Читать книгу Geisterkind - Christine Millman - Страница 11

Krickdorf

Оглавление

Die Bestattung floss an Inja vorbei wie ein Nebeltag, durch den die schrillen Rufe der Graumeisen hallten wie Hohngelächter. Alles erschien ihr unwirklich und weit entfernt. Die salbungsvollen Worte des Predigers, der in fleckige Tücher gehüllte Körper ihres Bruders, so klein und dünn, der leere Blick ihrer Mutter und das Jammern und Heulen der Dörflerinnen - all das geschah an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit und nicht hier auf dem Totenfeld von Krickdorf.

Die dunklen Wolken am Himmel kündeten Regen an. Eisiger Wind brauste über das karge, mit Totensteinen gepflasterte Feld und trug die Klagen der Trauernden fort. Mit versteinerter Miene blickte Inja in die Grube hinab, in welche die sterblichen Hüllen ihres Vaters und ihres Bruders gebettet wurden. Sie vermied es, ihren Oheim anzusehen, der ihre Mutter stützte, oder Benlin, der sich verzweifelt an das Tuch, das seinen geliebten Bruder umhüllte, klammerte. Oder Veit, der mit zusammengebissenen Zähnen seinen verletzten Arm hielt. Sie wollte es nicht sehen, dieses Bild der Hoffnungslosigkeit.

Eine warme Hand schob sich in ihre. Sie blickte nicht auf, doch Bans Nähe wirkte tröstlich. Sie dachte daran, wie er am Tag zuvor durch das Dorf gewandert war, um etwas über die Nacht in der Schankstube herauszufinden und wie er ihr später erklärt hatte, was es mit den Schändungen auf sich hatte. Was die Soldaten den Frauen angetan hatten, war jenseits ihrer Vorstellungskraft. Doch den Schwerthieb, der Vaters Bauch aufgeschlitzt hatte, so dass seine Gedärme herausquollen und er langsam und elendig verendete, und wie sie Veit jeden einzelnen Finger brachen und schließlich seinen ganzen Arm, stellte sich vor ihrem geistigen Auge umso deutlicher dar. Nach stundenlanger Schändung hatten die Söldner Neils Frau und seiner Tochter die Kehlen durchgeschnitten, hatte Ban erzählt, und ihre Mutter gezwungen zuzusehen. Das war wohl ihre Vorstellung von Spaß. Vor Angst und Schmerz war ihre Mutter verrückt geworden.

Dunkle Erdklumpen rieselten auf den Leichnam ihres Bruders. Benlin schrie auf und begann, wilde Verwünschungen auszustoßen. »Verflucht seien die Söldner des Königs«, brüllte er. »Ihre Leiber sollen in der Dämonengrube verrotten. Ausweiden soll man sie, die Augen mit glühenden Schwertern durchbohren.«

Aberlin umklammerte ihn und zerrte ihn fort. Benlin wehrte sich nach Kräften. »Ich werde meinen Bruder rächen«, schrie er von weitem. »Ich schwöre es. Ich werde nicht eher ruhen, bis die Männer, die ihn ermordet haben, tot sind!«

Es waren Worte in tiefstem Kummer und Verzweiflung ausgestoßen, doch Inja glaubte ihrem Bruder. Benlin und Benhard hatten einander nahe gestanden, wie es zwei Menschen überhaupt möglich war. Niemals würde Benlin den Tod seines Bruders verwinden oder gar vergessen.

Nach der letzten Fürbitte an die Götter setzten sich die Dörfler in Bewegung. Die Bestattung war vorüber. Im Vorbeigehen warfen sie Inja hasserfüllte Blicke zu, spuckten aus, sobald sie in ihre Nähe kamen, oder klopften sich gegen Lippen und Stirn, um sich vor dem bösen Zauber zu schützen. Es war ein offenes Geheimnis, das sie die Schuld an dem Unglück trug. Dass sie es herbeigerufen hatte.

Vergeblich suchte Inja nach dem Ursprung dieses Hasses. Worauf gründete er sich? Sie tat niemandem etwas zuleide, war fügsam und redlich. Warum verachteten die Dorfbewohner sie? Nur wegen ihres seltsamen Äußeren? Das war so dumm.

»Achte nicht auf sie. Komm«, wisperte Ban, als er Injas zornigen Blick bemerkte.

Inja verschränkte die Arme vor der Brust und blieb trotzig stehen. »Nein!« Sie wollte sich nicht vertreiben lassen wie ein räudiger Köter.

Ban warf einen prüfenden Blick in den wolkenverhangenen Himmel, der sich anschickte, seine Schleusen zu öffnen. Schon klatschten erste Regentropfen auf die Erde und zerplatzten. »Nun komm doch. Es fängt an zu regnen.«

»Das ist mir egal.« Inja trat an den Rand des Grabes und kniete sich hin. Sie wollte nicht nach Hause gehen. Ihr Zuhause war keines mehr, es war nur noch ein Haus, in dem fünf Waisen wohnten, die nicht zusammenbleiben durften. Langsam begann sie, Aberlins Beweggründe zu verstehen, doch im Gegensatz zu ihr, hatte er eine Wahl. Er zählte einundzwanzig Winter und war damit alt genug, um zu gehen, wohin auch immer er wollte. Sie dagegen war gefangen an diesem elenden Ort, wo jeder sie hasste und sie hilflos mit ansehen musste, wie ihr Oheim über ihrer aller Zukunft bestimmte.

Verzweifelt krallte sie die Hände in die Erde. Regentropfen vermischt mit Tränen perlten von ihrer Nase und durchweichten ihre Kleidung. »Kann ich heute Nacht bei dir bleiben, Ban?«

Ban kniete sich neben sie. »Willst du denn nicht bei deinen Geschwistern sein?«

Natürlich wollte sie das, aber sie konnte nicht. »Nein.«

»Wenn es dein Oheim erlaubt, kannst du gerne bei mir bleiben, doch überleg es dir gut. Irmeli und Benlin brauchen dich. Außerdem wirft es kein gutes Licht auf deine Sittsamkeit, wenn du bei mir übernachtest.«

Inja lachte gehässig auf. »Glaubst du, es ändert etwas, wenn ich zuhause bleibe? Die Leute verachten mich, ob ich sittsam bin oder nicht. Und seit wann darf ein Mann, den ich kaum kenne, über mich bestimmen? Meine Zukunft ist ungewiss, genau wie die meiner Geschwister, nur müssen die nicht befürchten, fortgejagt zu werden.«

Beruhigend strich Ban über ihren Rücken. Der hilflose Ausdruck in seinem Gesicht berührte ihr Herz. »Das wird sicher nicht passieren. Du hast niemandem etwas zuleide getan.«

Inja schnaubte. »In den Augen der Dörfler schon. Du hast sie gehört. Sie glauben, ich hätte das Unglück über meine Familie gebracht.« Sie hob einen Klumpen nasse Erde auf und ließ ihn durch die Finger rieseln, den kalten Regen ignorierend, der auf sie niederprasselte. »Eigentlich wäre Aberlin jetzt das Familienoberhaupt. Er ist alt genug, doch er drückt sich vor der Verantwortung. Ich verstehe nicht, warum er uns verlässt.«

»Ich auch nicht«, gab Ban zu. Mehr fiel ihm nicht ein. Die Lage war ausweglos, da gab es nichts schönzureden.

»Komm, lass uns gehen«, bat er schließlich. »Der Regen wird immer stärker.«

Achtlos wischte Inja die klebrige Erde an ihrem Rock ab und erhob sich. Von ihren Zöpfen tropfte das Wasser und ihre Kleider hingen an ihr wie ein nasser Sack.

»Sieh uns an«, sagte Ban und versuchte sich an einem Lächeln. »Wir sehen aus wie nasse Katzen.«

Inja zuckte nur mit den Schultern. Zum Lachen fehlte ihr die Kraft.

Auf dem Weg machten sie vor der Schankstube Halt, damit Inja trockene Kleider holen konnte. Sie war fest entschlossen, die Nacht in Bans Hütte zu verbringen. Alles war besser als dieses freudlose Haus. Sie bat Ban darum, unter dem Vordach zu warten, straffte sich und betrat zum ersten Mal seit dem Unglück die Schankstube. Der Oheim saß mit Bauer Hugolf, dem alten Alus, dem Büttel und einem Krug Schwarzbier am Tisch und diskutierte. Sein Bart und die Augenbrauen waren so dicht und buschig, dass kaum etwas von seinem Gesicht zu erkennen war. Sein Haar leuchtete in demselben rötlichen blond wie das Haar von Injas Geschwistern und auch die blauen Augen glichen denen der anderen. Die Familienähnlichkeit war unbestreitbar.

»Gut, dass du da bist, Inja«, begrüßte der Oheim sie. »Wir sprachen gerade über dich.«

Seine aufgesetzte Freundlichkeit konnte Inja nicht täuschen. Die Männer saßen beisammen, tranken das Bier ihres Vaters und verhandelten über ihrer aller Zukunft, als wären sie Vieh, dass es an irgendwen zu verhökern galt.

»Wie geht es meiner Mutter?«, fragte Inja kühl.

Ein Schatten huschte über das Gesicht des Oheims. »Unverändert. Ich hatte gehofft, dass die Beisetzung sie wachrütteln würde, doch das ist leider nicht passiert.«

Inja ließ ihren Blick durch die Schankstube wandern. Nur ein dunkler Fleck am Boden und ein fehlender Tisch erinnerten an den Schrecken, der sie drei Nächte zuvor ereilt hatte. »Wo sind Veit, Benlin und Irmeli?«

»Mach dir keine Sorgen. Deinen Geschwistern geht es gut. Irmeli schläft, Lore ist oben und legt Veit einen frischen Verband an und Benlin passt mit Aberlin auf den Meiler des Köhlers auf.« Der Oheim deutete auf einen freien Platz neben sich. »Komm Mädchen, setz dich. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit dir besprechen muss.«

Inja beäugte ihn misstrauisch. Der kalte Glanz in seinen Augen strafte die väterliche Freundlichkeit Lügen. »Ich möchte lieber stehen. Was willst du mir sagen?«

Der Oheim runzelte die Stirn. Inja wusste, was er dachte, sie konnte es an seiner unwilligen Miene erkennen und dem Zorn, der in seinen Augen aufflammte. Für ihn war sie ein widerspenstiges Kind, das ihm mit ihrem seltsamen Äußeren Schauer über den Rücken jagte. Fee aus dem Schattenland hatte er sie bei seinen Besuchen immer genannt. Geisterkind, hinter vorgehaltener Hand, wenn er glaubte, sie würde es nicht hören. Nie hatte er sie auf den Schoß genommen, wie er es mit ihren Geschwistern getan hatte oder ihr den Kopf getätschelt. Nur zu gerne würde er sie für das Unglück bestrafen, das ihrer Familie widerfahren war, das wusste sie, und seine falsche Freundlichkeit bestätigte ihre Befürchtungen. Er wollte sie in Sicherheit wiegen, damit der Schlag sie hinterher umso härter traf.

»Wir haben uns darüber beraten, was aus dir und deinen Geschwistern werden soll«, fing er an.

Nun kam der Augenblick der Wahrheit. Angespannt ballte Inja die Fäuste. »Und zu welchem Entschluss seid ihr gekommen?«

Geräuschvoll stieß er den Atem aus. »Veit und Benlin kommen mit mir. Sie können mir auf dem Hof helfen. Wenn Veit einundzwanzig wird, kann er zurückkehren und die Schankstube übernehmen, bis dahin hat sich Hansen als Pächter angeboten. Irmeli bleibt in der Obhut vom Köhler und seiner Familie. Sie werden für sie sorgen, bis es deiner Mutter wieder besser geht. Aberlin wird für die Kosten der Pflege und Unterkunft aufkommen.«

Inja musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Sie hatte es geahnt. Der Oheim würde die Familie auseinanderreißen. Nach allem, was sie durchgestanden hatten. Und Aberlin bezahlte für Irmeli und seine Mutter.

»Was habt ihr für mich geplant?« Ihre Stimme klang wie ein zugefrorener See, frostig und überraschend klar.

Der Oheim räusperte sich und begann, nervös über seinen Bart zu streichen. »Du wirst zur Halbinsel Rutten gebracht, wo du dem Konvent der Gesegneten beitreten und dein Leben in den Dienst der Götter stellen wirst.«

Injas Knie wurden weich. In den Ruttener Konvent geschickt zu werden, war wie in lebenslange Knechtschaft zu geraten. Nur sehr wenige stellten sich in den Dienst der Götter und niemand ging freiwillig nach Rutten. Eltern verkauften ihre Söhne und Töchter an den Konvent, wenn sie nicht genug Geld hatten, um sie durch den Winter zu bringen oder wenn sie sich einer unliebsamen Tochter entledigen wollten. Einer wie Inja. Doch wie hatte der Oheim das so schnell bewerkstelligt? Immerhin lag Rutten viele Tagesreisen entfernt.

«Nein«, stieß Inja hervor. »Das kannst du mir nicht antun.«

»Ich kann und ich werde«, entgegnete der Oheim ungerührt. »Die Leute meinen, du solltest Buße tun und die Gelegenheit bekommen, die bösen Geister, die sich in der Nacht deiner Geburt in dir eingenistet haben, zu vertreiben.«

»Aber …«, hilfesuchend blickte Inja in die Gesichter der Männer, die über sie gerichtet hatten. Wie mitleidlos sie Inja betrachteten. »Aber ich bin unschuldig. Das waren keine bösen Geister, es waren die Söldner. Genauso gut könntet ihr den König bezichtigen, schließlich sind es seine Männer gewesen, die gemordet und sich an den Frauen vergangen haben.«

Der Oheim schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Versündige dich nicht, Mädchen! König Ulrik ist unfehlbar.«

Inja zuckte zusammen, zwang sich aber, stehenzubleiben. Verzweifelt wandte sie sich an Köhler Heribert, der in der Männerrunde der Freundlichste war. »Ich bin fleißig und stark. Ich kann bei Euch arbeiten. Oder bei Olge auf den Feldern. Woher wollt ihr wissen, dass mich der Konvent überhaupt haben will? Niemand hat mit den Gesegneten verhandelt.«

»Das war eine Fügung der Götter«, mischte sich der Büttel ein. »Die kleine Meite, die nach dem langen Winter aus Not an den Konvent verkauft wurde, ist schwanger. Wie allgemein bekannt sein dürfte, nimmt der Konvent nur jungfräuliche Maiden bei sich auf. Dein Oheim schlug vor, dass du Meites Platz einnimmst und statt ihrer nach Rutten gehst, und wir alle hielten das für eine gute Idee.«

Entgeistert starrte Inja ihn an. Gewiss war die dreizehnjährige Meite nicht aus Versehen schwanger geworden. Sie wollte bloß nicht nach Rutten. Niemand wollte das.

»Das könnt ihr nicht tun«, begehrte sie auf. »Das ist unrecht. Ich tauge nicht zum Dienst an den Göttern und ich will auch keine Buße tun. Ich habe nichts falsch gemacht.«

Der Büttel winkte ab. »Papperlapapp. Die Entscheidung ist gefallen. Wenn du gehorsam und arbeitswillig bist und dich reumütig zeigst, hast du nichts zu befürchten.«

Instinktiv wich Inja bis zur Tür zurück. Das Blut rauschte in ihren Ohren. »Bitte«, flehte sie. »Bitte schickt mich nicht zu diesem Ort. Meine Geschwister brauchen mich.«

Der Oheim erhob sich schwerfällig. Sein ausladender Bauch drückte gegen den Tisch. »Schluss mit dem Gerede. Meine Schwester war viel zu nachlässig mit dir. Wäre es nach mir gegangen, hätte sie dich schon vor langer Zeit verkauft. Du gehst nach Rutten und fertig. In zwei Tagen wirst du abgeholt.«

Inja schüttelte den Kopf und tastete nach dem Türknauf. »Eher sterbe ich.« Ruckartig riss sie die Tür auf und stürmte nach draußen.

Ban stand lässig gegen einen Pfosten gelehnt und sah überrascht auf, als Inja an ihm vorbeistürmte. Ohne ihn eines Blickes zur würdigen, rannte sie Richtung Murgfluss davon. Am Flussufer, wo sie keuchend niedersank, holte er sie schließlich ein. »Warum rennst du, als wäre ein Wiedergänger hinter dir her? Was ist passiert?«

Inja schluchzte laut. »Sie schicken mich in den Konvent nach Rutten.«

Erschrocken riss Ban die Augen auf. »Was? Das können sie nicht tun, das ist unrecht.«

»Sie können und sie werden es tun.«

»Wann?«

»In zwei Tagen.« Tränenbäche strömten über ihre Wangen, verfingen sich in den Winkeln ihrer Lippen. Strähnen ihres nassen Haares fielen in ihr Gesicht. Völlig aufgelöst saß sie da und schluchzte, während Ban sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht musterte.

»Was ist?«, fragte sie unwirsch. »Warum starrst du mich so an? Sag doch was.«

»Ich ...« Ban zögerte. Röte schoss in seine Wangen. »Ich rede mit meiner Mutter. Vielleicht kann sie deinen Oheim umstimmen.«

Inja schüttelte den Kopf. »Es ist ja nicht nur der Oheim. Die Dorfbewohner hassen mich schon seit dem Tag meiner Geburt und haben endlich einen Grund gefunden, um mich loszuwerden.«

Ban atmete einmal tief durch, rückte dann ein wenig näher und ergriff ihre Hand. »Na gut. Die Leute hier sind einfältig, sie wissen es nicht besser, doch wenn der Konvent für Mädchen und Jungen bezahlt, dann ist es bestimmt auch möglich, sie wieder freizukaufen.«

Schniefend wischte Inja die Tränen fort. »Was meinst du damit?«

»Ganz einfach. Wenn sie dich wirklich fortschicken, werde ich dich freikaufen.«

Eine grandiose Idee. Die Sache hatte nur einen Haken. »Wie willst du das anstellen? Du hast weder Geld noch Schätze.«

Ban warf sich in die Brust, wohl um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich werde hart arbeiten und jeden Kreuzer sparen, bis ich genug beisammenhabe. Es mag einige Winter dauern, doch ich werde nicht ruhen, bis du frei bist.«

Inja betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Etwas in seinem Blick hatte sich verändert, die Art, wie er sie ansah. Das Unbeschwerte war aus seinen Augen gewichen, und so sicher, wie sie wusste, dass sie in den Konvent nach Rutten geschickt wurde, so sicher wusste sie, dass ihrer beider Kindheit unwiederbringlich verloren war.

»Versprichst du mir das?« Sie teilte Bans Zuversicht nicht, doch den Funken Hoffnung, den sein Vorhaben in ihr entzündete, hatte sie bitter nötig.

»Ja«, schwor Ban in feierlichem Ton. »Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um dich zu befreien. Ich schwöre es auf mein Leben und auf das Leben meiner Mutter.«

Gerührt schlang Inja die Arme um seinen Hals. »Ich liebe dich, Ban. Du bist alles, was ich noch habe auf dieser Welt.«

»Ich liebe dich auch«, wisperte Ban. »Mehr als du dir vorstellen kannst.«


Die Nacht verbrachte Inja bei Lore und Ban. Nachdem, was der Oheim ihr verkündet hatte, war ihr die Schicklichkeit erst recht egal. Was kümmerte es sie, was die Dorfbewohner oder ihr Oheim dachten? Sie hatte nur noch Verachtung für sie. Lore bestand darauf, dass Ban auf dem Boden schlief, doch sobald sie eingeschlafen war, kroch er zu Inja ins Bett und nahm sie in den Arm. Ihr Kopf lag auf seiner Brust.

»Sobald ich dich freigekauft habe, nehme ich dich zu meiner Frau«, wisperte er, während er zärtlich über ihre Haare strich.

Inja konnte nichts erwidern. Seine Worte rührten sie zu Tränen. Er hob den Kopf und blickte auf sie hinab. Das offene Haar verbarg ihr Gesicht. Liebevoll schob er die hellen Strähnen zurück. »Du musst nicht weinen. Ich befreie dich, auch wenn du nicht meine Frau werden willst.«

Inja zog die Nase hoch und sah auf. »Das ist es nicht. Natürlich möchte ich deine Frau werden, doch es tut so weh, dich verlassen zu müssen. Außerdem habe ich schreckliche Angst.«

Schüchtern tastete sie über seine Brust bis hinauf zu seinem Gesicht. Noch war sein Bart nicht mehr als ein zarter Flaum auf seinen Wangen, eine Vorahnung des Mannes, der er einmal sein würde. Ban erschauerte, wandte sich ihr zu und zog sie an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem zaghaften Kuss, der jedoch rasch drängender wurde, bis das, was einst ihre Freundschaft gewesen war, zu Leidenschaft wurde. Überdeutlich spürte Inja die Wärme seiner Haut und die harten Muskeln unter seinem Hemd.

»Habe ich nicht gesagt, dass du auf dem Boden schlafen sollst?« Lores Stimme beendete den Kuss abrupt. »Glaubt ihr etwa, ich will schuld daran sein, wenn eine Unreine den Konvent betritt? Mach, dass du aus dem Bett kommst, Junge, aber schnell!«

Ban erschrak so sehr, dass er fast von alleine aus dem Bett plumpste. »Entschuldige Mutter.«

Inja kroch beschämt unter die Decke. Lore brummte ungehalten. »Ich weiß, dass ihr glaubt, füreinander bestimmt zu sein, doch nicht jetzt und nicht hier. Inja muss in den Konvent, dagegen können wir nichts tun und dort wird sich zeigen, ob ihr einander auch wirklich verdient.«


Zwei Tage später stand Inja an der Wegkreuzung, einen einstündigen Fußmarsch von Krickdorf entfernt. Nur Veit und Benlin hatten sich von ihr verabschiedet. Ihre betroffenen und verzweifelten Mienen schnitten wie Dolche in Injas Herz. Aberlin war früh am Morgen des vergangenen Tages aufgebrochen, war heimlich aus dem Haus geschlichen wie ein Dieb in der Nacht, und Irmeli war noch zu klein, um zu verstehen, was geschah. Die Dorfbewohner klopften sich wie üblich gegen Lippen und Stirn, sobald sie Inja erspähten, und gingen dann ihrer Wege als wäre nichts geschehen.

Ban, der Oheim und der Köhler begleiteten Inja, wobei Letztere dies taten, weil sie sichergehen wollten, dass sie nicht davonlief.

Inja mied Bans Blick, um nicht den Schmerz in seinen Augen sehen zu müssen, der auch ihr Herz erfüllte, doch sie hielt seine Hand fest umklammert. Erst als sich ein Wagen näherte, wagte sie es, ihn anzusehen. Er war so ernst wie nie zuvor. Seltsam. Der Junge von einst schien über Nacht zu einem Mann geworden zu sein.

»Denk immer an das, was ich dir geschworen habe«, sagte er.

Inja nickte stumm. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Worte konnten nicht ausdrücken, was sie empfand.

Der Wagen kam einen Doppelschritt entfernt rumpelnd zum Stehen. Eine verhüllte Frau und zwei bewaffnete Männer stiegen aus. Die Frau war etwa im Alter von Bans Mutter, trug ein langes Gewand aus ungefärbter Sommerwolle, das bis zum Hals geschlossen war und eine Haube, unter der ein brauner Zopf herausschaute, der straff geflochten über den Rücken fiel. Nichts Weiches war in ihrem hageren Gesicht, nur Kanten und Spitzen. Die Bewaffneten trugen lederne Beinkleider, Tuniken aus Leinen und einen gut bestückten Waffengurt. Sie nahmen links und rechts neben der Frau Aufstellung und verschränkten abwehrend die Arme vor der Brust.

»Seid gegrüßt. Ich bin Griselle, gesegnete Dienerin der Götter. Ist das die neue Konventin?« Sie musterte Inja abschätzend. In ihren Augen lag eine kalte Gleichgültigkeit, die Inja einen Schauer über den Rücken jagte.

Der Oheim verneigte sich ehrerbietig. »Ja Herrin.«

»Sie ist so blass und zart. Ist sie krank?«, fragte Griselle.

»Nein, Gesegnete. Sie ist ein Winterkind.« Anspannung klang aus seiner Stimme, die in Inja Hoffnung aufkeimen ließ. Was wenn Griselle misstrauisch wurde und sich weigerte, sie mitzunehmen?

Im Gegensatz zu den Dorfbewohnern klopfte Griselle sich nicht gegen Lippen und Stirn. Stattdessen trat sie auf Inja zu und hob ihr Kinn. »Wie viele Winter zählst du?«

»Vierzehn«, antwortete Inja.

Griselle kniff die Augen zusammen und fixierte sie. »Trägst du einen bösen Geist in dir?«

»Nein.« Angespannt ballte Inja die Hände zu Fäusten. Hätte sie die Frage bejahen sollen? Wenn es nach den Dorfbewohnern ging, trug sie nicht bloß einen Geist in sich, sondern eine ganze Schar. Nein, in Krickdorf konnte sie nicht bleiben. Welches Schicksal auch immer auf sie wartete, sie musste es annahmen.

»Nun gut. Wir werden sehen.« Griselle ließ sie los und wandte sich den Bewaffneten zu. »Gebt ihnen das Geld. Wir müssen uns sputen.«

Der Oheim feixte, als er den Geldbeutel entgegen nahm und Inja fragte sich, ob nicht ein Teil der Münzen in seine Taschen wandern würde, anstatt in die Börse ihrer Mutter.

Ban versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. »Leb wohl.«

Griselle beäugte ihn scharf. »Ich wünsche kein dramatisches Lebewohl. Das Mädchen soll sich von ihren Verwandten verabschieden und in den Wagen steigen.«

Inja ergriff Bans Hand und versuchte, seine tröstliche Nähe und Wärme in sich aufzusaugen. Für eine sehr lange Zeit würde diese letzte Berührung das Einzige sein, was ihr von ihm blieb, denn persönliche Dinge, egal welcher Art, waren im Konvent nicht gestattet. Sie wollte nicht gehen, alles in ihr wehrte sich dagegen, doch sie hatte keine andere Wahl. Griselle räusperte sich.

Widerwillig löste sich Inja von Ban und kletterte in den Wagen. Sie hatte das Gefühl, jemand würde ihr das Herz aus der Brust reißen. Hinter ihr stieg ein Bewaffneter ein. Der andere nahm auf dem Kutschbock platz. Schon klatschten die Zügel auf den Rücken der Zuggäule und das Gefährt setzte sich schwankend in Bewegung. Durch den Einstieg beobachtete Inja, wie Ban langsam kleiner wurde. Er stand mit hängenden Armen da und starrte dem Wagen nach.

Inja hielt seinen Blick, auch als sein Gesicht nur noch eine verschwommene Scheibe war, bis das Gefährt die Wegbiegung nach Murg nahm und seine Gestalt endgültig aus ihrem Blickfeld verschwand.


Am Abend stoppten sie neben einem kleinen Wald, wo ein dürres Mädchen am Wegrand wartete. Ihre Kleidung war fadenscheinig und an vielen Stellen geflickt, die dunkelblonden Haare verfilzt und schmutzig. Schuhe trug sie keine und die dreckigen und blutverkrusteten Füße deuteten darauf hin, dass sie auch keine besaß. Das Mädchen hatte kein Bündel auf dem Rücken und stand ganz alleine, niemand hatte es begleitet, um sich zu verabschieden. Sie verneigte sich zitternd vor Griselle und kletterte rasch in den Wagen. Der durchdringende Geruch nach Schmutz, ungewaschener Kleidung und Holzfeuer haftete ihr an und Inja musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Verstohlen betrachtete sie das Mädchen, das sich zu ihrer Erleichterung direkt neben den Einstieg setzte. Sie war etwa in ihrem Alter, vielleicht auch ein wenig jünger.

»Sei gegrüßt«, sagte Inja, in der Hoffnung, auf ein paar Worte, die ihr zeigen würden, ob sie eine Verbündete vor sich hatte, doch das Mädchen warf ihr nur einen kurzen, misstrauischen Blick zu und starrte dann wieder auf den Boden. Schweigend fuhren sie weiter. In Sichtweite eines einsamen Gehöfts hielten sie erneut inne. Griselle reichte ihnen Brot und Käse und befahl dem Mädchen, sich in dem nahe gelegenen Teich zu waschen. Inja zog derweil eine Decke aus ihrem Bündel, wickelte sich darin ein und versuchte, in die tröstenden Arme des Schlafes zu sinken. Der Bewaffnete hatte das Mädchen zum Teich begleitet und so war sie allein, was sie ausgesprochen angenehm fand. Als das Mädchen kurz darauf zurückkehrte, trug sie statt ihrer schmutzigen Kleidung dasselbe Kleid aus ungefärbter Sommerwolle wie Griselle. Die Konvententracht, vermutete Inja.

Zögerlich legte sich das Mädchen neben sie und wandte ihr den Rücken zu. Inja warf einen Blick über die Schulter und betrachtete sie. Die Knie bis zum Bauch hochgezogen zitterte sie vor sich hin. Kein Wunder, die Nacht war kühl und das Mädchen besaß keine Decke.

Seufzend setzte Inja sich auf. »Wollen wir uns meine Decke teilen?«

Zuerst reagierte das Mädchen nicht, doch schließlich wagte sie es, Inja anzusehen. »Bist du ein Geist?«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Wie oft hatte sie diese Frage schon gehört? »Nein, bin ich nicht.«

Das Mädchen war noch nicht überzeugt. »Warum bist du dann so blass?«

»Ich bin so geboren«, wehmütig dachte Inja daran, was ihre Großmutter auf derartige Fragen antwortete. »Wie der Winter die Welt in schneeweiße Helligkeit hüllt, so hüllte er mich in sein weißes Gewand.«

Das Mädchen setzte sich auf und rückte zaghaft ein wenig näher. »Wie ist dein Name?« Scheinbar hatten Großmutters blumige Worte ihre Vorbehalte zerstreut.

»Inja und deiner?«

»Mein Name ist Lykke.«

Inja hob die Decke an und nickte Lykke aufmunternd zu. »Komm. Die Nacht ist kalt, wir sollten uns gegenseitig wärmen.«

Lykke rutschte näher. Sie roch nach Wald und feuchter Wolle. »Wie viele Winter zählst du?«, fragte Inja, während sie die Decke um Lykkes Hüfte schlang.

Unsicher verknotete Lykke ihre Finger ineinander und senkte den Blick. Die Frage schien ihr unangenehm. »Ich bin mir nicht sicher. Dreizehn Winter hat die ehrwürdige Griselle geschätzt.«

»Dann sind wir ja fast gleich alt«, sagte Inja betont fröhlich. Wo war dieses Mädchen bloß aufgewachsen, wenn sie nicht einmal wusste, wann sie geboren war? Eines Tages würde sie Lykke danach fragen, doch jetzt war sie einfach nur müde. Gähnend rutschte Inja zu Boden und schloss die Augen. Der Gedanke, dass sie zumindest nicht alleine in Rutten ankommen würde, spendete ihr ein wenig Trost.

Um die Mittagszeit des folgenden Tages passierten sie einen Weiler, wo Griselle eine Spindel, mehrere Körbe mit Seife und einen stattlichen Hahn, der wild in seinem Käfig herumflatterte, abholte. Inja fragte sich, wofür die Gesegneten so viel Seife benötigten, als Griselle ihnen auch schon die Antwort lieferte.

»Im Haus der Götter dulden wir weder Schmutz noch Unreinheit«, erklärte sie, während die Bewaffneten die Körbe in den Wagen hievten. »Körper und Seele sind zweimal täglich zu reinigen. Eine verderbte Seele fühlt sich wohl in einem schmutzigen Leib und er zieht das Böse an.«

Auf der Fahrt setzte Inja sich mit Lykke an den Einstieg und betrachtete die Landschaft. Dunkle Tannenwälder wechselten sich ab mit Viehweiden und Feldern, die sich endlos in die Ferne zogen. Sie passierten Dörfer und Siedlungen, grüne Hügel und blühende Wiesen. Noch nie war Inja so weit von Zuhause weg gewesen, entsprechend neugierig sog sie jede Einzelheit in sich auf. Am Abend des vierten Tages erreichten sie Murg, die zweitgrößte Stadt in Gotland. Im Gegensatz zu anderen Städten war sie nicht von einer hohen Mauer umfriedet, stattdessen sorgten mehrere Wachtürme für die Sicherheit der Bürger.

Aufgeregt betrachtete Inja die hohen Türme und die mehrstöckigen Häuser. Sie wusste gar nicht, dass so viele Menschen übereinander leben konnten. In Krickdorf hatte ein Haus höchstens zwei Stockwerke. Angesichts der vielen unbekannten Dinge konnte sie es kaum erwarten, in die Stadt zu gelangen und die Vielfalt zu bewundern, doch Giselle machte ihre Vorfreude zunichte.

»Wir verbringen die Nacht außerhalb dieses Sündenpfuhls«, verkündete sie. »Im Morgengrauen nehmen wir unseren letzten Konventen auf und reisen weiter nach Rutten.«

Als sie die enttäuschten Gesichter der beiden Mädchen sah, reckte sie ihr spitzes Kinn in die Luft und stemmte die dürren Arme in die Hüfte. »Gewöhnt euch besser daran. Ihr werdet keine Unwürdigen mehr zu Gesicht bekommen. Dieser Leib, in dem eure Seele wohnt, gehört jetzt den Göttern. Sobald ihr den Konvent betretet, seid ihr nicht mehr Teil dieser Welt.«

Eisige Kälte kroch in Injas Bauch. Sie wusste, dass der Konvent ein Exil war, doch Griselles Worte klangen erschreckend endgültig. Würde es Ban jemals gelingen, sie zu befreien? Fast hatte er Inja von seinem Vorhaben überzeugt, doch je weiter sie sich von Krickdorf entfernte, umso mehr zweifelte sie daran.

Griselle wandte sich ab und rauschte davon. Ein Bewaffneter brachte ihnen eine Schale Buchweizenbrei und einen Apfel. Für Inja schmeckte das Essen bitter, wie eine Henkersmahlzeit und sie aß es nur, weil ihr Magen knurrend nach Essen verlangte. Dann legte sie sich hin, hüllte sich und Lykke in die Decke und starrte die Wagenbespannung an. Ihre Zukunft zog an ihr vorbei wie ein Trauerzug, trostlos und finster.

Sollte Ban wortbrüchig werden und sich von ihr abwenden, würde ihr Leben in Ödnis und Einsamkeit versinken.

Im Zwielicht des anbrechenden Morgens gesellte sich ein Junge zu ihnen. Im Wagen war es noch dunkel, doch Inja sah, dass er sehr jung sein musste, höchstens acht oder neun Winter alt. Ein Wust dunkler Haare zierte seinen Kopf, unter dem ein spitzes Gesicht mit wachen, braunen Augen und schmalen Lippen hervorblitzte. Neugierig musterte er sie. Keine Schüchternheit lag in seinem Blick.

Inja rappelte sich auf. »Sei gegrüßt. Komm setz dich zu uns.«

Der Junge zögerte. »Seid ihr Gesegnete?«

Lykke kicherte und auch Inja konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Nein, wir sind Konventen, wie du. Wie lautet dein Name?«

»Mein Name ist Hadwin«, antwortete er.

Ruckelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. Hadwin stolperte und fiel gegen die Spindel. Inja fragte sich, warum ein kleiner Junge wie Hadwin wohl in einen Konvent geschickt wurde? Er sah nicht aus, als käme er aus der Gosse. Seine Kleidung war aus gefärbter Wolle und gut erhalten, die Schuhe aus festem Leder waren mit feinen Stichen vernäht, die Sohle zeigte kaum Abnutzungsspuren. Auch roch er frisch gewaschen und wirkte selbstsicher und gut genährt, keinesfalls wie jemand, der in Armut lebte. Während sie noch überlegte, ob sie ihn zu seiner Herkunft befragen sollte, verzog der Junge plötzlich das Gesicht und schluchzte.

Inja ergriff seine Hand. Tröstende Worte zu sprechen war sie durch ihre Geschwister gewöhnt. »Weine nicht, Hadwin. So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Doch das wird es«, schluchzte er. »Torge, der Sohn meines Oheims sagte mir, dass sie mich entmannen werden, so wie sie es mit einem Hengst tun, damit er ruhiger wird.«

Lykke schnappte erschrocken nach Luft. »Wie kann er nur so etwas Schreckliches sagen? Was meint denn dein Vater dazu?«

Hadwin schniefte. „Mein Vater ist tot, er wurde hingerichtet wegen eines Vergehens, das er nicht begangen hat. Mutter wurde enteignet und der Besitz auf Geheiß des Königs meinem Oheim übertragen.«

Der arme Junge. Für Inja klang die Geschichte verdächtig nach einer Intrige. Möglicherweise hatte der Oheim die Familie reingelegt. »Das hat Torge sicher nur gesagt, um dich zu ängstigen«, versuchte sie Hadwin zu beruhigen. »Warum sollten sie dich entmannen? Das macht doch keinen Sinn.«

Hadwin zuckte mit den Schultern. »Torge sagt, sie tun das zur Sicherheit damit die Konventen nicht auf die Weiber steigen.«

Das war ein gutes Argument, immerhin gab es im Konvent sehr viele Mädchen und Frauen. Außerdem war Reinheit des Leibes und Tugendhaftigkeit das höchste Gebot, wie Griselle nicht müde wurde zu betonen. Junge Männer waren ungestüm und konnten ihre Begierden auf Dauer nicht unterdrücken. Doch Inja hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen, denn das würde Hadwins Befürchtungen bestätigen. »Dieser Torge ist ein gemeiner Tölpel«, sagte sie stattdessen. »Hör nicht auf seine Worte. Sicher sind sie eine Lüge und er hat sie nur gesagt, um dir Angst zu machen.«

Hadwin rieb die Tränen aus seinen Augen. »Glaubst du das wirklich?«

»Natürlich«, versicherte Inja. »Einen Menschen zu kastrieren ist barbarisch und grausam, ich glaube kaum, dass die Gesegneten einen derartigen Ritus pflegen.«

Nach diesen Worten beruhigte Hadwin sich. Der kalte Knoten in Injas Bauch indessen wurde noch ein wenig größer und kälter. Mit jedem Tag, den sie sich ihrem Ziel näherten, stieg ihre Beklommenheit. Der Konvent zu Rutten war kein guter Ort, das spürte sie so deutlich wie das Heimweh und die Sehnsucht nach Ban, die ihr Herz gefangen hielt.

Geisterkind

Подняться наверх