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Prolog

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»Gut, Gretta. Weiter so.« Mit gerafften Röcken kniete Umma zwischen den gespreizten Schenkeln der Gebärenden, die Hände griffbereit, damit sie den Säugling fassen und ihm hinaushelfen konnte.

Gretta hechelte kurz, bäumte sich auf und presste. Den gesamten vergangenen Tag und die halbe Nacht hindurch hatte sie in den Wehen gelegen - eine lange Zeit für eine Frau, die bereits mehrere Kinder zur Welt gebracht hatte. Umso erleichterter war Umma, dass die Austreibung nun überraschend schnell vonstattenging. Bevor sie die Hände ausstrecken konnte, flutschte der Säugling aus dem Leib und plumpste auf das Laken. Blutig und verschmiert lag das winzige Wesen da und greinte. Geschickt durchtrennte Umma die Nabelschnur und hüllte das Kind in ein Tuch. Anschließend nahm sie es hoch und trug es zu der Waschschüssel, um es von Blut und Schmiere zu befreien, dabei musterte sie das Neugeborene mit geübtem Blick.

Ein Mädchen war es. Durch das Blut schimmerte ihre Haut ungewöhnlich hell. Vorsichtig tauchte Umma es in die Schüssel und säuberte den Körper des Kindes.

Perlweiße Haut kam zum Vorschein.

Nicht die reine Haut von Neugeborenen, sondern Haut von der Farbe frischer Milch, durch die ein bläuliches Adergeflecht hindurchschien. Der Kopf war bedeckt mit einem zarten Flaum weißer Haare, die aussahen wie Fäden aus gesponnenem Licht. Umma näherte sich dem winzigen Gesicht und blickte in die Augen, die sich blinzelnd öffneten. Blau. Doch nicht das kräftige Blau des Sommerhimmels, sondern das gläserne Blau von Quellwasser. Erschrocken zuckte die Amme zurück. Das Kind sah aus wie ein Geist.

»Geisterkind«, murmelte sie und klopfte sich schnell gegen Lippen und Stirn, um sich vor dem bösen Zauber zu schützen. Hastig schlang sie das Tuch um den Säugling.

»Gib mir mein Kind«, rief Gretta vom Bett und streckte erwartungsvoll die Arme aus.

Umma zögerte. Wenn sie das Mädchen der Mutter übergab, würde der Zauber des Neugeborenen sie blenden und dafür sorgen, dass sie ihr Kind beschützen wollte. Sie würde nicht erkennen, dass sie ein Geisterkind in den Armen hielt. Das musste sie verhindern.

»Habt Geduld gute Frau. Ich muss das Kind zuerst dem Hausherrn zeigen. Schon seit dem Morgen wartet er auf Eure Niederkunft.«

Grettas schwachen Protest ignorierend öffnete sie die Tür und huschte in den Flur hinaus. Der Kindsvater Aberlin kam ihr auf der Treppe entgegen. Die Holzdielen knarzten unter seinem Gewicht. In seinem Vollbart, in dem sich bereits erste graue Strähnen zeigten, hing ein wenig Schaum vom Schwarzbier, das er zuvor getrunken hatte und er wirkte müde und verhärmt. Umma atmete tief durch und straffte sich. Möglicherweise würde Aberlin zornig werden, wenn sie ihm offenbarte, dass seine Tochter ein Geisterkind war, und sie der Lüge bezichtigen, doch sie musste stark bleiben.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in das Zwielicht hinauf, in dem sich Ummas Gestalt verbarg. »Ich habe ein Greinen gehört, Amme. Ist mein Kind endlich geboren?«

Umma trat ins Licht und verneigte sich. »Ja Aberlin. Hier ist es. Doch ich komme mit schlechten Nachrichten.«

Aberlin hielt inne. »Geht es meinem Weib gut?«

Umma nickte schnell. »Gretta ist wohlauf. Es ist Eure Tochter Herr.« Sie hielt ihm das Bündel hin. »Es ist ein Geisterkind.«

Er runzelte die Stirn. »Ein Geisterkind?«

»Seht es Euch an. Es ist weiß wie Schnee, geboren in der längsten Nacht. Das ist ein böses Omen.«

Zaghaft ergriff er das Kind, öffnete das Tuch und betrachtete seine Tochter. Als die kalte Luft den zarten Körper streifte, verzog das Mädchen das Gesicht und wimmerte leise.

»Hütet Euch vor ihrem Zauber«, warnte Umma. Sie kannte die Wirkung eines Neugeborenen. Ihre Hilflosigkeit rührte nicht nur die Herzen der Mütter, sondern auch die der Väter.

Eilig klopfte Aberlin sich gegen Lippen und Stirn. »Was ist mit ihren Augen? Sie sind so hell.«

»Seht ihr nicht in die Augen«, warnte Umma. »Sie spiegeln das Böse. Ihr müsst sie töten, Herr, sonst bringt sie Unheil über Euch und Eure Familie und vielleicht sogar über das ganze Dorf.« Erneut klopfte sie sich gegen Lippen und Stirn.

Das Kind strampelte und aus den Lauten des Unbehagens wurde ein durchdringender Schrei.

»Tut es, bevor sie sich Eurer bemächtigt!«, drängte Umma.

Eine Windbö zerrte am Haus, die Dachsparren ächzten. Einer der Fensterläden sprang auf und schlug mit einem lauten Krachen gegen das Haus. Umma schaute sich erschrocken um. »Hört Ihr das? Die Geister rufen nach ihr.«

»Ich kann doch nicht mein eigenes Fleisch und Blut töten.« Aberlin verzog schmerzvoll das Gesicht. »Was ist, wenn du dich irrst?«

Umma legte eine Hand auf seinen Arm und blickte ihn beschwörend an. Dies war der entscheidende Moment. Sie musste überzeugend sein, sonst würde er das Geisterkind am Leben lassen und sie damit alle in Gefahr bringen. »Die Zeichen sind eindeutig, Herr. Die Haut, die Augen, der Schneesturm und die längste Nacht. Welche Zeichen braucht Ihr noch? Ihr müsst sie den Geistern zurückgeben.«

Aberlin zögerte. »Du sprichst düstere Worte, die einem Angst und Bange machen.«

»Angst werdet Ihr haben, wenn das Unglück kommt«, zischte Umma. »Ihr seid rechten Glaubens und ein ehrbarer und starker Mann. Ihr dürft nicht zögern.«

Ein gequälter Ausdruck huschte über Aberlins Gesicht. »Ich weiß nicht Amme. Das ist meine Tochter, und was du verlangst, ist das Schlimmste, was ein Mann seinem Kind antun kann.«

»Ich weiß. Doch Ihr habt keine andere Wahl. Die Nacht ist bitterkalt, es wird nicht lange dauern, bis die Geister das Mädchen zu sich holen. Ihr müsst es tun, für die Sicherheit Eurer Söhne. Gretta wird Euch noch viele Kinder schenken.«

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Aberlin das winzige Wesen auf seinem Arm. Das Kind hatte sich wieder beruhigt und sah ihn nun ruhig, fast besonnen an. Nichts Schlechtes lag in diesem Blick. Doch Umma wusste es besser. Oh ja. Sie kannte sich aus. Das Böse lauerte überall, auch hinter einem unschuldigen Gesicht. Eilig zog sie das Tuch über den Kopf des Mädchens. »Seht sie nicht an. Der Zauber wirkt bereits.«

Aberlin stieß den Atem durch die Nase und klopfte sich gegen Lippen und Stirn. »Also gut, ich werde es tun.«

Im Schankraum warteten die beiden Söhne, der Älteste, der wie sein Vater den Namen Aberlin trug, und dessen jüngerer Bruder Veit. Die Jungen sahen ihn erwartungsvoll an, darauf hoffend, dass der Vater sie einen Blick auf das Neugeborene werfen ließ. Umma schob den Wirt vorwärts, damit er nicht innehielt. Jedes Zögern könnte seine Entschlossenheit ins Wanken bringen. Mit starrem Blick stapfte er an seinen Söhnen vorbei, öffnete die Tür zur Schankstube und trat in den Sturm hinaus. Eisiger Wind und Schneeflocken wehten herein und wirbelten das Feuer auf. Das Holz knackte laut. Funken stoben an die Decke.

Aberlin kniete sich hin und legte den Säugling in den Schnee. Der Wind zerrte an seinen Haaren, peitschte Eiskristalle und Schneeflocken in sein Gesicht. Obwohl Umma hinter ihm stand, geschützt durch seinen massigen Leib, spürte sie die beißende Kälte, die bis tief in die Knochen drang und jeden zu Eis erstarren ließ, der es wagte, draußen zu verweilen. Die umliegenden Häuser verschwammen in dichtem Schneegestöber. Die Menschen hatten die Fenster und Türen zum Schutz vor dem Frost verrammelt. Niemand würde den hilflosen Säugling sehen oder seine Schreie hören. Niemand, außer den hungrigen Wölfen, die um das Dorf herumschlichen und heulten. Der Geruch des warmen Blutes und das Geschrei des Kindes würde sie anlocken.

Aberlin schniefte und wischte sich den Rotz von der Nase. Schneeflocken setzten sich auf seine Wangen wie Tränen aus Eis. »Ich kann sie doch nicht einfach den Wölfen überlassen. Und was sag ich nur meinem Weib?«

Umma legte eine Hand auf seine Schulter. Fest bohrte sie ihre Krallenfinger in seine Haut, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Die Geister werden sie holen, lange bevor es die Wölfe tun. Eurem Weib erzählt ihr, das Kind sei krank gewesen und hätte gelitten. Ihr musstet es tun. Sie wird es verstehen, vielleicht nicht sogleich, doch bald. Noch ist sie nicht dem Zauber des Kindes erlegen, dafür habe ich gesorgt.«

Aberlin wischte sich Tränen und Schnee vom Gesicht. »So soll es sein«, murmelte er, küsste die Stirn des Säuglings, erhob sich und kehrte ins Haus zurück. »Veit. Verriegel die Tür, ich muss zu eurer Mutter hinauf.«

Verwirrt blickte der Junge zwischen Haustür und seinem Vater hin und her. »Was hast du getan? Wo ist das Kind?«

Aberlin antwortete nicht. Hart war sein Blick, unbarmherzig, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Entschlossen stapfte er an seinen Söhnen vorbei. Umma nickte zufrieden. Der Wirt war ein starker Mann, er würde den Kampf gegen sein Eheweib gewinnen. Außerdem hatte sie eine anstrengende Geburt hinter sich und war sowieso zu schwach, um aufzustehen.

Veit wandte sich ihr zu. »Warum hat er das Kind in den Schnee hinausgelegt? Wird es nicht sterben, wenn es da draußen bleibt?«

»Das Kind ist ein Geisterkind, es bringt Böses über euch«, zischte Umma.

»Das glaube ich nicht«, stieß Aberlin hervor. »Es ist doch noch klein.«

»Was ist ein Geisterkind?«, fragte Veit mit großen Kinderaugen. »Ist es wie eine Zauberin?«

»Pscht. Schweig still!« Ungehalten klopfte Umma sich gegen Lippen und Stirn. »Die Geister werden kommen und eure Schwester holen. Wenn ihr nicht aufpasst, nehmen sie euch gleich mit.«

Mit ihren dürren Fingern schnappte sie nach ihnen. Die Jungen wichen erschrocken zurück, klopften sich nun ebenfalls eilig gegen Lippen und Stirn. Umma kicherte. Sie würde den beiden schon das Fürchten lehren.

»Aber was stimmt denn nicht mit ihr?«, wagte Aberlin zu fragen.

Umma zog den Umhang enger. Ein eisiger Hauch wehte über sie hinweg. Die bösen Geister waren da. Langsam beugte sie sich zu den Jungen hinab und musterte sie streng. »Manchmal, während der längsten Nacht, wenn die Geister frei und ungebunden sind, kriechen sie in den Leib eines Neugeborenen und gehen nicht wieder hinaus. Sie tun dies, um Unheil über die Menschen zu bringen und sich an ihrem Leid zu ergötzen. Dunkle Magie wirkt in eurer Schwester und je älter sie wird, umso machtvoller werden die Geister in ihr. Euer Vater musste sie töten. Nur so kann er euch schützen.«

Von oben erklang der verzweifelte Schrei der Mutter. Es polterte und etwas fiel klirrend zu Boden. Zornige Worte hallten die Treppe hinab. Im nächsten Moment donnerte jemand gegen die Tür des Schankraums. Umma fuhr herum und auch Aberlin und Veit blickten erschrocken zur Tür. Das Feuer flackerte und warf zuckende Schatten an die Wand.

»Die Geister«, stieß Veit hervor und klammerte sich ängstlich an den Arm seines Bruders.

»Wer ist da?«, rief Umma barsch.

»Hier ist Gessa. Öffnet die Tür! Schnell!«

»Großmutter«, rief Veit erleichtert, rannte zur Tür und entriegelte sie. Gessa trat ein, in den Armen hielt sie das Kind. »Veit hol ein Schaffell und Aberlin, du wärmst Wasser auf. Sputet euch«, befahl sie.

Die Jungen nickten und eilten davon. Offensichtlich genoss Gessa den Gehorsam ihrer Enkelsöhne.

Anklagend deutete Umma auf das Bündel im Arm der alten Frau. »Was tut Ihr mit dem Kind, Gessa? Seht Ihr denn nicht, dass es ein Geisterkind ist? Sie trägt Böses in sich.«

Gessa straffte ihren ohnehin schon beachtlichen Leib und warf Umma einen scharfen Blick zu. »Sprich nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Du bist in Magie so bewandert wie eine Ziege. Wie willst du erkennen, ob dieses Kind Böses in sich trägt? Sie ist ein Winterkind, durch Schnee und Eis gezeichnet. Nichts Verwerfliches oder Bösartiges ist an ihr.«

Veit brachte das Schaffell. Ungeduldig riss Gessa es ihm aus der Hand und schlang es um den Säugling.

Umma schnaubte verächtlich. Gessa war nicht nur überheblich, sondern auch blind und dumm. »Das Kind bringt Unheil und Tod über Euch, das werdet Ihr schon sehen. Sobald der Sturm vorüber ist, gehe ich zum Büttel. Vielleicht wird Euch der Dorfrat zur Besinnung bringen.«

Die beiden Frauen fixierten einander. Gessa, mit dem vollen, grauen Haar, welches sie immer zu einem Zopf geflochten trug und den klaren, blauen Augen, die so gebieterisch auf andere herabsahen. Wie sehr Umma die alte Frau verachtete. Kein Weib sollte derart selbstherrlich sein. Umma dagegen war klein und dicklich, doch dafür hatte sie ein Mundwerk wie eine gefaltete Klinge. Scharf und doppelzüngig. Niemand kam gegen ihre Worte an.

Gessa straffte die Schultern, was ihrer aufrechten Gestalt zusätzlich Größe verlieh. »In diesem Kind fließt mein Blut. Wage nicht, ihr irgendwas Schlechtes zu unterstellen!«

Umma zog die Stirn in Falten. »Aber sie ist …«

Gessa hob die Hand. »Schweig still. Noch ein Wort von dir und ich jage dich in die Nacht hinaus, damit die Wölfe, die du herbeigelockt hast, etwas zu fressen finden.« Sie wandte sich Aberlin und Veit zu, die mit vereinten Kräften einen Topf Wasser über das Feuer hievten. »Wenn ihr fertig seid, tragt ihr das Wasser in die Schlafkammer eurer Eltern hinauf.«

Ohne Umma noch eines Blickes zu würdigen, schritt sie an ihr vorbei und stieg die Stufen empor. Heiße Wut kroch in Ummas Eingeweide. Gessa würde schon sehen, was sie von ihrer Sturheit hatte. Das Kind würde Unglück bringen, das war so sicher wie die untergehende Sonne.

Geisterkind

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