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Rutten

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Die Tage im Konvent begannen vor Morgengrauen. Inja wurde der Gartenarbeit zugeteilt, eine der vielen Schikanen, die sie über sich ergehen lassen musste. Sie verabscheute den Garten, hasste die schwere, feuchte Erde unter ihren Fingernägeln und den felsigen Grund, auf dem nur mit größter Fürsorge und Anstrengung etwas wachsen wollte. Die extra Brotration machte die schwere Arbeit lange nicht wett und Inja hatte fast immer Hunger.

Noch vor dem Morgengebet musste sie die Kammern der Gesegneten reinigen und die Nachttöpfe leeren. Glücklicherweise waren nicht alle achtzehn Kammern bewohnt. Inja zählte insgesamt elf Gesegnete plus die Erhabene Eltrud, die jedoch in einer besonderen Kammer mit Tür nächtigte. Ihre Kammer zu betreten, war strengstens untersagt.

Nach dem Morgengebet wusch Inja sich und machte sich anschließend mit den Konventinnen Anaé und Mina auf den Weg in die von Moos und Unkraut überwucherte Steinwüste, die allgemein Garten genannt wurde. Wie oft sie auch die Steine und Felsen aus dem Boden klaubten, spätestens nach drei Tagen waren neue da. Die jungen Frauen machten sich die schwere Arbeit erträglich, indem sie Lieder sangen, Steine um die Wette warfen oder Würmer aus der Erde zogen und zählten, wer die meisten oder den längsten gefunden hatte. Wenn sie ihr Tagwerk beendeten, brachten sie die kargen Erträge in die Vorratskammern, wo die Köchin Sumilla über die Abgaben wachte und genaustens über jeden Erdapfel, jede Beere, Zwiebel, Blauknolle und Rübe Buch führte. Dass sie zu ihrer Graubrotration am Mittag auch die ein - oder andere Rübe oder Beere verdrückten, behielten sie für sich. Inja sah Lykke nur während der Essenzeiten, den Gebeten und im Schlafsaal, wo sie jedoch meistens zu müde waren, um mehr als drei Sätze zu wechseln. Während der Mahlzeiten war Reden strikt untersagt, ebenso während des stillen Gebets am Ende der Andachten.

Lykke fertigte Schmuck, was ihr leidlich Freude bereitete. Doch auch sie trug die Zeichen schwerer Arbeit, denn beim Fertigen des Schmucks kam es oft vor, dass sich die Konventen schnitten, in den Finger stachen oder solange an einer Muschel feilen mussten, bis die Finger geschwollen und taub waren.

Seit drei Monden weilte Inja nun bereits an diesem Ort, doch es kam ihr vor wie ein einziger, nicht endenwollender Tag, nur unterbrochen durch kurze Phasen der Dunkelheit. Nie bekamen sie frei und ruhen durften sie nur in der Nacht. Der Konvent war kein heiliger Ort, er war ein Arbeitslager, das war Inja bereits nach wenigen Tagen bewusst geworden. Anfänglich hatten die anderen Konventinnen sie misstrauisch beäugt und sie gemieden, doch mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihr seltsames Äußeres und mittlerweile fragte niemand mehr nach ihrer unnatürlich hellen Haut und dem weißen Haar.

Zwischen dem Reinigen der Kammern und dem Morgengebet hatte Inja es sich angewöhnt, an den Rand des Felsplateaus zu steigen und die aufgehende Sonne zu betrachten. Wenn die ersten Strahlen die scharfe Linie zwischen dem Meer und dem Horizont überwanden, und das Wasser in glitzerndes Licht tauchten, schöpfte sie Kraft und Hoffnung. Eines Tages, so schwor sie sich in diesen Augenblicken, würde sie diesem Jammertal entfliehen und ein besseres Leben führen.

An diesem Abend, Inja hätte nicht zu sagen vermocht, welcher Tag es war, erhob sich die Erhabene, um die Aufgaben zu verteilen. Inja saß auf der Bank an einem langen Tisch und hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie war müde und ihr Rücken schmerzte, nachdem sie den ganzen Tag lang Steine aus dem Boden gegraben hatte. Mittlerweile war es auch am Tag frostig und der Nordwind trug den Geruch des nahenden Winters herbei. Obwohl sie den Gedanken an Ban möglichst verdrängte, spukte er an diesem Tag fast unablässig in ihrem Kopf herum. Wie lange mochte es dauern, bis er genug Geld beisammenhatte, um sie auszulösen? Und was würde sie tun, sollte er es nicht schaffen? Neben ihr schnappte Lykke plötzlich nach Luft.

Inja sah auf. »Was ist?«

»Ich soll morgen die Netze leeren.« Lykkes Augen schwammen in Tränen.

»Aber du kannst nicht schwimmen. Hast du das der Erhabenen nicht gesagt?«

Lykke wischte sich über die Augen und zog die Nase hoch. »Sie wissen es. Doch du kennst die Erhabene. Sie ist gnadenlos. Erinnerst du dich nicht, wie sie dich beinahe hätte ertrinken lassen? Die Götter allein entscheiden über Leben und Tod sagt sie.«

Was hatten die Götter damit zu tun, wenn die Erhabene ein Mädchen, das nicht schwimmen konnte, ins Meer schickte? Das war kein göttlicher Wille, sondern menschliche Willkür. Entrüstet sah Inja zum Tisch der Gesegneten. Eltrud saß am Kopfende und sah in ihre Richtung, ein kleines gemeines Lächeln auf den Lippen. Wut stieg in Inja empor. Die Erhabene tat das mit Absicht. Aber warum? Um Inja zu ärgern? Um sie herauszufordern? Was auch immer diese Frau dazu bewogen hatte, sie würde es sich nur anders überlegen, wenn Inja ihr die entsprechende Gegenleistung bot.

»Ich werde mit der Erhabenen reden«, versprach Inja an ihre Freundin gewandt.

Lykke wirkte regelrecht erschrocken. »Tu das nicht. Sie kann dich nicht leiden, das weißt du. Wahrscheinlich machst du es nur schlimmer, wenn gerade du dich für mich einsetzt.«

»Wahrscheinlich hat sie genau das im Sinn«, zischte Inja. »Ich muss zu ihr gehen und herausfinden, was sie dazu bewogen hat und was sie will. Vielleicht ist sie zufrieden, wenn ich anbiete, die Netze zu leeren.«

Lykke schüttelte den Kopf. »Niemals. Sie weiß, wie gut du im Wasser zurechtkommst.«

Lykke hatte recht. Wenn Eltrud den Tausch nicht als Strafe empfand, würde sie sich nicht darauf einlassen. Das vermeintliche Opfer musste glaubhaft sein. »Egal. Ich gehe trotzdem zu ihr. Mir fällt schon was ein.«

»Ich höre Stimmen statt gesegnetes Schweigen«, rief Griselle mit strenger Stimme.

Inja und Lykke verstummten und beugten sich über ihre Teller.

Trotz Lykkes Warnung machte Inja sich nach dem Abendgebet auf den Weg zu Eltrud. Wie üblich saß sie in ihrer Kammer auf dem gepolsterten Stuhl, flankiert von ihren beiden engsten Vertrauten. Inja verneigte sich unterwürfig. »Erhabene, bitte hört mich an.«

Eltrud nickte zum Zeichen, dass Inja sprechen durfte. Ihr spitzes Gesicht zeigte keine Regung, doch ihre Augen blitzten erwartungsvoll.

»Lykke kann nicht schwimmen. Da die Götter mich mit diesem Talent gesegnet haben, biete ich Euch an, auf unbegrenzte Zeit an ihrer statt die Netze zu leeren.«

Die Erhabene musterte Inja kalt. »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«

Inja hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Was sollte sie auch sagen? Jedes Wort würde die Erhabene absichtlich missverstehen.

»Unsere Regeln entsprechen dem Willen der Götter. Die Konventin Lykke muss ihren Teil erfüllen wie jede andere auch. Es ist unerheblich, ob das ihren Fähigkeiten entspricht oder nicht.«

Heißer Zorn kochte in Inja hoch. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzte Eltrud Lykkes Leben aufs Spiel. Warum tat sie das? »Aber sie wird es nicht schaffen, zu den Netzen hinabzutauchen und wahrscheinlich ertrinken bei dem Versuch«, stieß Inja verzweifelt hervor. »Das könnt Ihr unmöglich wollen. Schließlich ist sie eine gute Arbeitskraft. Wer weiß, ob das nächste Mädchen so billig und geschickt ist wie sie.«

Zorn umwölkte Eltruds Gesicht, während sie ihr Stickzeug zur Seite legte und sich langsam erhob, bis sie auf Inja hinabblickte wie auf einen schleimigen Wurm. Die Stille, nur durchbrochen von dem Knistern und Fauchen des Kaminfeuers, senkte sich wie Winternebel über den Raum. Inja sank das Herz. Mit ihren Worten hatte sie zugegeben, dass sie genau wusste, um was es im Konvent ging. Dass es sich ganz und gar nicht um einen heiligen, gottgefälligen Ort handelte.

Die Erhabene neigte den Kopf zur Seite. »Ich hielt dich für geläutert, doch scheinbar habe ich mich geirrt. Wie es aussieht, trägst du noch immer die bösen Geister in dir.«

Ein kalter Schrecken sackte in Injas Bauch. Wenn Eltrud über böse Geister redete, konnte das nur eines bedeuten: Sie wollte sie einer erneuten Reinigung unterziehen. Alles, bloß das nicht. »Nein, ehrwürdige Erhabene. Ich trage gewiss keine Geister mehr in mir«, versicherte Inja schnell. »Ich sorge mich nur um das Wohlergehen einer Freundin.«

»Bist du dir sicher?« Ein leises Lächeln umspielte Eltruds Lippen. Sie genoss Injas Furcht.

»Das bin ich. Ich schwöre es bei allen Göttern.« Injas Stimme klang atemlos. Diese Tortur würde sie kein weiteres Mal ertragen. »Nach der Reinigung wurde ich neugeboren.«

Ein stiller Augenblick reihte sich an den nächsten. Injas Herz klopfte aufgeregt. Furcht schnürte ihre Kehle zu.

»Nun gut«, sagte Eltrud schließlich. »Du wirst bis zum Ende des Winters das Leeren der Netze übernehmen und sieben Nächte bei den Geißen schlafen. Für deine Dreistigkeit wirst du eine Nacht lang fasten und Buße tun, indem du auf den Knien zu den Göttern betest.«

Inja schnappte erschrocken nach Luft. Das Leeren der Netze und bei den Geißen zu schlafen war erträglich, doch eine Nacht auf den Knien war wie an der Pforte einer namenlosen Hölle zu stehen. Qualvoll und beängstigend. Wenigstens würden ihre Qualen nicht vergebens sein, denn sie hatte Lykke vor dem Ertrinken bewahrt. Dieser Gedanke würde sie trösten.


Am folgenden Morgen verrichtete Inja ihren Dienst in den Kammern der Gesegneten. Als sie zu Griselles Kammer gelangte, fand sie zu ihrem Erstaunen einen Dolch unter dem Bett. Sie hob ihn auf und betrachtete ihn. Die Gesegneten trugen keine Waffen, also konnte es sich nur um den Dolch eines Beschützers handeln. Aber warum lag er unter der Bettstatt? Neugierig sah sie sich um. Auf dem Laken fand sie milchig-weiße Flecken, ebenso auf einem Tuch im Wäschekorb. Oft genug hatte sie die Laken ihrer Eltern gewechselt, um den Ursprung dieser Flecken zu erkennen. Griselle paarte sich mit einem Beschützer. Scheinbar waren die Gesegneten doch nicht so keusch, wie sie den Konventen glauben machen wollten.

Kurzerhand steckte sie den Dolch in die Tasche ihres Gewandes. Niemand würde es wagen, danach zu fragen, denn das käme einem Geständnis gleich. Im Schlafsaal versteckte sie ihn unter ihrem Bett und eilte dann zum Strand. Die Gesegnete Trude reichte ihr zwei Körbe mit verschließbarem Deckel für die Fische, ein Messer und ein Tuch, um sich abzutrocknen. Dann erklärte sie ihr, wie sie die Netze leeren musste. Inja hörte nur mit halbem Ohr zu, in Gedanken war sie bei Griselle und dem Beschützer, mit dem sie verkehrte. Welcher war es wohl? Gewiss nicht der Schönling. Der war viel zu jung. Ob die anderen Gesegneten ebenfalls mit den Männern verkehrten? Inja beschloss, beim Richten der Kammern besser hinzuschauen und nach Zeichen zu suchen.

Das Meer war rau an diesem Morgen. Schäumende Wellen schwappten über den Strand und der Nordwind ließ sie frösteln. Sie entkleidete sich, hängte den Korb über den Arm und stapfte beherzt ins Wasser. Klirrende Kälte umfing sie, die wie Nadeln in ihre Haut stach. Zischend sog Inja die Luft zwischen die zusammengebissenen Zähne. Egal. Sie musste weiter. Je eher sie es hinter sich brachte, umso schneller war es vorbei.

Die meisten Fische lebten noch und zappelten in ihrem Griff. Ein großer, silbrigglänzender Fisch entglitt ihren Händen und schwamm eilig davon. Als sie das dritte Netz erreichte, hatte sie gerade einmal neun kleine Fische im Korb. Mittlerweile konnte sie nicht mehr stehen und sie musste sich an die Pfosten klammern, um nicht von der Strömung erfasst und ins Meer hinausgespült zu werden.

Vorsichtig befestigte sie den Korb an dem dafür vorgesehenen Haken, hangelte sich zur Mitte des Netzes, hielt die Luft an und tauchte unter. Im dritten Netz hatten sich acht Fische verfangen, einer davon lang und so dick wie ihre Wade. Sie schnappte den Ersten, strampelte an die Wasseroberfläche zurück und warf ihn in den Korb. Das wiederholte sie mehrere Male, bis sie alle Fische eingesammelt hatte. Am Strand schleppte sie den gefüllten Korb zur Treppe, damit er nicht versehentlich von einer Welle erfasst und davongespült wurde, nahm den zweiten Korb zur Hand und begab sich auf die andere Strandseite. Eine Stunde später hatte sie alle Netze geleert und das trotz gehörigen Seegangs. Dafür war sie bis auf die Knochen durchgefroren. Schnell trocknete sie sich ab, kleidete sich an und brachte die Fische in die Kochkammer hinauf.

Verwundert über ihre Schnelligkeit nahm Sumilla den Fang entgegen und reichte ihr ein Stück Graubrot und gesalzenen Fisch. Inja nahm das Essen dankbar an, denn obwohl sie erst vor Kurzem gefrühstückt hatte, knurrte ihr Magen nach der anstrengenden Arbeit. Heißhungrig verschlang sie die Sachen noch an Ort und Stelle. Sumilla beobachtete sie amüsiert. »Es war sehr anständig, was du für Lykke getan hast«, befand sie.

»Ich musste es tun. Lykke wäre ertrunken bei dem Versuch, den Fang einzuholen«, erwiderte Inja mit vollem Mund.

Sumilla seufzte resigniert. »Jeden Winter verlieren wir drei oder vier Konventen an die Kälte und an die Wölfe, die der Hunger in die Ebene treibt. Unser Leben mag in der Hand der Götter liegen, doch ich verstehe nicht, warum man den Tod noch zusätzlich herausfordern muss.« Sie musterte Inja. »Warum kannst du eigentlich so lange unter Wasser bleiben?«

Inja zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich kann es einfach. Das Wasser ist wie eine zweite Heimat für mich«, sie zwinkerte Sumilla vertraulich zu. »Wahrscheinlich halten mich alle für eine Hexe.«

Sumilla runzelte die Stirn. »Sag das nicht. Wenn das die Erhabene hört, wirst du schneller verkauft, als du dieses Brot essen kannst.«

Schuldbewusst ließ Inja das Brot sinken. Sie hatte doch nur einen Scherz machen wollen. »Verzeih mir. Ich sollte überlegen, bevor ich spreche.«

Sumilla winkte kopfschüttelnd ab. »Schon gut. Sorge dafür, dass du dich nach dem Einholen des Fangs aufwärmst, damit du nicht krank wirst. Wenn du so schnell bist wie heute und keine Gesegnete in der Nähe ist, kannst du dich hier am Feuer wärmen.«

Inja schluckte den Bissen hinunter, der plötzlich klebrig und bitter schmeckte. »Ich danke dir.«

Sumilla wandte sich ab und hob den Deckel des ersten Korbes an. »Du musst mir nicht danken. Wenn wir nicht füreinander sorgen, enden wir auf dem Totenfeld, noch bevor wir fünfundzwanzig Winter zählen.«

Obwohl die Küche der wärmste Ort im Konvent war, rieselte ein Schauer über Injas Haut. Sumilla sprach die Wahrheit. Dies war kein Ort, an dem man alt wurde.


Die Nacht der Buße begann nach dem Abendmahl, an dem Inja nicht teilnehmen durfte. Nur zu gut erinnerten sich ihre Knie an das letzte Mal und begannen zu schmerzen, sobald sie den Steinboden berührten. Zudem war sie müde, so dass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Sie versuchte, sich auf das Beten zu konzentrieren, doch Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit machten ihr Herz schwer. Wie ein Stein würde es bis auf den Grund des Ozeans sinken, sollte sie es sich aus der Brust reißen und die Steilküste hinab in das Meer werfen.

Weinen half, zumindest am Anfang, doch irgendwann fraß der Schmerz in ihren Beinen alle anderen Empfindungen auf. Ihr Leben war wie die ewige Finsternis, voller Qualen und unendlicher Einsamkeit, die göttliche Führung nur eine Lüge. Der einzige Lichtblick war Ban. Er war ihre Hoffnung und ihre Zukunft. Ohne ihn war sie verloren.

Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie sie die Nacht überstand, doch sie ging vorüber. Am Morgen kneteten und massierten die Konventen ihre steifen Muskeln. Sie wuschen und kämmten sie, verstrichen eine wohltuende Salbe auf den wundgescheuerten Knien und stützten sie beim Gehen, denn wer nicht aus eigener Kraft in den Speisesaal gelangte, der bekam nichts zu essen. Immer wieder nickte Inja während des Morgenmahls ein und Lykke musste sie anschubsen, damit sie nicht vergaß, zu kauen. Ausruhen durfte sie nicht, gleich nach dem Essen wurde sie von der Erhabenen zum Strand geschickt, um den Fang einzuholen, was in ihrem Zustand fast schon einem Selbsttötungsversuch gleichkam.

Auch an diesem Morgen war die See rau. Schwerfällig entkleidete Inja sich, nahm den Korb und tapste ins Wasser. Brrr. Eisig. Wenigstens weckte die Kälte ihre Lebensgeister, wenn auch nur für eine kleine Weile. Das Einholen des Fangs verlangte ihr alles ab, und als sie zu den tiefer liegenden Netzen gelangte, schaffte sie es kaum, unterzutauchen und sich mit der Kraft ihrer Beine in Position zu halten. Mehrere Fische entglitten ihren zitternden Händen und schwammen davon. Zweimal wurde sie von einer Welle an den Strand zurückgespült.

Beim Leeren des letzten Netzes geschah es.

Während sie mit beiden Händen einen heftig zappelnden Fisch aus dem Netz pulte, wurde sie von der Strömung erfasst und zuerst nach unten gezogen und anschließend auf das offene Meer hinausgespült. Strampelnd versuchte sie, einen Pfosten oder das Netz zu ergreifen, doch je wilder sie sich gebärdete, umso schneller entfernte sie sich vom Ufer. Panik übermannte sie. Plötzlich war das Wasser keine Heimat mehr.

Es war eine Todesfalle.

Und niemand war in der Nähe, um ihr zu helfen. Etwas stupste gegen ihre Beine. Sie bemerkte es zuerst nicht. Erst als sie nach unten sah, erblickte sie einen Fisch. Er ähnelte einem Buntfisch, doch war er größer und seine Schuppen schillerten in hellem Orange, gesprenkelt mit silberweißen Tupfen, die glitzerten, als würden sie das Sonnenlicht reflektieren. Aus riesigen, hervorquellenden Augen starrte er sie an und schwamm anmutig um sie herum. Inja gab ihre Gegenwehr auf, streckte die Hand aus und berührte die schuppige Haut. Wunderschön. Langsam sackte sie tiefer, während der Fisch unter ihren Fingern hindurchglitt und sie immer wieder in den Rücken stupste.

Plötzlich bemerkte Inja, dass sie der Strömung entronnen war. Sie schenkte dem Fisch ein Lächeln, schwamm nach oben, durchbrach die Oberfläche und füllte ihre Lungen mit köstlicher Luft. Dann sah sie sich um. Der Strand war mindestens hundert Schritte entfernt. Mit letzter Kraft kämpfte sie sich durch die Wellen ans Ufer zurück. Dort wickelte sie sich bibbernd in das Tuch, sank in den Sand und schlief auf der Stelle ein.

Wasser leckte an ihren Füßen. Das durchdringende Geschrei einer Krähe bohrte sich in ihren Kopf. Eine Stimme.

»Den Göttern sei Dank, du bist am Leben. Ich dachte schon, das Meer hätte dich geholt.«

Vorsichtig öffnete Inja die Augen. »Sumilla. Was tust du hier?« Ihre Kehle fühlte sich rau an und brannte.

Sumilla beugte sich zu ihr hinab. »Es ist bereits Mittag. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht zurückgekehrt bist.«

Inja schreckte hoch. »Es ist Mittag? Ich müsste schon längst auf dem Feld sein.«

Sumilla half ihr auf die Beine und betrachtete sie prüfend. »Zuerst musst du dich anziehen. Wo ist der Korb?«

Inja stieß eine Verwünschung aus. »Er hängt noch am mittleren Pfosten.«

»Oh nein. Ich bin eine lausige Schwimmerin. Reicht deine Kraft, um ihn zu holen?« Zweifel klang aus Sumillas Stimme.

»Sie muss reichen. Ich halte mich einfach an den Netzen fest.«

Inja ließ das Tuch fallen und eilte zum Wasser. Ihre Glieder waren steif und kalt. Mit zusammengebissenen Zähnen hangelte sie sich von Pfosten zu Pfosten, bis sie den Korb mit den Fischen erreichte. Erleichtert kehrte sie ans Ufer zurück. Sumilla trocknete sie ab und half ihr in die Kleider. Der kratzige Stoff hatte sich noch nie so gut angefühlt.

Auf dem Weg nach oben aß Inja einen Kanten Graubrot mit gesalzenem Fisch und eilte direkt in den Garten.

Mina deutete auf eine Hacke am Boden. »Griselle war hier und hat nach dir gefragt. Wir haben ihr gesagt, dass du deine Notdurft verrichtest und dass es länger dauern könnte, da du viel Salzwasser geschluckt hast.«

Anaé führte sie zu einem fast vollständig umgepflügten Teil des Feldes. »Dieser Bereich ist für dich, den Rest machen wir.« Ihr Zwinkern zauberte das erste Lächeln des Tages auf Injas Gesicht.

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