Читать книгу Angsthase gegen Zahnarzt - Christine Jörg - Страница 5
Montag, 2. November
ОглавлениеAm späteren Vormittag verlasse ich das Haus nur, weil mir der Kühlschrank leer entgegen gähnt. Zwar esse ich nicht viel, aber ab und zu habe ich doch gerne etwas zum Kauen zwischen den Zähnen. Ich gehe einkaufen. Eine Beschäftigung, die nicht zu meinen liebsten zählt. Bewaffnet mit Einkaufsliste und Einkaufwagen ziehe ich los.
*
Den Nachmittag verbringe ich zu Hause am Schreibtisch. Der biegt sich unter der Last. Bin ich zu faul oder nehme ich zu viele Aufträge an? Ich weiß es nicht. Über Arbeitsmangel kann ich nicht klagen. Jetzt fallen nicht nur Übersetzungen an, sondern ich bekomme inzwischen ziemlich viele Aufträge von einem Verlag Texte Korrektur zu lesen.
Ich habe nichts Besonderes vor und beschließe, auch den Abend am Schreibtisch vor dem Computer zu verbringen.
Es läutet. Erschreckt fahre ich zusammen. Meldet sich ein schlechtes Gewissen bei mir? Das Telefon! Wo ist das Telefon? Immerhin erkenne ich, dass es nicht das Festnetztelefon, sondern das Handy ist. Mist! Wo habe ich das Handy abgelegt? Ach, waren das noch Zeiten, als man der Schnur nachwandern konnte und irgendwann auf das lästige Gerät stieß!
Auf diese Schnur kann ich jetzt nicht bauen. Das Klingeln macht mich immer nervöser. Hoffentlich entdecke ich das Handy bevor die Mailbox antwortet Da! Endlich finde ich das Teil zwischen meinem Papierkram. Druck auf den grünen Hörer und:
„Ja, bitte!“ Ich melde mich nie mit dem Namen, weil es immer wieder Irre gibt, die am Telefon ihre Beleidigungen ob meines türkisch klingenden Familiennamens loswerden wollen. Oder anzüglich werden, weil ich eine Frau bin.
„Spreche ich mit Frau Osmani?“
„Am Apparat.“
„Guten Abend, hier Kersky.“
Mein Herz kommt beinahe zum Stillstand. Was will er denn von mir? Und außerdem, woher hat er meine Telefonnummer? Ich hatte sie ihm doch gar nicht gegeben. Aber so genau kann ich mich im Augenblick nicht erinnern. Was soll’s?
Die Visitenkarte! Zerstreut beginne ich auf dem Schreibtisch danach zu stöbern.
„Guten Abend, Markus. Das ist aber eine Überraschung. Wie geht es Ihnen?“ Ich will nicht lügen, deshalb behaupte ich nicht, dass ich vorhatte ihn anzurufen, aber die Nummer verlegt hatte. Es ist wohl besser kein leeres Gerede vom Stapel zu lassen.
„Danke gut“, antwortet er auf meine Frage. „Wie geht es Ihnen? Ich störe doch hoffentlich nicht?“
Es ist kurz nach neun. Eine kleine Pause kann nicht schaden, deshalb erwidere ich:
„Nein, Sie stören nicht, im Gegenteil, das ist eine angenehme Abwechslung.“ Ist es das wirklich? Weshalb sage ich den Quatsch?
„Eigentlich wollte ich Sie fragen ob Sie nicht mal Lust hätten mit ins Theater, Konzert oder einfach zum Essen zu gehen. Da Sie mich bisher nicht angerufen hatten, wurde mir die Wartezeit zu lange. Ihre Telefonnummer habe ich in der Praxis herausgesucht. Es bereitet Ihnen doch keine Unannehmlichkeiten?“
Wie war das noch mit dem Berufsethos? Ärzte sollten ihre Patientinnen nicht anbaggern? Aber wahrscheinlich rechnet er nicht mehr damit, dass ich weiterhin seine Patientin sein will. Schließlich muss er mitbekommen haben, dass ich einen häufigen Wechsel bei Zahnärzten vorweisen kann.
Schließlich sage ich: „Oh, nein, wirklich nicht. Ich war in meine Arbeit vertieft und habe gar nicht bemerkt wie die Zeit vergeht. Eine Pause tut mir gut.“
„Sie arbeiten noch um diese Zeit? Sagen Sie, dann haben Sie noch gar nicht gegessen. Soll ich Sie in einer halben Stunde abholen und wir essen etwas Kleines?“
Das ist so spontan und klingt so ehrlich. Ich bringe nicht den Mut auf, nein zu sagen. Er ist immerhin ein netter Mensch. Zahnarzt zwar, aber trotzdem nett. Wir verabreden uns für zehn Uhr abends. Er wird läuten, wenn er angekommen ist.
Das übliche Problem, das sich mir in einem solchen Augenblick stellt, ist: Was ziehe ich an? Ein Mann würde sagen: typisch Frau. Ich entscheide mich für eine rote Jeans, den schwarzen Rolli und schwarze Schuhe. Verfroren, wie ich seit jeher bin, kann ich mich selten warm genug anziehen. Haare bürsten und fertig bin ich. Zum Glück hatte ich meine Haare heute Nachmittag gewaschen. Gerade fülle ich die nötigen Utensilien in die kleine Handtasche, als es klingelt. Über das Haustelefon erfahre ich, dass Markus unten steht.
„Ich komme sofort.“ Schnell Mantel überziehen, noch einen Blick in den Spiegel, Handtasche und raus. Halt! Wo sind die Schlüssel? Glücklicherweise hatte ich sie heute Morgen nach dem Einkaufen an den für sie vorgesehenen Haken gehängt. Nichts wie raus! Ich hasse es, Leute warten zu lassen. Darin bin ich typisch Deutsch.
Er wartet unten neben der Haustür als ich hinausstürze. Sofort tritt er auf mich zu und drückt mir die Hand. Wie kann man bei dieser Kälte nur so warme Hände haben? Das verstehe ich nicht. Und dann der Händedruck! Das ist mir in der Praxis gar nicht aufgefallen. Auf jeden Fall spürt man, dass man jemandem die Hand gegeben hat. Nicht, dass er einem die Hand zerquetscht. Nein gerade so, dass man den Druck gut spürt.
„Nochmals guten Abend. Freut mich, dass Sie nicht nein gesagt haben. Sollen wir mit dem Auto fahren oder zu Fuß gehen?“ fragt er mich.
„Ganz wie Sie wollen. Wenn Sie einen guten Parkplatz gefunden haben, ist es vielleicht besser zu Fuß zu gehen.“ Ich habe eine Parkplatzmanie. Jedes Mal, wenn ich irgendwo hinfahren muss überlege ich vorab wie wohl die Chancen stehen, dass ich einen Parkplatz bekomme in den ich einparken kann.
Er schaut mich mitleidig an und meint: „Ihnen ist offensichtlich kalt. Wir nehmen das Auto. Dann können wir immer noch überlegen wohin es gehen soll.“
Schon stehen wir bei seinem Wagen, einem Golf. Höflich wie er ist, hält er mir die Beifahrertüre auf. Schon lange her, dass ich so verwöhnt worden bin. Wann war das überhaupt? Er geht vorne um das Auto, öffnet seine Türe und setzt sich neben mich.
Gut sieht er aus. Aber das ist nichts Neues. Wäre ich nicht so nervös gewesen, es hätte mir schon in der Praxis auffallen können. Etwa vierzig, aber das habe ich schon erwähnt. Ungefähr zehn Zentimeter größer als ich und ich bin eins achtundsechzig groß. Schlank. Dicke Männer haben mich noch nie gereizt. Die aschblonden Haare stehen in einem Bürstenschnitt auf dem Kopf. Wie macht er es nur, dass er noch kein graues Haar hat? Wunderschöne, blaue Augen, die hinter einer Nickelbrille versteckt sind. Diese schönen Augen konnte ich auch schon während der Behandlung eingehend betrachten. Das Gesicht ist leicht rundlich. Am Abend im „Neuen Hut“ konnte ich öfters ein verschmitztes Lächeln darauf erkennen.
„Und was nun?“, reißt er mich aus meinen Gedanken. „Worauf hätten Sie Lust? Was würden Sie gerne essen?“
„Das sind zu viele Fragen auf einmal. Meine Entscheidungsfreudigkeit ist um diese Zeit sehr eingeschränkt. Sicher ist, ich persönlich werde nur ein bisschen essen. Ein kleiner Salat oder so. Ich richte mich ganz nach Ihnen.“
Worauf er antwortet: „Salat. Nicht schlecht! Wir sitzen schon im Auto. Auf zum Lenbachplatz!“
„Sie sitzen am Steuer.“
Er startet. Wir fahren zum Lenbachplatz. Auf der Fahrt habe ich nochmals Gelegenheit festzustellen, dass Markus durchaus gut und sympathisch aussieht. Was mir schon beim letzten Mal auffiel, sind seine ausgesprochen schönen Hände. Durchaus kräftig, aber die Finger lang und knochig. Sein Gesichtsausdruck hat auch jetzt das verschmitzte, lausbubenhafte Lächeln. Also alles in allem wirklich kein Mensch, der einen Angst einjagen sollte. So wie sein Verhalten bisher war, ist es auch heute. Während des Anrufs, hat er offen und ehrlich geklungen. Genauso sieht er auch aus. Man möchte Vertrauen zu ihm zu haben. Ich bin wieder in Gedanken vertieft. Das Schweigen, das herrscht, fällt mir nicht auf. Als er spricht, schrecke ich beinahe zusammen.
„Ich habe Ihnen hoffentlich wirklich keine Unannehmlichkeiten gemacht als ich anrief?“, höre ich ihn sagen. „Erst als es schon läutete, kam mir die Idee, Sie wollten vielleicht gar nicht, dass ich anrufe. Sie hatten mir Ihre Nummer nicht gegeben. Aber ich wollte nicht einfach auflegen. Sie müssen entschuldigen.“
„Nun ja, mein Mann war schon sehr erstaunt, dass mein Zahnarzt anruft und mich zum Essen einlädt, aber ich habe ihm ein starkes Schlafpulver verabreicht. Bis morgen Früh schläft er durch“, erzähle ich und werde nicht rot dabei.
„Machen Sie das immer, dass Sie Ihrem Mann Schlafmittel verabreichen, wenn Sie abends aus dem Haus gehen wollen?“, will er ungläubig wissen.
Grinsend antworte ich: „Inzwischen ist er es gewöhnt.“
Jetzt lacht er und äußert die Vermutung: „Dann ist Ihr Mann bestimmt um die hundert und scheintot.“
„So ähnlich“, gebe ich zu. „Mein Mann lebt nicht mehr und Sie haben mit Ihrem Anruf auch keine vermeintlichen Kinder geweckt. Das wollten Sie doch wissen“, vermute ich.
„Ja, darauf habe ich wohl angespielt“, gibt er leise lachend zu. „Ich wollte wirklich nicht indiskret werden. So, da sind wir. Jetzt heißt es nur noch einen Parkplatz zu finden.“
Er hat Glück und kann sofort einparken. Wir betreten das Lokal. Sogar einen Tisch für zwei Personen ergattern wir. Wir sitzen uns am Tisch gegenüber. Nachdem wir ausgewählt haben, schaut er mich direkt an. Wenn ich doch nur wüsste, was er von mir will! Warum hat er mich heute angerufen? Es war doch an mir, mich zu melden. Irgendetwas funktioniert bei mir oder bei ihm nicht. Was findet er nur an mir? Ich bin nicht reich. Ich bin nicht sonderlich jung, fünfunddreißig, und sehe absolut normal aus. Braunes Haar, mit etwas Grau durchzogen, die Augen braun, grün, etwa ein Meter achtundsechzig, nicht schlank und nicht dick, Gesicht normal, und eine Stupsnase mitten drin. Das ist auch schon alles. Wirklich nichts Besonderes! Vielleicht erfahre ich den Grund heute.
Der Kellner kommt und wir bestellen.
Dann fährt Markus fort: „Ich will nicht weiter neugierig sein, aber was arbeiten Sie denn, wenn Sie abends zu Hause beschäftigt sind? Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen.“ Dabei lächelt er mich entwaffnend an.
Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass ich vom waagrechten Gewerbe bin. Wie soll ich da nicht antworten wollen? Übersetzen ist nichts Geheimnisvolles. Und so sage ich:
„Das ist kein Geheimnis. Mein Beruf hat nichts Schlechtes an sich. Was man sonst auch darüber sagen mag. Ich bin Prostituierte.“
Er hat sich gut in der Hand, denn seinem Gesicht ist keine Andeutung von Erstaunen oder gar Entsetzen anzumerken. Und wieder lächelt er und meint:
„Na, das vereinfacht mein Ansinnen um vieles.“ Und jetzt lacht er schallend.
Ich hätte jetzt aufstehen und das Lokal verlassen müssen. Die andere Variante wäre gewesen, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Ich mache nichts von alldem. Mit einem Schlag ist mir klar, er will nur das eine und hofft, ich bin dazu sofort bereit. Entgegen meinem gesunden Verstand bleibe ich wie angenagelt sitzen, als er auch schon fortfährt:
„Nein, im Ernst. Sind wir denn nicht alle in gewisser Weise versklavt oder prostituiert? Durch Steuern, Gesetze, die zu beachten sind, Regeln der Gesellschaft und so weiter? Nein, Ihre Antwort erstaunt mich in keiner Weise, auch wenn Sie sicherlich nicht die herkömmliche Art von Prostitution gemeint haben. Da hätten Sie vielleicht schon vor zwei Wochen anders reagiert.“
„Auch eine Hure geht privat nicht mit jedem ins Bett“, kontere ich.
Ich weiß nicht, weshalb ich ihm gesagt habe, dass ich eine Hure bin. Was wollte ich damit prüfen? Sein Verhalten? Im Innersten wollte ich ihn vielleicht dazu bringen, dass er nichts mehr von mir wissen will. Wahrscheinlich ist es das. Auf jeden Fall ging das Vorhaben daneben, denn auch darauf hat er die passende Antwort gefunden. Nun bin ich gezwungen die Erklärung abzugeben. Und so sage ich seufzend:
„Das war ein schlechter Scherz. Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß nicht welcher Teufel mich heute reitet. Ich bin Übersetzerin und Korrektorin. Da ich freiberuflich arbeite, mache ich das zu Hause. Vorteil: Man hat keine feste Arbeitszeit. Nachteil: Es gibt weder Feierabend, noch Wochenende oder Feiertag.“
„Das hört sich interessant an. Welche Sprache?“
„Türkisch und Englisch. Die Mischung ist zwar komisch, aber abwechslungsreich.“
„Allerdings, das kann man sagen. Englisch und Spanisch lernt man in der Schule, aber Türkisch stelle ich mir schwierig vor. Wo haben Sie das gelernt?“
„Ob Sie es glauben wollen oder nicht, in England. Mein Mann war Türke und hat dort studiert. Ich lernte notgedrungen Türkisch, weil er mit seinen Freunden oft in der Muttersprache gesprochen hatte. Na ja, um das zu vertiefen habe ich mich an der Uni eingeschrieben.“
„Ja“, wirft Markus ein, „jetzt ist mir das mit dem Familiennamen auch klar. Ich hatte mir schon Fragen gestellt, denn schließlich sehen Sie westeuropäisch aus. Haben Sie Kinder?“
„Nein“, erwidere ich, „heute weiß ich nicht ob ich es bedauern soll oder nicht. Vielleicht ist es besser so, denn Kinder alleine großzuziehen, ist kein Honigschlecken. Sind Sie verheiratet, Markus? Haben Sie Kinder?“
„Zum Leidwesen meiner Familie bin ich ein eingefleischter Junggeselle. Bisher konnte ich den Mut zu heiraten nicht aufbringen. Wahrscheinlich bin ich zu freiheitsliebend. Außerdem mit vierzig beginnt man sich Fragen zu stellen. Jetzt bin ich wohl auch zu alt eine Familie zu gründen. Obwohl viele Männer noch mit sechzig Kinder bekommen. Ist Ihr Mann in die Türkei zurückgekehrt?“
„Nein, er ist leider vor sechs Jahren in Istanbul verstorben. Nach seinem Tod blieb ich für drei Jahre dort. Dann jedoch zog es mich nach Deutschland und ich kam nach München.“
„Das tut mir aber Leid. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen. Es gehört sicher viel Mut dazu alleine in der Türkei zu leben, aber auch die Zelte abzubrechen und ein neues Leben in einer anderen Stadt zu beginnen.“
„So alleine war ich in der Türkei nicht. Die Familie meines Mannes war da. Sie wollten mich sogar wieder verheiraten. Natürlich habe ich abgelehnt.“
„Sie scheinen mir eine Weltenbummlerin zu sein. Meinen Sie nicht wir könnten uns duzen?“, fragt er wie aus heiterem Himmel.
Der Vorschlag kommt etwas unerwartet, aber ich willige ein.
Der Ober bringt unsere Salate.
Jetzt lege ich los und frage ihn ebenfalls aus.
„Weißt du, Markus, du hast mich ganz schön ausgefragt. Es macht mir auch nichts aus, denn ich habe nichts zu verbergen. Ich habe nichts Schlechtes getan. Trotzdem würde mich interessieren, weshalb du das alles wissen willst? Was willst du genau von mir?“
„Du schleichst nicht lange um den Brei herum. Im Grunde genommen hast du Recht. Schließlich sind wir keine Kinder mehr, die Verstecken spielen.“
Mir ist angst und bange vor dem was nun folgen wird. Im Stillen bereite ich mich darauf vor, die „Koffer zu packen“ und mit dem Taxi nach Hause zu fahren. Auf was habe ich mich nur eingelassen.
Und schon setzt Markus fort: „Ich will ganz ehrlich sein. Du gefällst mir. Das ist einfach so. Es begann schon, als du wie ein Häufchen Elend vor mir auf dem Stuhl gelegen hast. Natürlich konnte ich es damals nicht zeigen. Meine Devise ist, lass dich nicht mit Patientinnen ein. Daran habe ich mich bisher gehalten. Ich hätte auch nichts unternommen, wenn wir uns nicht zufällig im Kino über den Weg gelaufen wären. Es war Zufall. Das Schicksal hat mit einem Zaunpfahl gewinkt. Jetzt nehme ich die Herausforderung an. Als ich dich nach Hause begleitet und dir meine Telefonnummer gegeben habe, hatte ich schon das Gefühl, dass du nicht anrufen wirst, aber ich konnte es einfach nicht dabei belassen. Noch dazu, du warst nicht wirklich abweisend. Das musst du zugeben. Du bist nur zögerlich. Auch heute Abend habe ich den Eindruck, du hast dich über meinen Anruf gefreut. Irgendetwas in dir weigert sich jedoch. Vielleicht ist es das, was mich anzieht.“
Ich bin verblüfft über dieses Geständnis. Was soll denn der Zirkus? Will ich das überhaupt? Was soll ich antworten?
„Uff, das ist ja ein Ding. Was soll ich dazu sagen?“, stoße ich hervor.
Markus schüttelt den Kopf: „Ich nehme es als gegeben hin. Man sollte nicht immer nach einem Grund suchen. Vielleicht ist das die Liebe auf den ersten Blick. Zwar habe ich nie daran geglaubt, anscheinend habe ich mich getäuscht. Was kann man da tun?“
Ich kann nicht von Liebe reden. Von Liebe auf den ersten Blick schon gar nicht. Er ist ein gut aussehender Mann, der durchaus eine Anziehungskraft auf mich ausübt, aber dann gleich von Liebe zu sprechen. Das geht mir zu weit.
Bis jetzt haben wir unsere Salate nicht angerührt. Wir sind zu sehr ins Gespräch vertieft. Ein Themawechsel ist angebracht, deshalb sage ich:
„Lass uns den Salat essen, bevor er welk wird. Guten Appetit, Markus.“
Er lächelt mich an. Auch er scheint sich erst jetzt an den Teller zu erinnern, der vor ihm steht.
„Du hast Recht. Essen wir ein wenig. Guten Appetit, Angelika.“
Wir essen schweigend. Ich vermeide es ihm ins Gesicht zu schauen. Die ganze Angelegenheit geht mir zu schnell. Es stimmt, er ist nicht abstoßend, aber von da gleich auf Liebe zu schließen, das kommt mir weit hergeholt vor. Und außerdem, was soll das überhaupt heißen: Liebe. Jeder legt das Wort aus, wie es ihm in den Kram passt. Die Eröffnungen, die mir Markus gemacht hat, verblüffen mich. Er kennt mich doch gar nicht. Und ich halte ihn nicht für den Typ, der gleich sentimental wird und sich in die Erstbeste verliebt, die ihm über den Weg läuft. Zumindest war das mein Eindruck bisher. Aber, ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Lauter unbeantwortete Fragen, die ich nicht laut stellen will. Das Beste ist bestimmt, ich verabschiede mich jetzt, bedanke mich für die Einladung und gehe. Auf der anderen Seite ist es feig, „Fahrerflucht“ zu begehen. Bin ich wirklich so naiv, dass ich dieses Ende nicht voraussehen konnte? Besonders nachdem er mich heute anrief? Ich kann mir also getrost eine Mitschuld einräumen. Ich bin verpflichtet, Markus reinen Wein einzuschenken. Aber wie? Das ist die große Frage. Heute Abend jedoch glaube ich nicht, dass es der richtige Augenblick ist. Das Beste ist, das Ganze erst einmal zu überschlafen.
Ich habe nicht viel von meinem Salat gegessen. Auch Markus lässt die Hälfte zurückgehen. Der Kellner zieht die Augenbrauen erstaunt hoch, als sein Blick auf die halbvollen Teller fällt. Er will wissen, ob es nicht geschmeckt hat. Wir beruhigen ihn und bestellen zwei Espresso.
Der Kellner bringt den Kaffee. Markus bittet ihn um die Rechnung. Ich ziehe den Geldbeutel heraus. Diesmal möchte ich bezahlen, doch Markus wehrt ab. Um nicht zu sehr aufzufallen, gebe ich schließlich klein bei. Dann also das nächste Mal, wenn es noch ein nächstes Mal gibt.
Als wir aufstehen und das Restaurant verlassen ist es beinahe Mitternacht.
Markus bringt mich nach Hause. Während der Fahrt liegt bleiernes Schweigen über uns. Es ist noch so vieles oder gar nichts zu sagen. Sicherlich ist es sinnvoll, wir schweigen uns heute Nacht aus.
Vor meiner Haustür angekommen sagt Markus: „Gute Nacht und schlaf gut. Vergiss was ich dir gesagt habe. Wahrscheinlich hatte ich einen schlechten Tag. Nimm es mir nicht übel. Es kommt nicht oft vor. Das verspreche ich dir.“
„Gute Nacht, Markus, komm gut nach Hause und schlaf gut. Ich nehme an, wir hatten beide keinen guten Tag. Das kommt in den besten Familien vor.“ Mit diesen Worten steige ich aus. Als ich um das Auto herumgehe, öffnet er die Wagentür und kommt mir entgegen. Den Motor hat er nicht abgestellt. Er nimmt mich an den Schultern. Noch bevor ich es richtig wahrgenommen habe, drückt er mir einen Kuss auf die rechte und die linke Wange und setzt sich wieder ins Auto. Ich stehe noch ganz benommen und erstaunt auf der Straße, als er losfährt. Entgeistert und mechanisch hebe ich die Hand und winke ihm kurz nach. Vollkommen in Gedanken versunken schließe ich die Haustür auf und steige in den dritten Stock hinauf. Wie üblich ignoriere ich den Fahrstuhl.
In meiner Wohnung angekommen, setze ich mich so wie ich bin, das heißt in Mantel und Schuhen in einen Sessel. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Bin ich verrückt, oder ist er es, oder sind wir es beide? Auf jeden Fall verstehe ich die Welt und mich selbst nicht mehr. Was ist nur geschehen?
Vor einem Jahr ungefähr habe ich die Drei-Zimmer-Wohnung mit großer Küche, Bad und getrenntem WC erstanden. Nun bin ich dabei mir ein heimeliges Nest einzurichten. Ich habe mich auf ein ruhiges Leben vorbereiten wollen, ohne Eindringen eines Fremden. Das soll nicht heißen, Männer bleiben aus dieser Welt ausgeschlossen. Nein, ganz und gar nicht! Nur alles Sentimentale in dieser Beziehung kommt nicht mehr in Frage. Es ist zu kompliziert
*
Meine Ehe mit Mustafa war glücklich und sein Tod war ein schwerer Schlag. Im ersten Augenblick fragte ich mich damals, ob es sich überhaupt lohnt ohne ihn weiterzuleben.
Schließlich habe ich die Lebensfreude wieder gefunden. Das Leben in Istanbul war nach Mustafas Tod nicht immer einfach, aber dank seiner Familie hatte ich es geschafft. Das ging so lange gut, bis sie zu zudringlich wurden und mich unbedingt verheiraten wollten. Anschließend hatte ich alles verkauft, was wir in Istanbul besessen hatten. Das Geld schickte ich nach Deutschland. Ich kam nach München und kaufte mir später diese Wohnung.
Meine Erinnerung an Mustafa ist verblasst gewesen. Alles was mich an ihn erinnert, hatte ich in Istanbul zurückgelassen. Nur ein kleines Bild bleibt mir von ihm. Es begleitet mich überall hin. Mein Talisman. Heute Abend wurde alles wieder in mir wach gerüttelt, als ob es gestern geschehen wäre. Ach, wäre dieser halbverrückte Zahnarzt mir doch nie begegnet.
Nun sitze ich hier in meinem Sessel und habe das Gefühl, Mustafa ist bei mir. Die Vergangenheit ruft sich in Erinnerung. Alles, was ich so mühselig ausgelöscht hatte. Ich habe das Gefühl, Mustafa spricht mit mir. Seine weiche, leise Stimme. Eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken. Nach sechs Jahren! Ich weiß doch, du lebst nicht mehr. Weshalb nur das alles? Und ich fange an zu weinen. Jeden Gedanken, den ich fasse um mich abzulenken macht es nur noch schlimmer.