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Neuer Individualismus – oder einfach Egoismus?

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Wirft man einen Blick auf die Liste der Gründe, die zu einer Fernbeziehung führen, hört sich das meist sehr ehrgeizig und ich-bezogen an. Ganz oben stehen nämlich persönliche Freiheit, Karrierechancen und bessere Verdienstmöglichkeiten. In der Tat haben mehr als 80 Prozent aller Distanz-Liebenden eine gehobene Schulbildung, und während bei Berufspendlern der Männeranteil überwiegt, führen bei klassischen Fernbeziehungen mit zwei voneinander getrennten Haushalten Frauen mit 58 Prozent die Riege der Mobilen an. Und diese gut ausgebildeten Frauen sind nicht mehr – wie noch in den 50er Jahren – bereit, dem Mann bei einem Berufswechsel hinterherzuziehen. Sie wollen verständlicherweise auch ihre Chancen nutzen und Karriere machen.

Generell – so eine im Auftrag von Immobilien Scout 24 unter Personalberatern und Headhuntern durchgeführte Emnid-Studie – wechselt ein Berufsanfänger heute im Schnitt sechsmal, in manchen Branchen sogar achtmal den Job: Denn Mobilität, die mit einer beschleunigten Industrialisierung einsetzte (um 1900 war bereits jeder vierte Beschäftigte unter den Bergleuten im Saargebiet Wochenendpendler), steht als Synonym für geistige Beweglichkeit, Engagement, Dynamik und Einsatzbereitschaft – also für Erfolg. Daneben verlangt die Arbeitsmarktsituation Beschäftigten immer mehr Flexibilität ab. So löste beispielsweise der Fall der Mauer 1989 eine Schwemme an Liebespendlern zwischen den alten und neuen Bundesländern in Deutschland aus, gefolgt von einer neuen Hauptstadt, die für Beamte, Politiker und Mitarbeiter internationaler Organisationen und Firmen einen Umzug von Bonn nach Berlin bedeutete. Die EU-Erweiterung und die zunehmende Globalisierung lassen die Welt stärker zusammenrücken und bescheren gerade Arbeitnehmern großer Konzerne durch Expansion und die Fusionen der jüngsten Tage ein Filialnetz, das rund um den Globus bedient werden möchte – nicht selten sind Long-Distance-Beziehungen die Folge. Diesen Trend bestätigt das Ergebnis einer Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers aus dem Jahr 2002: 69 Prozent der dort befragten europäischen Unternehmen stimmten zu, dass ihr Bedarf an beruflich mobilen Arbeitskräften in den kommenden fünf Jahren „stark“ (22 Prozent) bzw. „etwas“ (47 Prozent) steigen wird. Außerdem sorgt die weit verbreitete Arbeitslosigkeit für eine weitere Schwemme an Pendlern, denn wenn sie nach langem Suchen endlich eine Stelle ergattern, befindet sich diese vielfach nicht an ihrem Wohnort.

Neben all diesen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt hat sich in den Augen des Mainzer Soziologieprofessors Norbert Schneider auch das Partnerschaftsideal gewandelt – nämlich vom Fusionspaar hin zum Assoziationspaar. „Das heißt, zwei Ichs verschmelzen nicht mehr ausschließlich zum Wir. Nein. Durch die neue Bedeutung der Autonomie, der Selbstständigkeit jedes Einzelnen, der nach mehr Wahlmöglichkeiten sucht, nimmt das Ideal der Assoziation immer stärker zu. Dabei tun sich zwei Ichs zusammen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, leben aber trotz dieses Wir, jeder für sich auch sein Ich“, erklärt Schneider. Dadurch können sich Kreativität und Persönlichkeit (erst mit 50 Jahren verfestigt sich das Ich-Profil) optimal entfalten, was in den Augen von Psychologen nur möglich ist durch genügend Allein- bzw. Eigenzeit.

Das beflügelt natürlich die neue Partnerschaftsform der Fernbeziehung, die eine eigenständige Qualität und einen eigenständigen Charakter besitzt. Hat die Generation unserer Eltern sich kennen gelernt, verlobt und geheiratet und kam Anfang der 70er Jahre die wilde Ehe in Mode, gibt es heute eine weitere Option: ein Paar zu sein, ohne zusammenzuwohnen. Der neue Charakter dieses Liebesmodells ist geprägt von Individualismus, Selbstständigkeit, gemeinsamen wie singulären Aktivitäten. Alltagsprobleme wie „Wer bringt den Müll raus, wäscht, kauft ein oder bügelt?“ stellen sich nicht. Stattdessen wird zusammen überlegt, wie man die gemeinsame Zeit möglichst schön gestaltet. Also sind Distanzliebende keine egoistischen Gefühlskrüppel, sondern selbstbestimmte Glücksritter, die ihren Bedürfnissen gemäß leben und lieben. In diesem Zusammenhang von einem neuen Egoismus zu sprechen hält Soziologe Schneider für unangebracht, denn egoistische Menschen gab es seiner Meinung auch in der Vergangenheit. „Außerdem“, weiß der Wissenschaftler, „liegt die Zahl der 20- bis 55-Jährigen, die keine Partnerschaft anstreben, gerade mal bei drei bis vier Prozent. Das heißt, alle anderen wollen eine Beziehung, was immer ein Stück weit Anpassung und Aufgabe der persönlichen Selbstbestimmung verlangt.“

Andererseits entstehen Fernbeziehungen ja nicht nach dem Motto: „Italien ist nett, tolle Mode, Eiscreme, Sonne – da suche ich mir jetzt eine süße Pendelliebe“, sondern man wird mit einer solchen Situation spontan konfrontiert: sei es, indem der Partner oder man selbst ein tolles Jobangebot erhält bzw. einen Amors Pfeil im Urlaub oder bei einem Abendessen mit Freunden unvermittelt trifft ...

Allerdings verringert sich mit zunehmendem Alter die Bereitschaft zum Hin- und Hertingeln insbesondere bei Fernbeziehungslovern, während sie bei Berufspendlern eher zunimmt. Der Grund: Klassische Fernbeziehungen mit zwei voneinander getrennten Haushalten treten häufig am Beginn einer Partnerschaft und vor der intensiven Familienphase auf. Und da wir nach Ansicht des Hamburger Trendforschers Peter Wippermann immer weniger erwachsen werden, dafür länger unsere Individualisierung leben möchten, tritt die Familienphase immer später ein. „Insgesamt nimmt die Attraktivität von Autonomie und Unabhängigkeit für Frauen um die 35 Jahre, die nun nach mehr Sicherheit und Geborgenheit suchen, deutlich ab“, weiß Schneider. Das bestätigt beispielsweise auch die 33-jährige TV-Journalistin Tanja S.: „Nach vier Jahren Pendeln habe ich persönlich und beruflich einen Status erreicht, wo ich gefestigt genug bin, auch mal Kompromisse einzugehen“, resümiert die Berlinerin, die sich demnächst an das Kinderthema heranwagen möchte. Klappt es, ist sie bereit, alles aufzugeben und zu ihrem Mann ins Silicon Valley zu ziehen.

Freiheitsliebende Männer dagegen, denen biologisches Uhrgeticke fremd ist, können sich zum Teil erst mit Eintritt in den Ruhestand vorstellen, ihr Zugvogel-Dasein an den Nagel hängen. Dazu Koch und Liebespendler Klaus Göggerle: „Vielleicht zieht man im Alter, wenn man sich zur Ruhe setzt, doch zusammen, weil man es gemütlicher haben will und nicht mehr so viel rausmöchte“, sinniert der 54-Jährige, der im Moment in seiner Fernbeziehung zur Altenpflegerin Uli nichts vermisst. Außer, dass er nicht so „bemuttert wird“ und seine Wäsche selbst waschen muss. Und das ist einer der Gründe, warum Frauen, die schlechte Erfahrungen in puncto Zusammenwohnen gemacht haben, neue Bekanntschaften gerne an die lange Leine nehmen. So besteht zum Beispiel ein Drittel aller Alleinerziehenden auf getrennten Haushalten – Tendenz steigend. „Ich möchte einen Mann nicht mehr so nahe an mich heranlassen“, sagt etwa die Heidelberger Steuerfachgehilfin Susanne W., die ihr Leben mit Sohn Julian gut im Griff hat und nicht mehr bereit ist, für eine weitere Person zu waschen, zu putzen und den Haushalt zu schmeißen: „Denn wer weiß, wie lange das gut geht. Ich bin schon mal gescheitert und wer gibt mir die Sicherheit, dass es diesmal funktioniert?“, resümiert die 35-Jährige, die zudem die Freiheit schätzt, die ihr eine Fernbeziehung einräumt.

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