Читать книгу Weit hinter dem Horizont - Christine Lawens - Страница 12
ОглавлениеKapitel 6
Florence ging über den Marktplatz. Sie fühlte sich ruhig und ausgeglichen, zumindest redete sie es sich ein. Sie hatte eine ganz normale, völlig verständliche Aufregung verspürt, da sie immer noch an die Zeilen ihrer Mutter denken musste. Sie ging zum Blumenstand und kaufte ein paar Schnittblumen und frisches Obst.
»Die kleine Letrec wird auf andere Weise dafür büßen«, sagte eine ältere Frau.
Florence hörte diesen Satz ganz deutlich und räusperte sich neben der Person. »Niemand außer Gott hat das Recht, über mich oder meine Familie zu richten, Madame Cabrol.«
Plötzlich trat eine Totenstille ein, als Florence sich wieder umdrehte. Die Menschen unterbrachen ihre jeweiligen Tätigkeiten, alle Blicke richteten sich auf sie, einige alte Frauen bekreuzigten sich, als sie vorüberging, und eine Schwangere zog ihre Kinder eng zu sich her. Bei einigen der gemurmelten Kommentare war das Wort »Kerridwen« zu hören, der doppelte Mond, die Göttin, die zugleich Dämon ist.
Florence ignorierte den Vorfall und sah das kleine Geschäft mit dem Namen »Pâtisserie«. In Paris gab es Hunderte davon. Nur das hier war neu. Sie ging hinein und sah sich um. Plötzlich stand eine junge hübsche Frau vor ihr und machte große Augen.
»Florence?«
»Das glaube ich jetzt nicht. Angélique?«
Die beiden Frauen fielen einander in die Arme und juchzten wie kleine Kinder.
»Was machst du hier?« Florence sah Freudentränen in Angéliques Augen schimmern.
»Ich besuche meine Großmutter. Sie ist krank.«
»Ja, ich habe so was schon gehört, es ist doch nichts Ernstes?«
»Nein. Na ja, eine verschleppte Lungenentzündung. Sie ist aber auf dem Weg der Besserung.«
»Bestell ihr schöne Grüße von mir.«
»Arbeitest du hier?«
»Dieser Laden gehört mir. Komm, schau dich mal um. Wir backen die süßen Galette-Kekse, verkaufen Butterkuchen aus Douarnenez und Teekuchen aus Vannes. Und wir organisieren Hochzeiten und Taufen.«
»Das ist toll.«
»Hast du Zeit für eine Tasse heiße Schokolade?«
»Ja, gerne.«
Florence folgte Angélique in ein gemütliches Hinterzimmer, das wie eine Profiküche eingerichtet war.
»Setz dich.«
»Seit wann hast du den Laden?«
»Seit zehn Jahren. Kurz nachdem du das letzte Mal hier gewesen bist, habe ich ihn eröffnet. Auch Pierre hat sich selbstständig gemacht. Er hat ein Restaurant in der Rue du Prieuré und einige Zimmer, die er vermietet. Es läuft gut.«
»Schön, wenn Geschwister so gut zusammen harmonieren.«
Angélique strahlte und nickte nur.
»Und was macht dein Bruder Serge?«
Florence spürte Angéliques Verwirrung. »Äh … das weißt du nicht?«
Florence schaute fragend zurück. »Was soll ich wissen?«
»Er leitet doch euer Unternehmen. Deine Großmutter hat ihn zum Geschäftsführer gemacht. Obwohl sie doch immer gegen eure damalige Beziehung war.«
»Ich … ich dachte, er sei in Brest bei der Marine.« Florence hatte das Gefühl, als habe ihr jemand einen Schlag in die Magengegend versetzt.
»Er war bei der Marine und war während der Zeit auf Urlaub hier, und na ja, kurz und gut. Dann hat er bei euch in der Firma angefangen und abends über ein Fernstudium seinen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. Und du wirst es nicht glauben. Er hat alle Romane von dir. Er hat sie mir ausgeliehen, und ich dachte, ich müsste einen Vertrag unterschreiben, dass ich sie ihm unversehrt wieder zurückgebe. Er liest sogar Molière, Sartre und Simone de Beauvoir.«
»Wo wohnt er jetzt? Ist er verheiratet?« Florence wusste gar nicht, was sie zuerst fragen sollte. Sie war völlig verwirrt.
»Er wohnt in unserem Elternhaus. Meine Mutter leidet an Alzheimer und ist in einem Pflegeheim. Verheiratet ist er nicht. Er hatte damals in Brest eine Beziehung. Aber die ging in die Brüche. Seitdem lebt er allein.«
Florence spürte eine Welle von Zuneigung in sich aufsteigen, als sie Angéliques vertrautes Gesicht sah, den liebevollen Blick, der ihr galt, als Angélique die beiden Tassen auf den Tisch stellte. Nur wenigen Menschen gegenüber konnte sich Florence so offen zeigen wie der jungen Frau, die ihr nun gegenübersaß. »Wie schön, dich zu sehen!«
Lachend griff Florence nach Angéliques Hand, um sie anschauen zu können. Strahlende braune Augen blickten ihr aus dem von kurz geschnittenen kastanienbraunen Haaren umgebenen Gesicht entgegen. Angélique schien noch wie früher zu sein.
»Als du plötzlich im Laden standest, konnte ich es gar nicht fassen. Florence, du hast dich kaum verändert.« Angélique musterte Florence rasch. Sie tat es schnell, weil sie – wie Florence wusste – alle Dinge mit großer Schnelligkeit erledigte, nicht, weil sie oberflächlich war. »Du bist ein wenig zu dünn«, stellte sie fest. »Vielleicht kommt es mir aber auch nur so vor, weil ich auf deine Figur neidisch bin.«
»Du siehst noch genauso fantastisch aus wie früher. Und aus mir spricht ganz gewiss der Neid.«
Angélique lachte, doch gleich darauf wurde sie ernst. »Es tut mir leid, dass deine Großmutter krank ist. Hoffentlich wird sie bald wieder gesund. Sie ist doch so ein lieber Mensch.«
Florence tat Angéliques Mitgefühl gut, obwohl sie ihren Schmerz inzwischen überwunden und etwas Abstand gefunden hatte.
»Wie lange wirst du bleiben?«, fragte Angélique.
»Das kann ich nicht genau sagen. Es gibt für mich einiges in der Gegend zu tun.«
»Auf keinen Fall solltest du versäumen, ab und zu im L’océan zu essen.«
»Es ist mir vorhin bereits aufgefallen. Und das gehört Pierre?«
»Ja. Ich habe dort vor drei Jahren meine Hochzeit gefeiert«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. Sie hob ihre rechte Hand und deutete auf den Ring. »Es hat mich einige Jahre meines Lebens gekostet, ihn davon zu überzeugen, dass er ohne mich nicht leben kann.«
»Ich freue mich für dich«, sagte Florence. »Du hast einen Mann, ein Geschäft! Meine Großmutter hat mir nie Neuigkeiten von hier berichtet. Dabei war ich wirklich sehr neugierig.«
»Und ich habe eine kleine Tochter. Nina ist zwei Jahre alt. Komischerweise ist sie nach Serge geraten.« Angélique schaute nun wieder ernst drein. Sie legte die Hand leicht auf Florence’ Arm. »Du wirst ihn wiedersehen.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Wenn es sich ergibt.« Florence bemühte sich um Gelassenheit. Sie durfte sich nicht von der Besorgnis in Angéliques Blick beeindrucken lassen. Sie wusste, dass es zwischen Angélique und Serge außer der Geschwisterbeziehung das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer festen Gemeinschaft in Locronan gab. »Vielleicht besuche ich ihn mal in der Firma.«
Angélique betrachtete prüfend Florence’ Gesicht. »Weißt du, was du tust?«
»Ja«, antwortete Florence und verbarg ihr Unbehagen. »Ja, ich weiß es«, bekräftigte sie.
»Dann ist ja gut.« Angélique zog ihre Hand zurück. »Bitte schau irgendwann mal wieder bei mir rein, entweder hier im Laden oder bei mir zu Hause. Wir wohnen nicht weit von Serge entfernt. Mein Mann wird garantiert mit dir plaudern wollen, und ich möchte dir gern Nina vorstellen.«
»Natürlich werde ich kommen.« Impulsiv ergriff Florence Angéliques Rechte. »Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen. Es war nicht nett von mir, nichts mehr von mir hören zu lassen, aber …« Sie biss sich auf die Lippe.
»Ich verstehe dich«, versicherte Angélique. »So, jetzt muss ich aber schleunigst zurück nach vorne. In der Nebensaison, wenn nicht so viele Touristen hier sind, geht unser Versandservice sehr gut.« Sie seufzte und schien zu überlegen, ob Florence tatsächlich so gelassen war, wie sie vorgab. »Hier, nimm noch einen Kuchen mit für dich und deine Großmutter. Ich will aber wissen, wie er euch geschmeckt hat.«
»Danke. Sehr lieb von dir.«
Florence verließ den Laden und schlenderte noch ein wenig über den Marktplatz. Dann entschied sie sich, etwas Kleines essen zu gehen. Sie brachte rasch ihre Einkäufe zu ihrem Wagen. Es war kurz nach ein Uhr, als Florence im L’océan eintraf. Das Restaurant gefiel ihr auf Anhieb. Es machte keinen feinen, aber einen sehr gemütlichen Eindruck. Hier herrschte eine andere Atmosphäre als in den vornehmen Restaurants von Paris, in denen sie mit Patrick oder Bekannten zu speisen pflegte. Dieser Raum wirkte einladend und heimelig.
Gemälde und Drucke von Fischerszenen und Schiffen aller Art zierten die weiß verputzten Wände. Weiteres Schiffszubehör fand sich als Dekoration im ganzen Restaurant. Ein Kompass, dessen Messingarmaturen glänzten. Ein großes, buntes Dreiecksegel war hinter der Bar drapiert. Unter der Decke hing ein Ausguck, aus dem üppiger Farn wucherte.
Es war Mittagszeit, und viele Paare und Familien waren anwesend, da die Herbstferien begonnen hatten. Es roch gut und verlockend, und das leise Geräusch von Stimmen übte eine beruhigende Wirkung auf Florence aus.
Während sie sich umschaute, stellte sie fest, dass hinter der gemütlichen Atmosphäre ein gut organisierter Betrieb funktionierte. Die Kellner und Kellnerinnen waren flink, ohne zwischen den Tischen zu hetzen. Die Fenster ermöglichten einen herrlichen Ausblick auf die Außenterrasse, den schönen Garten und den Kirchturm.
»Florence!«
Sie erkannte die Stimme sofort. Lächelnd drehte sie sich um.
»Pierre, ich freue mich, dich zu sehen«, begrüßte sie den Bruder von Serge und Angélique.
Auf seine ruhige, überlegte Art betrachtete Pierre sie. »Schön wie eh und je«, meinte er dann. »Angélique hat es mir zwar gerade schon am Telefon gesagt, aber es gefällt mir natürlich sehr viel besser, es mit eigenen Augen festzustellen.«
Florence lachte. In Pierres Gegenwart fiel es ihr leicht, sich zu entspannen, ausgelassen und fröhlich zu sein, da Angélique ihr ja bereits einiges erzählt hatte.
»Wie ich hörte, gab es in eurer Familie gleich mehrere Anlässe, um zu gratulieren. Die Hochzeit deiner Schwester, deine kleine Nichte und dein eigenes Restaurant.«
»Ich nehme alle Glückwünsche dankend entgegen. Darf ich dir als Gegenleistung den besten Tisch des Hauses anbieten? Einer so erfolgreichen Schriftstellerin.«
»Mit weniger habe ich nicht gerechnet.« Florence hakte sich bei Pierre ein. »Du machst einen zufriedenen Eindruck«, bemerkte sie, während Pierre sie zu einem Tisch am Fenster führte. »Und einen glücklichen.«
»Das bin ich auch.« Pierre strich mit den Fingern leicht über Florence’ Hand. »Es tut mir leid … dass deine Großmutter krank ist, Florence.«
»Danke, Pierre. Sie ist auf dem Wege der Besserung.«
Pierre nahm Florence gegenüber Platz. Seine Augen hatten einen viel sanfteren und weicheren Ausdruck als die seines Bruders. Es war Florence immer ein Rätsel geblieben, warum Pierre mit dem verträumten Blick, ein ehemaliger Fischer, und Serge, der immer zur Marine wollte, so unterschiedlich sein konnten.
»Schön, dass du wieder hier bist«, sagte Pierre. »Wir haben dich vermisst – wir alle.«
»Alle?«
»Ja, alle.«
Florence faltete die weiße Stoffserviette auseinander und wieder zusammen. Wie gerne hätte sie jetzt eine Zigarette geraucht.
»Es ändert sich vieles im Laufe der Zeit«, meinte sie. »Du und Angélique gebt dafür das beste Beispiel ab. Als ich damals fortging, hatte ich den Eindruck, dass du deine kleine Schwester für so etwas wie eine lästige Plage hieltest. Habe ich mich etwa so sehr getäuscht?«
»Daran hat sich nichts geändert«, behauptete Pierre und lachte. Er schaute zu der jungen Kellnerin mit dem rötlichen Pferdeschwanz auf, die an ihren Tisch getreten war. »Das ist Simone, sie wird sich gut um dich kümmern. Simone, das ist Florence Letrec.« Er warf Florence einen schelmischen Blick zu. »Oder sollte ich dich lieber als die Schriftstellerin Florence Letrec vorstellen?«
»Nein, nein«, antwortete Florence schmunzelnd.
»Madame Letrec ist unser Gast, ein ganz besonderer Gast«, erklärte Pierre der Kellnerin. »Wie wäre es mit einem Aperitif vor dem Essen, Florence? Oder einem Glas Wein?«
»Sancerre«, ertönte eine tiefe männliche Stimme. »Gut gekühlt.«
Seine Worte schienen von weither zu kommen, obwohl er neben dem Tisch aufgetaucht war. Florence spürte, wie seine Stimme in ihrem Körper vibrierte. Ihr Herz hatte einen Aussetzer, bevor es stolpernd weiterschlug. Die Luft im Lokal war greifbar, war dicht und waberte wie Nebelschwaden vor ihr. Wie ein elektrisches Pulsieren breitete sich in Florence’ Magengegend, in ihrem ganzen Inneren langsam ein Wiedererkennen aus; die Erinnerung erwachte nicht erst in ihrem Kopf, sondern in ihrem Körper. Dann zwang sie sich, gelassen zu Serge aufzublicken.
Die braunen Locken fielen ihm in die Stirn. Unter den reifen Gesichtszügen und dem Dreitagebart entdeckte sie Spuren eines Jugendgesichts. Nur die Linien um Augen und Mund waren tiefer geworden.
»Madame hat eine Vorliebe für den Weißwein von der Loire, Simone.«
»Jawohl, Monsieur Renaud«, antwortete Simone ehrerbietig.
Bevor Florence etwas erwidern konnte, war die Kellnerin davongeeilt.
»Hallo, Serge«, begrüßte Pierre seinen Bruder. »Es ist jedes Mal von Neuem erstaunlich, wie du die Bedienung auf Trab bringen kannst.«
Serge zuckte mit den Schultern und legte die Hand auf die Stuhllehne seines Bruders. »Ich habe Appetit auf Hummersalat mit Artischocken.«
Die Atmosphäre war seit Serges Erscheinen angespannter geworden, und jeder der drei bemühte sich nach Kräften, das zu ignorieren.
»Den kann ich wärmstens empfehlen«, sagte Pierre eifrig zu Florence.
»Ich werde ihn probieren. Leistest du mir dabei Gesellschaft?« Sie lächelte Pierre an, als spüre sie den düsteren Blick des Mannes an seiner Seite nicht.
»Das kann ich leider nicht. Ich bin nicht nur der Restaurantbetreiber, sondern auch der Koch. Vielleicht schaffe ich es, mich später noch ein Weilchen zu dir zu setzen.«
Pierre warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu, bevor er ging.
Nachdem Pierre in der Küche verschwunden war, nahm Serge unaufgefordert den Platz seines Bruders ein. Florence richtete sich kerzengerade auf.
»Was soll das, Serge? Du hast zwar das Recht, dich im Restaurant deines Bruders aufzuhalten, aber ich bin sicher, dass du meine Gesellschaft zum Mittagessen ebenso wenig möchtest wie ich deine«, sagte sie steif.
»Mit dieser Vermutung irrst du, liebe Florence.« Er lächelte der Kellnerin zu, die den Wein brachte, und fügte hinzu: »Tut nichts zur Sache.«
Während Simone den ersten Schluck in Serges Glas goss, saß Florence stumm und mit unbeweglicher Miene am Tisch. Sie hielt es für unschicklich, die Diskussion in Gegenwart der Bedienung fortzuführen, und wollte warten, bis diese gegangen war.
Serge hob das Glas an die Lippen. »Er ist gut«, befand er dann. »Danke, Simone, ich werde selbst eingießen.«
Die Kellnerin nickte und stellte die Flasche auf den Tisch. Danach legte sie zwei Speisekarten daneben und zog sich zurück.
Serge ergriff die Flasche und füllte Florence’ Glas. »Da wir uns beide für dasselbe Restaurant entschieden haben, können wir uns einem kleinen Test unterziehen.«
Florence antwortete nicht. Sie trank von ihrem Wein. Er war kühl und trocken. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie zum ersten Mal eine Flasche Sancerre mit Serge geteilt hatte. Damals hatten sie auf dem Boden in einem Zimmer des kleinen Hauses gesessen, das direkt an sein Elternhaus angebaut war. Seine Großmutter hatte bis zu ihrem Tod dort gelebt, und danach bewohnte es Serge. Es war die Nacht gewesen, in der sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Florence nahm einen zweiten Schluck.
»Was für einen Test?«, fragte sie schließlich.
»Wir haben heute Gelegenheit festzustellen, ob wir beide es schaffen, ein zivilisiertes Mahl zu uns zu nehmen. In der Öffentlichkeit zu speisen gehört zu den Dingen, zu denen wir früher nie kamen.«
Florence runzelte die Stirn und beobachtete, wie Serge sein Glas hob. Sie hatte ihn niemals Wein aus einem Weinglas trinken sehen. In seinem Domizil hatte es nur Plastikbecher gegeben. Das Kristallglas wirkte in seiner Hand sehr zerbrechlich, die Farbe des Weines hell und rein, ganz anders als der unergründliche Ausdruck der dunkelbraunen Augen Serges.
Ihre Großmutter hatte es nie gutgeheißen, wenn sie mit Serge ausgegangen war, den sie als eine Art unteres Volk betrachtet hatte. In gewisser Weise war jetzt vieles anders. Wie ein Schwarm Tauben, die auf dem Boden aufgeschreckt worden waren, flatterten die Gedanken ihr durch den Kopf. Sie sah einen Neunzehnjährigen, der unbekümmert und ohne Lebensplanung nur in der Gegenwart lebte. Und nun saß ihr ein gut aussehender Mann in Anzug und Krawatte gegenüber. Ein Betriebswirt, der ihre Romane gelesen hatte. Serge war Großmutters Angestellter, was sie immer noch nicht richtig verstand. Sie wollte aber zu diesem Zeitpunkt diesbezüglich keine Fragen stellen. Sie hatte andere Fragen zu klären.
Impulsiv hob auch sie ihr Glas und prostete Serge zu. »Auf unser Wiedersehen.«
»Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« Serge stieß leicht mit ihr an und ließ sie keine Sekunde lang aus den Augen. »Dunkelblau steht dir ausgezeichnet«, sagte er und betrachtete ihren Pullover. »Es ist das Blau einer sternenklaren Nacht, die deine Haut so hell, so zart wirken lässt wie etwas, das man sehr, sehr vorsichtig berühren muss.«
Florence starrte ihn an. Der leise, vertraute Ton seiner Stimme hatte sie immer eigenartig berührt. Nun hatte er mit seinen Worten eine geheimnisvolle Atmosphäre geschaffen, der sie sich nicht entziehen konnte. Manche Dinge änderten sich nie.
Serge lehnte sich zurück. »Wie schmeckt dir der Wein, Florence? Vielleicht hätte ich mich vorher erkundigen sollen, ob sich dein Geschmack gewandelt hat.«
»Der Wein ist sehr gut.« Florence nahm erneut einen Schluck und legte anschließend beide Hände um den hohen Stiel, als könne sie an ihm Halt finden.
»Bist du verlobt?« Sein Blick fiel auf ihren Ring.
»Ja. Er heißt Patrick Bonnaire, und er ist Anwalt.« Florence wickelte sich eine Haarsträhne um den rechten Zeigefinger. »Mein Privatleben ist etwas kompliziert.« Aus lauter Verlegenheit über dieses unvermutete Geständnis hob sie ihr Weinglas an.
»Vielleicht hast du ein Bedürfnis nach Komplikationen.«
»Es muss wohl so sein«, antwortete sie mechanisch. Serge hatte sich seine Eigenart, nicht lange drum herumzureden, offenbar bewahrt. Die Erinnerungen hatten mit seinem Aussehen begonnen, nun war da seine Direktheit, und auf einmal stürzte Florence in einen überfüllten Speicher voller Bilder, die sie eigentlich nie wieder hatte anschauen wollen. Sie verdrängte sie mit aller Macht. Sie riss sich zusammen und beschloss, ihre Gefühle genauso ordentlich in verschiedene Schubladen zu packen wie ihre Kleidung zu Hause.
»Angélique und Pierre sehen gut aus«, bemerkte sie, um das Thema zu wechseln. »Es freut mich, dass deine Schwester Mutter geworden ist. So habe ich es mir damals schon vorgestellt, die perfekte Maman.«
»Ja, sie ist eine gute Mutter.« Serge hob sein Glas und ließ die flach einfallenden Strahlen der Sonne hindurchscheinen.
»Was macht deine Maman?«
Ein Schatten legte sich auf Serges Gesicht. Florence bemerkte es, weil sie solch einen Schatten von früher kannte.
»Geht es ihr gut?« Sie kannte doch die Antwort, warum stellte sie diese Frage, dachte Florence und war irritiert.
»Sie leidet an Alzheimer und ist in einem Heim untergebracht.« Serge schaute aus dem Fenster.
»Das tut mir leid.« Sie berührte seinen Arm, zog die Hand aber ganz schnell wieder zurück.
Serge wandte sich erneut an Florence. »Du bist doch nicht hier, um dir …« Er brach ab und blickte Florence in die Augen. »Du willst die Firma übernehmen, richtig?«
»Wie kommst du denn auf den Unsinn?«, meinte Florence.
»Das ist für mich der einzige plausible Grund, aus dem du hier wieder auftauchen könntest«, brummte Serge.
»Nein.« Sie bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Deshalb bin ich nicht gekommen. Aber vielleicht kannst du mir nützlich sein.«
»Du findest mich also nützlich.«
»Dreh mir nicht die Worte im Mund herum«, wies Florence ihn zurecht.
Simone brachte den Salat und stellte die beiden Schüsseln vor Florence und Serge hin, ohne etwas zu sagen. Serges düsterer Blick mochte sie davon abgehalten haben, irgendetwas zu äußern.
»Du findest mich also nicht nützlich?«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es ganz erheblich Zeit und Ärger erspart, wenn man die am besten geeignete Person mit einer bestimmten Aufgabe beauftragt«, wich Florence aus, ließ das Weinglas los und nahm ihre Gabel. »Es gab keinen anderen Grund außer dem Gesundheitszustand meiner Großmutter, nach Locronan zurückzukommen.« Sie musste aufpassen, dass sie sich nicht verplapperte. Mit dem Nützlichsein hatte sie ihn wahrscheinlich nur noch neugieriger gemacht. Sie hob den Kopf und fügte hinzu: »Und ich recherchiere für mein neues Buch. Das ist alles.«
Serge spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Doch er beherrschte sich. Wenn er sich auf eine Diskussion mit Florence einließ, musste er wachsam bleiben. Sie war stets scharfsinnig gewesen, aber in der Zwischenzeit hatte ihre Schlagfertigkeit an Schärfe zugenommen. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er an die frühere, auf alles neugierige Florence zurückdachte.
Er lachte kurz auf. »Recherche, selbstverständlich«, wiederholte er sarkastisch. »Na ja, und deine Großmutter. Wie lange hast du sie nicht mehr besucht, acht Jahre, zehn Jahre? Findest du es nicht selbst merkwürdig, dass du plötzlich wieder hier bist?«
»Du hast recht.«
»Danke.«
»Bitte.«
»Oh, Florence …« Serge verstummte und griff nach seinem Glas. Er brachte kaum einen Bissen hinunter. Mit allen Sinnen nahm er Florence’ Nähe auf. Wie früher verspürte er den Wunsch, mit seinen Fingern durch ihr Haar zu streifen. Er erinnerte sich an das Gefühl von Glück und Zufriedenheit, wenn er Florence in die Arme geschlossen und ihren Körper gespürt hatte.
Er dachte daran, wie sie ihn sehr ernst angeschaut hatte, bevor die Lust die Oberhand in ihr gewann und sie sich frei und ungehemmt dem letzten ekstatischen Augenblick überließ. Würde sie sich je wieder wie einst an ihn schmiegen? Wenn sie miteinander geschlafen hatten, flüsterte Florence seinen Namen, als genüge ihr der Klang, um sich zu vergewissern, dass ihre Wonne, ihre Glückseligkeit kein Traum waren. Wie gerne würde er seinen Namen nochmals aus ihrem Mund hören, während sie eng umschlungen nebeneinanderlagen und langsam in die Wirklichkeit zurückfanden!
Er sah Florence an. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Gedankenverloren drehte sie diese um ihren Zeigefinger und blickte auf ihr Weinglas. Doch Florence lächelte nicht. Sie sah aus, als habe sie Kummer, und Serge wurde bewusst, wie gut er sich an diesen Gesichtsausdruck erinnerte. Aber das mit der aufgewickelten Haarsträhne war nicht die Florence, die er kannte. Seine Florence stampfte mit den Füßen auf, wenn sie sich falsch verstanden fühlte. Er kannte ihre Wutanfälle, die sich langsam und unbemerkt aufbauten, bis sie plötzlich überkochte und gleich darauf wieder ruhig und ausgeglichen war.
Als seine Schwester ihn angerufen und ihm erzählt hatte, wer bei ihr im Laden war und jetzt auf dem Weg zu Pierre sei, hatte er in sich hineingehorcht und festgestellt, dass es nur Neugierde war, weshalb sie hier war. Keine große Sache.
Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm bei ihrem Anblick das Herz bis zum Halse schlagen würde.
Wenn er bei ihrem Anblick überhaupt mit einem Gefühl gerechnet hatte, so war es Wut über ihren damaligen Weggang. Doch er hatte sich geirrt. Sein Zorn war etwas anderem gewichen. Serge spürte wieder die gleiche Lücke, die sie hinterlassen hatte. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht klar gewesen, was er nun erkannte, dass er sein Herz für Florence aufgespart hatte. Es war zu spät. Sie lebte in Paris, würde bald heiraten und war das geworden, was sie immer werden wollte: Schriftstellerin.
Da saß sie: greifbar und doch unberührbar, anwesend und doch für ihn verloren, seine Florence und die Florence eines anderen Mannes.
Schweigend beendeten Serge und Florence ihr Mahl. Anschließend tranken sie Kaffee.
Florence musterte Serge verstohlen. Seine Miene verriet nichts. Dennoch spürte Florence, dass er irgendeine Entscheidung getroffen hatte, die sie betraf.
Sie erhoben sich beide. »Ich bringe dich zu deinem Wagen.«
»Das ist nicht nötig.«
Sie spürte den Griff seiner langen Finger um ihr Handgelenk.
»Es gehört sich so«, sagte er. Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. »Du legst doch bestimmt großen Wert auf gute Manieren.«
»Das schon. Nur …« Sie verstummte und schaute sich um.
»Ich möchte mich bei Pierre bedanken.«
»Das kannst du in den nächsten Tagen tun. Er ist sehr beschäftigt.«
Florence wollte protestieren, da sah sie, dass Pierre gerade hinter einer Tür verschwand, die vermutlich zur Küche führte.
An Serges Seite verließ Florence das Restaurant und trat hinaus in die milde Mittagsluft. Die Sonne stand hoch und verlieh den Wolken im Westen eine strahlend weiße Färbung. Der Marktplatz wirkte wie ausgestorben. Man saß am Mittagstisch. In einer Stunde würden die Geschäfte erst wieder öffnen.
Jetzt wäre es schön, unten am Wasser zu sein, dachte Florence. Das Licht wirkte weich, und es war fast windstill. Sie würde das endlos wirkende weite Meer fast für sich allein haben …
Florence wandte den Blick vom Atlantik ab und ging in Richtung ihres Wagens, den sie in einer Seitengasse geparkt hatte. Wie töricht, sich solchen Träumen hinzugeben! Es gab einen triftigen Grund, warum sie hier war, und sie benötigte dringend Schlaf.
Serge schien zu ahnen, wo ihr Auto stand. Damals hatte sie es ständig dort abgestellt. Im Gegensatz zu heute hatte sie sich dann bei ihm eingehängt, über die Ereignisse des Tages gesprochen und gelacht. Bevor sie in den Wagen gestiegen war, hatte sie ihn geküsst, lange und hingebungsvoll. »Vielen Dank, Serge«, sagte sie und suchte umständlich ihre Autoschlüssel in ihrer Handtasche. »Es war nett, sich mit dir zu unterhalten.«
»Ja?« Serge betrachtete sie prüfend. »Hm … wir hatten immer schon eine andere Vorstellung davon, wann eine Unterhaltung nett ist und wann nicht.« Er legte die Hand in ihren Nacken.
»Nicht«, flüsterte Florence, wich ihm jedoch nicht aus. Sie wollte nicht verletzlich erscheinen, sondern zeigen, dass sie keine Empfindungen mehr für ihn hatte. Aber bereits die Berührung seiner Finger weckte sehnsüchtige Gefühle in ihr. Wie früher.
»Da ist noch etwas, das du mir schuldest, Florence Letrec.« Serge ließ sich nicht beirren. Er hatte das Bedürfnis, sie für die langen Jahre der Einsamkeit und der Qual zu bestrafen.
Sein Kuss war nicht sanft. Hart und verlangend presste er seinen Mund auf ihre Lippen. Dann zog er Florence fest an sich. Ihre Arme waren zwischen ihren Körpern gefangen, und Serge spürte, dass sie die Hände zu Fäusten ballte. Erst versuchte sie ihn von sich zu schieben, dann stieß sie ihm die Fäuste gegen die Brust. Ihr Gesicht war verzerrt.
Gut. Sollte sie ihn hassen. Mit ihrer Ablehnung konnte er eher fertigwerden als mit ihrer zurückhaltenden Höflichkeit.
Doch es fiel ihm schwer, sich nicht von seiner Begierde überwältigen zu lassen und sich zu beherrschen. Der vertraute Geruch von Florence’ Haut, der süße Geschmack ihrer Lippen hatten nichts von ihrem Reiz eingebüßt.
Florence hoffte, dass mit dieser Umarmung endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden könnte. Aber schon bald musste sie feststellen, dass die Erinnerungen übermächtig wurden. Florence wusste, wo sie ihre Hände hinlegen musste. Sie wusste, wie sie diesen Mann umarmen musste. Sie spürte genau, wo sie nachgeben und wo sie Widerstand leisten musste. Natürlich tat sie nichts davon.
Serges Küsse hatten stets ein prickelndes Gefühl in ihr hervorgerufen. Sein muskulöser Körper, der so gut zu ihrem zu passen schien, übte immer noch eine elektrisierende Wirkung auf sie aus. Und den Geschmack von Salz und Meer, der unzertrennlich mit Serge verbunden war, nahm sie auch dieses Mal wieder intensiv wahr.
Florence leistete keinen Widerstand, wollte ihm nicht die Genugtuung geben und sich wehren. Sosehr sie sich dann aber bemühte, ihre Empfindungen unter Kontrolle zu halten – es gelang ihr nicht.
Leidenschaftlich erwiderte sie Serges Kuss. Langsam öffnete sie die Fäuste und legte die Hände auf seine Taille. Serge hatte mit seiner Zunge nun ein zärtliches und zugleich ungeduldiges Spiel begonnen.
Er küsste Florence, und sein Kuss wurde leidenschaftlicher. Sie ließ es geschehen. Für einen winzigen Augenblick fühlte sich Florence, als sei sie wieder sechzehn.