Читать книгу Weit hinter dem Horizont - Christine Lawens - Страница 13

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Kapitel 7

Serge summte vor sich hin, drehte den Knauf und drückte gegen die Tür. Sie hatte sich im Laufe der Zeit verzogen und klemmte zunächst. Dann gab sie nach, und er blickte ins Halbdunkel. Die Luft roch feucht und muffig. Dem Raum war nicht anzumerken, ob ihn seit 2002 jemand betreten hatte. Er sah genauso aus wie damals, als sei Serge nur kurz hinausgegangen, um eine Runde mit dem Mofa zu drehen oder eine Pizza zu holen.

Gott, sie war ein wunderschöner Teenager gewesen. Sie selbst hatte ihre helle Haut gehasst und sich blonde Haare und größere Brüste gewünscht. Aber er wollte sie genau so, wie sie war. Mit der Pizza fütterten sie sich gegenseitig im Bett, und er war immer wieder fasziniert von ihren Lippen, wenn er mit dem Daumen darüberstrich, und von der Art, wie sie die Mousse au Chocolat aus ihrem Mundwinkel leckte. Dann kicherte sie und behauptete, er sei sexsüchtig, was er natürlich war mit seinen achtzehn Jahren. Aber er glaubte auch, dass sein Verlangen und seine Liebe sich nicht auseinanderhalten ließen, weil Florence und er in jeder Hinsicht wie füreinander geschaffen waren.

Serge zog die Tür hinter sich zu, blieb auf dem bunten Läufer in der Mitte des Zimmers stehen und ließ alle Erinnerungen zu, die sich einstellen wollten: Florence, wie sie, nur mit einem T-Shirt von ihm bekleidet, am Tisch saß, Crêpes aß, die er spätabends für sie gemacht hatte, und ihm von ihrem ersten Tag am Gymnasium in Brest erzählte – vor Patrick, bevor sie an der Sorbonne studierte; Florence, wie sie mit Nägeln zwischen den Lippen auf der Leiter stand und Fensterrahmen annagelte. Florence, wie sie auf seinem Bett schlief, ein Buch von Molière auf der Brust. Florence, wie sie am Morgen ihrer Abfahrt zu ihm kam und seine Hoffnung aufleben ließ, um sie dann endgültig zu vernichten. Zuerst hatte er an diesem Morgen geglaubt, er habe sie mit all seiner Sehnsucht und seinem Zorn zu sich beschworen wie einen Geist. Vielleicht war es wirklich so gewesen. Jetzt dachte er, dass sie vielleicht an diesem Morgen und in all den Jahren danach keine Macht mehr über ihn gehabt hätte, wenn er sich gleich nach der Trennung von ihr hätte lösen können.

Genau diese Welle von Erinnerungen, von Bildern einer gemeinsamen Zukunft, die dann vernichtet wurde, hatte er all die Jahre gefürchtet – deshalb hatte er dieses Haus nie mehr betreten. Bevor seine Mutter an Demenz erkrankt war, hatte sie darauf gewartet, dass er es ausräumte, um es als Ferienwohnung vermieten zu können. Er hatte ihr immer versucht klarzumachen, dass er das täte, sobald er bereit dazu sein würde – was er bislang nicht gewesen war. Dennoch war es heilsam und notwendig, heute diesen Ausflug in die Vergangenheit zu unternehmen. Er musste das in sich bereinigen, es wurde höchste Zeit.

Serge wanderte durch den Eingangsraum und die Küche, strich über die Arbeitsplatte, erinnerte sich an die vier Jahre, die er hier gelebt hatte.

Serge öffnete den Küchenschrank. Er war leer bis auf ein paar Konserven. Als er bemerkte, dass er seit geraumer Zeit ins Leere starrte, warf er einen Blick auf die Uhr. Erschrocken stellte er fest, dass er sich schon seit über einer Stunde hier aufhielt. Er ging zur Treppe und blickte nach oben in den offenen Raum unterm Dach. Den musste er noch hinter sich bringen.

Die letzte Stufe knarrte, schon immer. Oben blieb er stehen und sah sich um. Da war das Bett, die Kommode, auf der ein alter Fernseher stand, der Kleiderschrank. Alte, abgenutzte Möbelstücke, die ihm vertraut waren, vertrauter als das neue Mobiliar nebenan in seinem Elternhaus, das er jetzt bewohnte.

Natürlich sah er unwillkürlich Florence vor sich, wie sie in seinem Bett lag, doch vor allem stach ihm eine kleine versilberte Schachtel ins Auge, die auf der Kommode stand. Er hatte sie Florence 2001 zu Weihnachten geschenkt. Er trat zu der Kommode und berührte das Kästchen. Dann blickte er auf, schaute durchs Fenster auf die sich herbstlich färbenden Bäume.

Er holte tief Luft und öffnete die Schachtel. Darin lag nur ein einziger Gegenstand, ein kleines Stück aus seiner Vergangenheit, das er vor seinem geistigen Auge immer als eine Art Klapperschlange angesehen hatte, eingerollt und lauernd: Florence’ silberne Kette mit einem Anhänger. Das keltische Herz. Es steht für die ewige Liebe und soll durch das Herz, welches in den ewigen Knoten eingebunden ist, ein Zeichen für die Verbundenheit der Menschen und der keltischen Sage sein.

Er nahm sie heraus und hatte den Impuls, hinunterzurennen, in seinen Kombi zu springen und zu Florence aufs Schloss zu fahren, um sie ihr zurückzugeben. Hier, das brauch ich nicht mehr, hätte er gerne gesagt. Oder: Ich glaube, das solltest du jetzt selbst aufbewahren. Oder: Ich möchte, dass du dieses Erinnerungsstück aus unserer Vergangenheit aufbewahrst, und nein, ich bin dir nicht böse. Besaß sie überhaupt ein Souvenir aus ihrer gemeinsamen Zeit?

Er hatte den Impuls, seine Geschichte mit Florence zu schützen, obwohl ihm selbst nicht klar war, weshalb. Vielleicht wollte er auch einfach nicht wie ein liebeskranker Idiot wirken – was er ziemlich lange gewesen war. Jedenfalls war ihm die Vorstellung, mit einer anderen Frau durch dieses kleine Haus zu gehen, ein Gräuel. Diese Räume waren so von Florence erfüllt, dass er befürchtete, eine andere Frau könne sie dort sehen und riechen – so wie er.

Aber nach ihrer Nervosität bei der Begegnung heute Mittag zu schließen, legte sie keinen Wert auf ein weiteres Treffen. Vielleicht erst recht nicht auf eine solche Geste. Wie damals nach ihrem ersten Kuss hatte sie ihn forschend und abwartend angesehen. Es hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hatte sich abrupt aus der Umarmung gelöst, ihr leicht zugenickt und sich abgewandt, ohne sich noch einmal nach Florence umzublicken. Wie wenig hatte sie sich verändert, und trotzdem sollte nichts mehr so sein wie früher? Sie hatte damals ein Schmuckstück abgelegt, um ein anderes anzulegen, oder mehrere. Florence hatte abgeschlossen mit der Vergangenheit. Er sollte es auch tun. Vielleicht würde er ihr die Kette zu Weihnachten nach Paris schicken. Doch vorerst hielt er sie in der Hand. Heiße Wellen stiegen in Serge auf, und ihm wurde klar, dass er ihnen Einhalt gebieten musste. Dann ließ er sie zurück in die Schachtel gleiten und steckte sie in die Jackentasche.

Er war jetzt vierunddreißig, nicht zu alt, doch alt genug, um einsam zu sein. Er war nicht mehr ausgegangen: Seitdem er wieder hierher nach Locronan zurückgekommen war, hatte er niemanden kennengelernt, der ihn interessierte. Es war seine Schuld, das wusste er. Es gab etwas, das einen Abstand zwischen ihm und jeder Frau entstehen ließ, die ihm näherkommen wollte, etwas, das er glaubte nicht ändern zu können, selbst wenn er es gewollt hätte. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, fragte er sich, ob es sein Schicksal war, allein zu sein.

Als er bei der Marine in Brest gewesen war, hatte er mehrere Liebschaften gehabt, darunter eine längere – eine Meeresforscherin mit tiefblauen Augen und blondem Haar. Obwohl sie drei Jahre befreundet waren und eine schöne Zeit miteinander hatten, empfand er für sie nie das Gleiche wie für Florence.

Doch auch Valérie konnte er nicht vergessen. Sie war zehn Jahre älter als er, und sie war es, die ihn lehrte, wie man eine Frau verführt, wie man sie berührt und küsst, welche Koseworte man flüstert. Sie verbrachten bisweilen ganze Tage im Bett und liebten sich auf eine Weise, die ihnen beiden Befriedigung brachte.

Valérie hatte gewusst, dass es nicht für immer sein würde. Als sich ihre Beziehung dem Ende näherte, hatte sie einmal zu ihm gesagt: »Ich wünschte, ich könnte dir geben, wonach du suchst, doch ich weiß nicht, was es ist. Da ist etwas in dir, das du vor jedem verschlossen hältst, auch vor mir. Es ist so, als wäre ich gar nicht die, bei der du wirklich bist. Deine Gedanken sind bei einer anderen.«

Serge versuchte, es abzustreiten, doch sie glaubte ihm nicht. »Ich bin eine Frau – ich spüre so was. Manchmal, wenn du mich anschaust, fühle ich, dass du eine andere siehst. Als wartetest du darauf, dass sie plötzlich aus dem Nichts auftaucht und dich von all dem hier wegführt.«

Zwei Monate später trennten sie sich, und er ging zurück nach Locronan.

Dass sie sich früher oder später über den Weg laufen würden, war fast unvermeidlich. Insgeheim hatte Serge jedes Mal damit gerechnet, dass er Florence im Restaurant treffen oder sie auf dem Marktplatz sehen würde – sollte sie zu Besuch bei ihrer Großmutter sein. Serge hatte niemals überlegt, was er tun würde, wenn sie sich wiedersahen. Selbst wenn er einen Plan gehabt hätte, so hätte er ihn jetzt vermutlich verpfuscht.

In den letzten Jahren hatte er die heftigen Worte, die er ihr zuletzt entgegengeschleudert hatte, zunehmend bereut. Warum war er so gemein zu ihr gewesen? Weshalb hatte er das Ende ihrer Beziehung nicht mannhaft hingenommen? Auch wenn sie ihn offenbar nicht genug liebte, um ihn zu heiraten; auch wenn sie nur auf eine kurze Abschiedsnacht vorbeigekommen war – er hätte sie mit guten Wünschen nach Paris gehen lassen sollen, anstatt diese unreife Bemerkung vom Stapel zu lassen. Doch damals war er jung, stur, zu stolz und zutiefst verletzt. Hatte er wirklich geglaubt, dass es die Hölle für ihn sein würde, sie wiederzusehen?

Das war es nicht. Im Gegenteil, sein Herz hämmerte wie wild, und er spürte ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingern. Er hätte sie nicht küssen dürfen.

Sie sah müde, aber noch immer strahlend aus, als würden ihre schwarzen Haare und ihre helle Haut durch etwas aus ihrem Inneren erleuchtet, durch eine besondere Energie, die auch ein anstrengender Tag nicht gänzlich zum Erlöschen bringen konnte. Serge wusste, dass sie Schriftstellerin geworden war, dass sie einen Erfolg nach dem anderen verzeichnen konnte. Er hatte alle ihre Bücher gelesen. Er fand sie immer noch wunderschön. Und überraschenderweise hatte er große Freude empfunden, sie plötzlich vor sich zu sehen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war so sicher gewesen, dass alle Gefühle für sie erloschen waren. Doch nun musste er feststellen, sie waren nur unter dem Geröll der Erinnerungen verborgen gewesen und arbeiteten sich nach und nach wieder ans Tageslicht.

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