, nur eben andersherum. Die schokoladenfarbene Schönheit, Tochter einer Kenianerin und eines britischen Vaters, hatte sich zwischen zwei Ethnien für die dunkle entschieden und daraus eine Weltanschauung modelliert, die ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Unterdrückte Minderheiten waren in Mode gekommen, und in gewisser Weise verstand ich Serena, denn auch ich wünschte mir, anders zu sein, rot, grün oder blau, nur eben nicht das, was ich war.
«Unsinn, Serena. Laß das Kind mit deinem Hokuspokus zufrieden.» Cousine Heather sah mich mit aufmunterndem Lächeln an, und ich steckte folgsam die Gabel mit dem Fleischstück in den Mund. Es WAR Affenhirn, eine von Lilys besonderen Spezialitäten, wie Kathleen mir verriet, als sie mit mir zu reden begann. Die Lüge war in Heathers Haus nichts Außergewöhnliches. Sie diente der Konversation, der taktischen Überlegenheit, und nicht zuletzt der Bewahrung des empfindlichen Gleichgewichts zwischen so unterschiedlichen Frauen. Die Viererbande liebte Geheimnisse ebenso wie deren Enthüllung, und mein Erscheinen inspirierte sie, das Niveau der Selbstinszenierungen anzuheben.
Heather – die «Cousine» ließ ich am zweiten Tag fallen, weil sie die Anrede als unpassend empfand – war die einzige, die von Serena nicht mit verbalen Angriffen attackiert wurde, während sie uns mit arroganter Herablassung behandelte, weil wir weiß und politisch häßlich waren. Serena war damit ihrer Zeit voraus, denn in Londons Straßen sangen die Blumenkinder das Lied der Freiheit und Verbrüderung. Liebe und Haschisch waren die Noten, nach denen gespielt wurde, doch Serena brauchte ihre Aggressionen, um ihr Selbst zu definieren.
Kathleen, als Irin gewissermaßen auch minderheitsberechtigt, schien dies zu verstehen, während Rosa gelegentlich widersprach und Streit vom Zaun brach, den zu gewinnen sie keine Chance hatte. Als Deutsche war sie eine bevorzugte Zielscheibe für Serenas antifaschistische Parolen, die mir aus unserem katholischen Kaff nicht geläufig waren. Heather schien sich über Rosas hilflose Versuche, das Vaterland zu verteidigen, zu amüsieren, und sie schritt nur gelegentlich ein, dann, wenn Serenas Wiederholungen sie zu langweilen begannen.
Doch am ersten Abend wurde überwiegend schweigend gegessen, und ich hatte Zeit, die anderen auf mich wirken zu lassen: die alte Dame am Ende der Tafel in Taft und Perlen, zart und knitterig wie altes Seidenpapier; Serena im gelben Kaftan; Kathleen mit ihrer weißen Haut und den grünen Augen und schwarzen Haaren, schön wie ein Fabelwesen, wären da nicht ihre geröteten, plumpen Hände gewesen, die sie zu verstecken suchte, wenn man darauf sah. Unter all diesen Tischwesen war Rosa das gewöhnlichste, von meiner Person abgesehen. Sie war einfach nur hübsch, auf eine etwas plumpe und vulgäre Art, so hätte es Magda formuliert, die das Gewöhnliche in allen anderen Menschen zu sehen bereit war. Ich mochte Rosa sofort, was zum einen mit der annähernd gemeinsamen Sprache zu tun hatte: Sie berlinerte auch im Englischen. Andererseits erkannten wir einander als ebenbürtig, da gab es nichts zu bewundern oder zu verachten. Rosa, herzlich, schnodderig und so lebensklug, wie es ihre Situation erforderte, war in der Kunst der Selbstdarstellung nicht so begabt wie die anderen, was dazu führte, daß sie unterschätzt wurde. Auch von mir. Das Band, das die drei zusammenhielt, war die Liebe oder Dankbarkeit zu Heather, die sie von den Straßen Londons aufgelesen hatte, Rosa als erste, worauf diese aus sportlichen Gründen stolz war.
Es stimmte nicht ganz, wie so viele von Rosas Geschichten. Lily, die Chinesin, war Heathers erster Fund gewesen. Sie erzählte mir ihre Version an einem der langen, verregneten Nachmittage, an denen nichts zu tun war, außer in der Bibliothek zu lesen, Tee zu trinken und Lilys wunderbare Ingwerkekse im Mund zergehen zu lassen.
Die Farben der Bibliothek waren braun, hell die Tapeten und dunkel die schweren Vorhänge, und das Licht aus schweren Messinglampen ließ die Tageszeit unwichtig erscheinen, so wie die dicken Mauern alle Geräusche von draußen bis zur Unkenntlichkeit dämpften. Das rosa Haus war in gewisser Weise eine Welt für sich, was mir sehr angenehm war, da ich meine Welt auf die Frage schwanger oder nicht schwanger reduziert hatte.
«Störe ich dich?» Heather setzte sich in den braunen Ledersessel neben mich und beäugte das gynäkologische Buch, das ich ihrer Bibliothek entnommen hatte.
« Für das Medizinstudium.» Ich legte das Buch zur Seite, es war ohnehin wenig aufschlußreich gewesen, und schenkte ihr Tee ein, das einzige Getränk, das sie neben Whisky und Wasser zu sich nahm. Heather zündete sich eine ihrer übelriechenden schwarzen Zigaretten an. «Für ein junges Mädchen bist du wenig unternehmungslustig. Als ich in deinem Alter war, meine Liebe ...»
Als Heather achtzehn war, folgte sie einem Schausteller, einem windigen Kerl, der auf die Verführung von Landmädchen spezialisiert war und versprochen hatte, ihr die Welt zu zeigen. Die Welt, das war aus der Perspektive einer Bauerntochter in einem niederösterreichischen Dorf das Paradies schlechthin. Oder anders gesagt war die Hölle ein Leben zwischen Kuhmist und übelriechenden Bauerntölpeln. Und so hatte sie die Beine breitgemacht, um die große Welt hineinzulassen, und reiste mit ihm in deutsche, französische und englische Dörfer, wo der feuerspuckende Leonardo ebenso geizigen wie vergnügungssüchtigen Landmenschen ein paar Pennies abrang, die sofort in Branntwein investiert wurden. Leonardo brannte in mehr als einer Hinsicht, und Heidrun Hinterseer, nunmehr «Heather» genannt, war seine Asche, die Frau, die auf Jahrmärkten sein Geld einsammelte, sein Essen kochte, seine Wäsche wusch, seine Schläge und sein Geschlechtsorgan hinnahm, wann immer es ihm gefiel. Kein besonderes Schicksal für eine aus ihrem Stand in dieser Zeit. Man konnte sich sein Unglück nicht in jenem Maße aussuchen, wie die Frauen dies heutzutage tun, sagte Heather. Mein Interesse schmeichelte ihr, obwohl sie müde war und zunehmend langsamer und leiser sprach.
Als sie das Baby verlor, verließ sie den Feuerschlucker und schlug sich nach London durch, einer Stadt, in der junge Frauen wie Greisinnen aussahen und alte Frauen in Kleidern aus Tüll, Chiffon oder Crêpe de Chine in den Farben Rosa, Lila und Hellblau glänzten. Sie sah die Kutsche des Königs und die Handkarren der Straßenhändler, und sie begriff, daß es mehr brauchte, als Jugend und gutes Aussehen, um in dieser Welt zu bestehen.
Als Heather einnickte während des Erzählens, fiel ihr die Zigarette aus der Hand, und als ich sie vom Boden aufhob, stieß ich an ihren Gehstock, der auf den Boden knallte. Sie schreckte auf und warf mir einen mörderischen Blick zu.
«Du bist schrecklich neugierig, Eva, und irgendwie lästig. War Magda früher auch auf ihre Art. Ich habe sie übrigens angerufen und gesagt, daß es dir gut geht. Sie war sehr verletzt, daß du dich nicht gemeldet hast.»
«Magda ist ständig beleidigt. Sie braucht das für ihr Seelenheil.»
Heathers Lachen klang wie heiseres Bellen. «Ich bin froh, daß ich keine Kinder habe. Genaugenommen bin ich auch glücklich, keinen Mann mehr zu haben. Weißt du, ich bin schon viel zu alt, um mich mit anderer Leute Gefühle ernsthaft auseinanderzusetzen. Das einzige, was mich noch interessiert, ist, gut essen, gut trinken und nachts gut zu schlafen.»
Mit Lily, dachte ich, und keine meiner sexuellen Phantasien reichte aus, mir dies vorzustellen. «Und Serena? Kathleen? Rosa?»
Heather zündete sich eine neue Zigarette an, und ihre Hand, die das schwere Tischfeuerzeug hielt, zitterte. «Die drei? Sie sind eine Art Familie, aber von dem Zuschnitt, der keine Schmerzen verursacht. Sie bewahren mich vor dem Schicksal, eine alleinstehende alte Frau zu sein. Und manchmal amüsieren sie mich sogar.»
War das ein Grund, drei fremde Frauen ins Haus zu holen? Manchmal dachte ich, daß Heathers Einsamkeit unüberwindbar war. Oder daß sie Menschen brauchte, um sich vor ihren Erinnerungen zu retten.
«Ich finde sie jedenfalls interessanter als Fernsehen oder Lesen oder Patiencelegen. Sie sind meine letzte Verbindung zur Welt draußen, von der ich nach achtzig Jahren nun wirklich genug habe. Sie ist nicht besser geworden, und daß alle Menschen nun gleich sein sollten, halte ich in der Tat für einen schlechten Scherz.»
Heather war fünfundachtzig. Und bei allem, was sie sagte, spürte ich, daß sie nur noch von einer Furcht beherrscht wurde, der vor dem Tod. Alle in diesem Haus hatten ihre Ängste, doch Heathers Todesangst war allgegenwärtig, und ihre Befindlichkeiten oder auch Launen bestimmten die Atmosphäre bei Tisch. Rosa meinte, daß Heather zu lange gelebt habe, um sich ein Ende vorzustellen. Und daß sie in Lily ihre letzte, vielleicht die erste Liebe gefunden habe.
Lily war Heathers Findelkind aus einer Zeit, in der sie das Haus noch verließ, um ins Theater zu gehen, ihre merkwürdigen Kleider zu kaufen oder beim Chinesen zu essen, denn Heather hatte mit ihrem Mann zehn Jahre in Hongkong gelebt und sich fortan der englischen Küche verweigert. In einem ihrer chinesischen Restaurants war sie auf Lily gestoßen, eine illegale Emigrantin aus China, die nach Art des Hauses als Sklavin gehalten wurde und ihre Tage und Nächte in der Küche verbrachte. Nur die Ketten hätten gefehlt, erzählte mir Heather an jenem Nachmittag, und daß sie beim Anblick «dieses völlig verschreckten Küchentiers» gleichermaßen abgestoßen und gerührt gewesen sei. Das Mitleid muß überwogen haben, denn Heather verhandelte mit dem Chinesen über die Ablösesumme, und für tausend Pfund wechselte Lily ihren Besitzer.
Mit gewissem Vergnügen erzählte Heather, daß sie fünf Stunden um Lilys Kaufpreis gefeilscht habe. «Aus seiner Sicht hat er mich übers Ohr gehauen, aber ich habe mir eine wundervolle Köchin eingehandelt.»
Nach diesem Satz hegte ich gewisse Zweifel an Heathers Primärgefühlen in dieser Geschichte, doch ich wagte nicht zu fragen, was sich an Lilys Lebenssituation grundsätzlich verbessert hatte. Sie mußte nicht mehr in der Küche schlafen, so viel stand fest. Rosa erzählte mir, daß Heather Lilys Familie in Shanghai finanziell unterstützte, um sich damit lebenslange Loyalität zu sichern. Serena, die radikal alles befürwortete, was nicht unter weiße, bürgerliche Normen fiel, erklärte zum Thema Heather und Lily, daß sie die Liebe der beiden alten Lesben für das «Beste unter der Sonne» halte. Kathleen, irisch-katholisch, meinte dazu, daß Lily nur gelegentlich in Heathers Zimmer verweile, um deren Rheumaleiden mit chinesischen Massagen und diversen Kräutertherapien zu lindern.
Eva Röhm, christlich erzogen und sexuell furchtsam, fand diese Version am angenehmsten. Doch die Vorstellung, Magda mit Rosas und Serenas Interpretation zu schocken, war unwiderstehlich. Falls ich Magda wiedersehen würde, selbstverständlich. Die Gedankenspiele um Selbstmord bewegten sich zwischen einem Fall aus großer Höhe und Gift, wobei sich bei letzterem das Beschaffungsproblem stellte. Alles in allem erschien es mir sehr umständlich, sich selbst aus dem Leben zu befördern, und ich beobachtete die Signale meines Körpers mit zunehmender Besorgnis. Konnte es sein, daß etwas in mir wuchs – und ich merkte nichts davon?
Heathers Gegenwart war eine willkommene Ablenkung von meinen Ängsten, und ich holte ihr die Whiskykaraffe und Wasser und fragte sie, wie sie das Trio gefunden hatte, doch sicher nicht beim Chinesen?
Erst blinzelte sie mich argwöhnisch an. Ironie fand sie bei jungen Mädchen nicht angemessen. «Natürlich nicht. Ich habe sie sozusagen von der Straße aufgelesen. Rosa war die erste. Sie servierte in einem obskuren Künstlerlokal, das ich damals gelegentlich frequentierte. Ein paar Monate später traf ich Kathleen, die vor «Harrods» stand und die Leute anschnorrte. Serena habe ich in einem Tabakladen kennengelernt, wo sie Handzettel verteilte und die Besitzerin eine rassistische Kapitalistenhure hieß, worauf diese die Polizei holte und ... Es war alles sehr unerfreulich, aber die arme Kleine tat mir leid, und so habe ich sie in meine Sammlung aufgenommen.»
Heather zuckte mit den Achseln, und es knisterte und knackte, als ob sie gleich zerfallen und sich in Staub auflösen würde. «Schließlich ist das Haus groß genug, und auf diese Weise spare ich die Putzfrau für den hinteren Trakt. Außerdem zählt Tarock zu meinen Altersleidenschaften.»
Heathers Abschlußsätze waren stets am aufschlußreichsten. Tarock spielt man zu viert. Tarock wurde jeden Vormittag, von zehn bis zwölf, im gelben Salon gespielt. Wenn Alfred Lilys Dim-Sum serviert hatte, verschwanden die drei Frauen, und auch nach dem Abendessen verließen sie das Haus. Sie sagten mir nie, wohin sie gingen, und sie fragten mich nie, ob ich sie begleiten wollte.
Heather gähnte hinter vorgehaltener Hand und beobachtete Magdas Tochter, die zu viele ihrer Nachmittage in der Bibliothek verbrachte, statt die Welt jenseits der Mauern zu erobern. Ein scheues und seltsames Wesen, so viel stand fest, und was immer an Qualitäten verborgen sein mochte, ihr blieb nicht die Zeit, sie zu finden. Magdas Tochter: Immer mehr verschmolzen Gegenwart und Vergangenheit zu einer Melange aus Schuld und Sühne. Sie war kinderlos geblieben, während Magda bei Heathers einzigem, spätem Besuch in der Heimat schwanger gewesen war, eine trächtige Tonne mit glückseligem Grinsen und watschelndem Gang, der weder Heathers Reichtum noch ihr scharfer Intellekt imponiert hatten. Bewunderung, nicht Mitleid hatte Heather erwartet, und vielleicht war dies der Grund gewesen, warum sie den Ehemann und künftigen Vater verführt hatte. Armer alter Konrad, der Sex so sehr genoß und an Magda und die Missionarsstellung im Dunkeln geraten war. Sie hatte ihm geraten, seine Frau zu verlassen oder sich zumindest eine Geliebte zuzulegen, wobei sie in Betracht zog, daß ihm für beide Lösungen die Courage fehlte.
Möglich, daß Magda von der Affäre nie erfahren hatte – hätte sie ihr sonst Eva geschickt? Vielleicht sollte man der Kleinen das Tarockspielen beibringen? Oder Geschichten erzählen, die es im Kaff nie gegeben hatte? Heather streckte Eva ihr Whiskyglas entgegen, fügte Wasser aus der Karaffe hinzu und legte die Beine auf den Hocker. Manchmal hatte sie das Gefühl, portionsweise zu sterben, und das einzige, das noch perfekt funktionierte, war der Kopf und das, was darin gespeichert war.
«Könntest du mir die Füße massieren? Gut, das tut gut. Weißt du, wenn ich sechsundvierzig Jahre später nach London gekommen wäre, hätte ich die Wahl gehabt, ein anständiges Proletarierleben zu führen: im Wimpy kellnern, ein Zimmer mit Gasofen mieten, mit einem Hippie im Gebüsch des Hyde Park kopulieren und später irgendeinen netten Arbeiter zu heiraten. Damals war diese Stadt keine Spielwiese für eine Fremde, die nichts besaß und nichts konnte und überdies schlechtes Englisch sprach. Im Daily Illustrated Mirror war das erste Farbfoto erschienen, doch glaub mir, das Leben in den Armenvierteln war grau und trostlos. Armut war ein Makel und keine stilisierte Tugend, wie man uns heutzutage vorgaukelt. Mein einziges Kapital war Jugend, aber davon wurde man nicht satt. Also tat ich genau das, was in dieser Situation zu erwarten war: Ich ging in ein Bordell.»
Ich begegnete Heathers forschendem Blick mit Gelassenheit. Ihre Füße unter den Seidenstrümpfen waren eiskalt, und ihre Stimme klang heiser und ein wenig spöttisch, als sie weitersprach. «Es waren nicht die vier schlechtesten Jahre meines Lebens, aus der Rückschau betrachtet. Zumindest hatte ich ein sicheres Zuhause in der Bromley Road, es gab Regeln und Verbote, anständiges Essen und ein warmes Bett, das nach Liebe roch, zumindest jener Art von Liebe, die in einem solchen Haus zu finden ist. Und glaub mir, es gibt keinen besseren Ort, um Männer wirklich kennenzulernen, denn vor Huren muß man sich nicht genieren und darf sich ausziehen bis auf die große Gier.»
«Und die Frauen?»
Sie schätzte es nicht, wenn man sie unterbrach. «Wen kümmern die Gefühle der Frauen, was glaubst du wohl? Sie lernen die Kunst der Heuchelei; sie nehmen Geld und bezahlen dafür mit Erkenntnissen über das Wesen der Lust. Sie ficken mit der Überheblichkeit derjenigen, die nichts empfinden.»
Ich fand sie wundervoll und wünschte mir sehnlichst, Magda würde zuhören können.
Heather erzählte, daß Madame ihren Mädchen dreißig Prozent der Einnahmen überließ, was für damalige Verhältnisse ziemlich anständig war. Für Sadisten war Olga zuständig, für Masochisten eine Frau aus Wales, die vorher Pferde dressiert hatte. Aus Heather wurde «Heidi» mit blonden Zöpfen, und Minouche brachte ihr den französischen Verkehr bei, ein Vorgang, bei dem sie stets Angst hatte, erbrechen zu müssen. Nein, es war nicht das Paradies, das zu finden sie ausgezogen war, doch zumindest ein Ort, der sie am Leben hielt und lehrte, die Spielregeln von Geld, Lust und Liebe zu durchschauen. «Jede Frau sollte ein Lehrjahr im Bordell verbringen», sagte Heather, und sah mich provozierend an. Er war komisch, dieser Satz zwischen der alten, silbrigen Dame und der Achtzehnjährigen aus dem Kaff, die zu ihren Füßen saß. Ich lachte. Heather sagte: «Du bist Magda überhaupt nicht ähnlich.» Es war das Beste, das sie zu mir gesagt hatte seit meiner Ankunft, und in diesem Moment des Glücks geschah es, daß mich meine große Angst verließ. Ich spürte Schmerzen im Unterleib und warme Feuchtigkeit zwischen den Beinen und wußte, daß der Idiot mich nicht geschwängert hatte.