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Kapitel 1

Paris, September 2012

Das kleine Mädchen rennt über Wiesen und Felder hinunter zum Atlantik. Seine langen schwarzen Haare flattern im Wind, und als es sich bückt, um einen locker gewordenen Schnürsenkel zuzubinden, leuchtet das blaue Kleid hell in der Sonne des frühen Herbstes.

»Maman«, ruft es. »Maman, wo bist du?« Suchend dreht das Mädchen sich um. Und plötzlich sieht es die Mutter. Sie steht auf dem Leuchtturm und lässt den Wind durch ihr Haar streifen. Sie wird immer blasser, vergänglicher. Entfernt sich immer weiter von der Tochter, weg aus deren Leben.

Der Himmel wird dunkel, die Wellen des Atlantiks schlagen tosend gegen die Felsen. Die Mutter reagiert nicht auf die Rufe der Tochter, die nun in lautes Schluchzen übergegangen sind, sie wendet sich ab, dahinter steht der Vater. Und langsam verschwinden sie in der Düsternis des herbstlichen Nebels. Überall schwarzer Rauch, ohrenbetäubender Lärm und Feuerzungen auf dem Wasser. Die Eltern sind gegangen.


Die restliche Nacht warf sich Florence unruhig im Bett hin und her. Sie wachte schließlich um neun Uhr am folgenden Morgen vollkommen erschöpft auf. Obwohl sie sich so zerschlagen fühlte, konnte sie nicht mehr einschlafen. Also ging sie ins Bad, putzte sich die Zähne und wusch sich mehrmals das Gesicht, bis ihr klar wurde, dass die dunklen Ringe unter ihren Augen keine verschmierte Wimperntusche waren.

»Tränensäcke«, murmelte sie. »Ich bin zu jung für Tränensäcke, und dies sind keine Säcke, sondern Koffer. Große Schrankkoffer.«

Nach dem Duschen fühlte sie sich besser. Sie zog sich an und ging in die Küche, um den Kaffeeautomaten einzuschalten.

Es läutete an der Tür, und Florence sah durch den Türspion, dass es der Postbote war. »Madame Letrec, verzeihen Sie die Störung, aber ich bekomme Ihre Post nicht in den Briefkasten.« Er überreichte ihr einen großen Stapel Umschläge.

»Vielen Dank für Ihre Mühe«, sagte Florence und schenkte ihm ein Lächeln. Sie sah ihm nach, wie er die Treppe hinuntereilte, und nahm dann ihre Post mit nach drinnen, wo sie ein heißer Kaffee erwartete. Sie stellte die Tasse auf den Tisch und sichtete den Stapel. Zwischen dem üblichen Sortiment von Leserbriefen, Werbesendungen und Rechnungen befand sich ein Brief aus einem Kloster in Südfrankreich, an sie persönlich adressiert. Sie trank ihren Kaffee und drehte den Umschlag unschlüssig in den Händen. Während Florence das Kuvert öffnete, keimte eine unerklärliche Vorahnung in ihr auf.

Sie setzte ihre Brille auf und begann zu lesen. Ihr Puls beschleunigte sich, ihr Mund wurde trocken, und ihre Hand zitterte, als sie die Zeilen nochmals überflog. Irrtum ausgeschlossen.

Florence’ Hand mit dem Briefpapier sank kraftlos herunter. Sie hatte das Gefühl, die Welt um sie herum breche zusammen. Nach einer Weile bückte sie sich, um das Schriftstück, das ihr entglitten war, aufzuheben.

Mehrmals las sie den Brief durch, der aus einem Kloster in den Pyrenäen stammte. Langsam stand sie auf, ging zu dem Familienfoto und brachte nur ein Wort heraus: »Maman!«

Dann stolperte sie in ihr Schlafzimmer, stopfte einige Sachen in ihre Reisetasche, nahm ihre Autoschlüssel und ihre Handtasche. Schon zum Gehen gewandt, ließ sie ihr Gepäck fallen, griff noch einmal nach dem Telefon und wählte Patricks Nummer in der Anwaltskanzlei. Sie wusste, dass er bereits hinter seinem Schreibtisch saß. Er war ein Perfektionist, und Florence kannte seine Marotte, alles bis ins Kleinste vorzubereiten, nichts dem Zufall zu überlassen, ganz gleich, wie unwichtig der Klient war.

»Hallo, ich hoffe, es gibt einen triftigen Grund für deinen Anruf. Du weißt, unter welchem Zeitdruck ich stehe und …«

»Patrick«, unterbrach ihn Florence hastig, »Patrick, hör mir jetzt bitte genau zu! Wenn du nach Hause kommst, bin ich bei meiner Großmutter in der Bretagne. Ihr geht es nicht gut, und sie will mich sehen.«

Patrick schwieg, dann antwortete er unsicher: »Das tut mir leid, aber ich denke, du musst nicht gleich so überreagieren. Außerdem«, hier machte er eine bedeutungsvolle Pause, »haben wir heute Abend ein wichtiges Abendessen.«

Unwillkürlich musste Florence lachen. »Du hast ein wichtiges Abendessen. Dir fällt schon etwas ein, um mich zu entschuldigen. Migräne. Genau, sag ihnen, ich hätte Migräne, das klingt stets glaubhaft.«

»Florence, ich versteh wirklich nicht, warum du dir das antun willst. Ich bin mir sicher, dass deine Großmutter eine Handvoll von Medizinkoryphäen um sich geschart hat. Wäre heute nicht …«, Patrick zögerte einen Moment, ehe er weitersprach, »dieses Abendessen, dann würde ich dich …«

»Geh du zu diesem wichtigen Dinner«, fiel ihm Florence rasch ins Wort, glücklich darüber, dass er offensichtlich in Erwägung zog, sie zu begleiten. Patrick war kein Mann der großen Worte.

»Lass mich bitte ausreden, Florence! Ich wollte sagen, dass ich dich begleiten würde, wenn es den Termin nicht gäbe, aber ich möchte dabei sein. Es ist eben wichtig.«

Florence war enttäuscht, doch nach kurzem Zögern überspielte sie diese Regung und antwortete mit betonter Heiterkeit: »Ich muss jetzt los. Viel Erfolg bei deinem Termin. … Sicher wird der Gastgeber mit deiner Anwesenheit zufrieden sein«, setzte sie noch hinzu.

»Melde dich, wenn du angekommen bist, Florence.«

Florence entschloss sich, nichts von dem Brief zu erzählen, sie hätte dadurch nur eine endlose Diskussion entfacht. Sie legte auf und verließ das Haus.

Vor ihrem Wagen blieb sie stehen. Seltsamerweise hatte sie es nicht mehr eilig, wegzukommen, nach Locronan in die Bretagne zu fahren und vielleicht eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die auch heute noch wie eine unsichtbare Wand zwischen ihr und ihrer Großmutter stand. Sie hatte Angst vor der Wahrheit, Angst vor dem, was sie dort erwartete. Wie ein kalter Hauch streifte sie die Endgültigkeit des Todes, der ihrem heimlichen Traum von einer Rückkehr ihrer Eltern unbarmherzig und für alle Ewigkeit ein Ende gesetzt hatte. Als Florence die Autotür öffnete, wusste sie, der Moment war gekommen, um endlich das Schweigen zu brechen, das über dem Leben ihrer Eltern lag.

Das schöne Pariser Herbstwetter war irgendwo unterwegs verschwunden, im Westen türmten sich Wolken übereinander. Die Landschaft vor Florence’ Autofenster hatte sich verändert. Die Bäume wurden spärlicher und kleiner, bogen sich leicht immer in die gleiche Richtung. Der Wolkenberg vor ihr riss unvermittelt auf und ließ schräge Sonnenstrahlen hindurch, wie ein starker Projektor.

Die sanfte smaragdgrüne Hügellandschaft erstreckte sich vor ihr und brachte sie ihrem Ziel näher. Es war, als könnte der Wagen einfach keinen anderen Ort ansteuern.

Dieses Gefühl der Gewissheit hielt an, als sie Locronan erreichte und hügelabwärts an Granithäusern vorbei und durch gepflasterte Gässchen fuhr. Rasch erreichte sie den Marktplatz, der zusammen mit dem Brunnen und der mittelalterlichen Kirche das Herz des Dorfes bildete. An jedem Haus hingen die Geranien in ihrer vollen Üppigkeit herunter. Florence musste sich beherrschen, um nicht den Wagen zu stoppen und herauszuspringen. Sie bog in eine kleine mittelalterliche Gasse ein, auf deren Kopfsteinpflaster man noch das Getrappel der Pferde zu hören vermeinte, die wie der ganze Ort den früheren Charme bewahrt hatte. Plötzlich ging ihr das alles zu schnell. Sie wusste nicht, ob sie schon bereit war, herauszufinden, was sie hier nach fast zwanzig Jahren erwartete.

Sie fuhr weiter, und hinter der nächsten Kurve tauchte die graue Silhouette des Schlosses auf. Vor der Einfahrt zum Anwesen ließ sie den Wagen ausrollen.

Weit hinter dem Horizont

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