Читать книгу Weit hinter dem Horizont - Christine Lawens - Страница 8

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Kapitel 2

Locronan, 2012

Florence stützte sich auf das rostige schmiedeeiserne Tor und sah hinauf zum alten Schloss. Wie lange war sie nicht mehr zu Hause gewesen? Acht Jahre? Zehn Jahre?

Zu lange. Und doch nicht lange genug.

Eine Zeile aus einem Werk von Thomas Wolfe kam ihr in den Sinn: »Du kannst nicht nach Hause zurück zu deiner Familie, zurück nach Hause zu deiner Kindheit.« Aber jetzt war sie hier.

Der Knoten in Florence’ Magen wurde fester. Ihr Gewissen warf ihr vor, ihre Großmutter vernachlässigt zu haben. Die Stimme in ihrem Inneren sprach die Wahrheit. Noch während sie am Tor stand, wurde ihr eines klar: Die Tatsache, dass sie dieses Haus mied, hatte nichts mit mangelnder Liebe zu tun. Sie liebte die Bretagne, liebte diesen Ort, liebte ihre Großmutter Adélaide – und doch widerstand irgendetwas in ihr, ganz tief und unerreichbar in ihrem Inneren verborgen, dem unerbittlichen Drang, nach Hause zu gehen. Zu viele traurige Erinnerungen. Zu viel Verwirrung.

In Paris, knapp sechshundert Kilometer entfernt, achtzehn Jahre nach den Geschehnissen, war Florence Letrec eine gänzlich andere Person – eine Person, die für sich eine Nische geschaffen hatte. Sie hasste die verstopften Straßen, den Lärm und die Hektik dieser großen Stadt, aber die Anonymität gefiel ihr gut. Ihr Leben seit der Sorbonne hatte sie sich selbst geschaffen. Jetzt war sie nicht mehr das verhätschelte, introvertierte Kind von früher. Sie hatte sich aus eigener Kraft neu erfunden und sich zu einer lebendigen Frau entwickelt.

Sie hatte auch ihren Kleiderstil angepasst. Bevor sie nach Paris kam, hatte sie sich über ihr Aussehen und ihre Kleidung keine Gedanken gemacht. Sie beobachtete die Frauen, mit ihrer Eleganz und einem Hauch Nonchalance. Ihr Casual Look wurde durch einen weiblichen, edlen Stil ersetzt.

Eine Kommilitonin nahm sie unter ihre Fittiche. »Präge dir ein, was Coco Chanel mal gesagt hat: ›Eine Frau sollte sich jeden Tag so anziehen, als könnte sie ihrer großen Liebe begegnen.‹« Gemeinsam zogen beide durch die trendigen Läden, und Florence hatte noch nie in ihrem Leben so viel an einem Tag eingekauft: zwei Röcke, einen Mantel, einen Trenchcoat und Kaschmirpullover in dezenten Farben. Und das Wichtigste: Lingerie. Florence musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie Jacqueline sie in die Dessousabteilung des Kaufhauses Galeries Lafayette schleifte. Florence fühlte sich inmitten der Slips, BHs und Strapse so verloren wie an ihrem ersten Tag in der Universität.

An der Sorbonne hatte Florence alles gefunden, was sie sich gewünscht hatte. Einen Platz, an den sie gehörte. Intellektuelle Herausforderung. Einen Sinn.

Sie hatte ihrer Großmutter nicht nachgeeifert und nicht ihrem Wunsch entsprochen, das Letrec-Unternehmen zu führen. Sie wollte Schriftstellerin werden. Mit Leib und Seele war sie Autorin historischer Romane und konnte sich nichts vorstellen, was sie mehr ausfüllte, als ihre Leser mit der Schönheit der französischen Literatur vertraut zu machen. Ihr Vater hatte ihr als Kind die Bedeutung von Aufrichtigkeit und Bildung eingeimpft. Für ihn schien es nichts Wichtigeres im Leben gegeben zu haben. Bildung hatte Arnaud Letrec stets als unabdingbare Voraussetzung für eine zivilisierte Gesellschaft betrachtet.

So war Florence inmitten von Büchern aufgewachsen und in der sanften, aber bestimmten Art eines engagierten Unternehmers mit pädagogischen Merkmalen erzogen worden. Er erwartete von ihr, dass sie außergewöhnliche Leistungen in der Schule erbrachte, wie sie später auch ihre Großmutter erwartete. Sie enttäuschte diese Erwartungen nie. Nur ein einziges Mal.

Jetzt war sie zweiunddreißig Jahre alt und entsprach äußerlich dem Klischee einer Schriftstellerin. Sie trug ihr mittellanges schwarzes Haar aufgesteckt. Ihre Lesebrille aus Horn hob sich stark von dem hellen Teint ihres Gesichtes ab. Hohe Wangenknochen verliehen ihr ein etwas hochmütiges Aussehen, das jedoch von ihren rehbraunen Augen gemildert wurde.

Endlich hatte sie die Vergangenheit hinter sich gelassen – so vollkommen, dass ihr Freund Patrick sie unbarmherzig neckte. Sie sei eine geheimnisvolle Frau, die nie über sich sprechen würde.

»Ich rede immerzu über mich«, hatte sie das letzte Mal, als dieses Thema aufgekommen war, protestiert. »Wir reden doch über alles.«

Er hatte den Kopf geschüttelt. »Wir reden über das Leben, über Literatur, das Gesetz, deine Arbeit und meine. Wir sprechen über Bücher, Filme und Politik. Manchmal sogar von einer Heirat. Ich weiß, was du von all dem hältst. Ich kenne deine Meinung, kenne deinen Standpunkt zu vielen Dingen.« Er lachte und beugte sich eindringlich vor. »Ich weiß, was da drin ist …« Er tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen den Kopf. »Aber oft denke ich, dass ich noch nicht einmal angefangen habe, zu erahnen, was da drin vorgeht.« Er ließ die Hand auf ihr Herz hinabgleiten.

Völlig überrascht von Patricks plötzlichem Wortschwall, wandte Florence den Blick ab. »Da gibt es nicht viel zu wissen, Patrick. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, nachdem meine Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen waren.«

Dass sie fast jede Nacht von einem schrecklichen Ereignis träumte, verschwieg sie.

»Ich möchte mich einfach lieber auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren, als bei der Vergangenheit zu verweilen.«

»Dann verbirgst du also nichts vor mir, du geheimnisvolle Frau? Irgendein schreckliches Geheimnis?« Er grinste und verdrehte die Augen.

Florence lachte. »Touché, du hast mich erwischt. Ich bin aufgeflogen.« Sie stieß einen melodramatischen Seufzer aus. »Bevor ich nach Paris gekommen bin, habe ich im Haus meiner Großmutter ein Bordell betrieben, habe aus dem Kofferraum meines Wagens mit Drogen gedealt und das Geld über Bankkonten in Genf gewaschen. Ich bin unverschämt reich und auf der Flucht vor dem Mossad.«

»So was Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Patrick zuckte die Achseln. »Ich bin am Verhungern. Lass uns nebenan ins Bistro gehen.«

Bei der Erinnerung an dieses Gespräch und den Ausdruck in Patricks Augen, als er davon sprach, ihr Herz kennenlernen zu wollen, atmete Florence tief durch. Sie hatte nicht einkalkuliert, wie verletzlich die Liebe einen Menschen machte. Emotionen waren so unberechenbar und grausam. Mit dem Intellekt kam sie sehr viel besser zurecht. Ihr war es lieber, eine Beziehung auf einer philosophischen Ebene zu halten. Patrick war in ihr Leben gekommen, aber nicht in ihr Herz. Der Verteidigungswall war, seit sie ihn verlassen hatte, undurchdringbar.

Patrick war ein faszinierender Mann, der ganz genau wusste, was er vom Leben erwartete.

Geliebt und begehrt zu werden war eine mächtige Verlockung, wie Florence feststellen musste. Nur konnte sie nicht über ihren Schatten springen. Ihre tiefe Liebe gehörte Serge Renaud. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, als würde sie die erste Stufe einer steilen Treppe verfehlen und die ganze Treppe herunterpurzeln, ohne sich irgendwo festhalten zu können. In dieser Zeit schlang sich die Macht ihrer Liebe zu Serge um die Wurzeln ihrer Seele, und je stärker diese Liebe wurde, umso mehr verspürte sie den Drang zu fliehen.

Bei Patrick ließ sie es erst gar nicht so weit kommen. Sie hatte sich rechtzeitig zurückgezogen und ein Kontrollsystem dazwischengeschaltet. Ihr wurde bewusst, dass sie, seit sie Patrick kannte, nichts anderes tat, als sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie hatte sich nie richtig Zeit genommen, all diese Veränderungen in ihrem Leben und in ihrer Beziehung zu überdenken und zu überlegen, was sie sich für die Zukunft wünschte. Vielleicht würde es ihr guttun, wenn sie sich mal eine Pause gönnen, allein wegfahren würde und »auf das hören, was dein Herz dir sagen möchte«. Aber wohin? Zu Großmutter. Ins Schloss, in dem die Erinnerungen an ihre Jugend schlummerten. Sie würde versuchen, in dieser Auszeit kein Papier, keinen Füller, geschweige denn eine Tastatur anzurühren. Und nachts von leeren Blättern träumen, die sie höhnisch anstarrten.

Dann war der Brief gekommen.

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