Читать книгу Geisterkind - Christine Millman - Страница 15
Krickdorf
ОглавлениеBan schuftete Tag und Nacht. Seine Mutter betrachtete seine Bemühungen mit Argwohn und gestand ihm, dass sie gehofft hatte, dass er sich das Mädchen, wie sie Inja nur noch nannte, aus dem Kopf schlagen würde, sobald sie endlich fort war. Scheinbar wusste sie nicht, wie viel Inja ihm bedeutete. Eines Tages würde er sie freikaufen. Nichts und niemand konnte ihn davon abbringen.
In allen erreichbaren Dörfern fragte er nach einer Betätigung, verrichtete selbst die schwerste und schmutzigste Arbeit, solange sie ihm ein paar Kreuzer einbrachte. Er schüttete die Klärgruben der umliegenden Gehöfte zu, schleppte Lehm aus den Lehmbergen und reinigte die Schwarzbierfässer. Die meiste Zeit jedoch verbrachte er damit, dem Köhler beim Setzen der Meiler zur Hand zu gehen. Anschließend bewachte er die glimmenden Hügel bei Tag und während der Nacht, um sie auf der richtigen Temperatur zu halten und litt dabei nicht nur unter permanentem Schlafmangel, sondern fügte sich auch zahllose Verbrennungen zu. Seine Mutter versuchte, ihn dazu zu bewegen, wenigstens jeden siebten Tag auszuruhen, doch Ban hörte nicht auf sie. Er hatte ein Ziel und das verfolgte er unnachgiebig.
»Solange ich keinen Verwandten habe, der mir den Betrag leihen kann, muss ich ihn mir erarbeiten«, entgegnete er, wann immer seine Mutter ihm ins Gewissen redete. »Erzähl mir doch von meinem Vater. Besitzt er vielleicht Reichtümer? Denn dann könnte ich ihn um Hilfe bitten.«
Natürlich rechnete Ban nicht damit, dass sie ihm tatsächlich von seinem Vater erzählen würde, er wollte sie bloß mundtot machen. Eines jedoch verstand er nicht. Was hatte sie plötzlich gegen Inja einzuwenden? Bisher schien sie das Mädchen gemocht zu haben. Eines Abends, kurz bevor er zur Nachtschicht auf dem Meiler aufbrach, fragte er sie danach.
Lore saß am Tisch und bündelte Kräuter, die sie am Morgen gesammelt hatte. »Ich mag das Mädchen gern Ban, aber sie ist nicht gut für dich«, sagte sie.
»Warum nicht? Liegt es an ihrem Äußeren? Du glaubst doch die Geschichten von dem Geisterkind nicht etwa, oder?«
Lore schnaubte. »Ich messe die Menschen nicht nach ihrem Besitz oder ihrem Aussehen, das solltest du wissen mein Sohn.«
»Was ist es dann? Sag es mir!«
Lore ließ das Kräuterbüschel sinken und starrte ihn an, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Den Blick kannte Ban, doch diesmal würde er sich davon nicht einschüchtern lassen, schließlich war er kein Kind mehr.
»Was verheimlichst du, Mutter? Dein Schweigen wird mich nicht von Inja abbringen, das versichere ich dir.«
»Na gut. Wenn du es wissen willst: Sie ist eine Hexe«, stieß Lore knurrend hervor.
Geschockt riss Ban die Augen auf. Das musste ein Scherz sein. »Eine was?«
Lore sah ihn ernst an. »Eine Magiebegabte, eine Hexe, eine Zauberin. Sie weiß es noch nicht, doch eines Tages wird sie ihre Kräfte entdecken.«
Ban erbleichte und sackte auf einen Stuhl. »Dann ist es also wahr, was die Dorfbewohner über sie sagen?«
Lore erhob sich, nahm ein Holzstück von dem Stapel neben der Feuerstelle und legte es in die Flammen. Es knackte und zischte, als die Flammen an dem frischen Scheit leckten. »Sei nicht dumm Ban. Die Leute haben keine Ahnung, worüber sie sprechen. Einfältiges Gesindel, mehr sind sie nicht. Injas Begabung ist ein Segen und kein Fluch, doch hier in Krickdorf wäre sie verkümmert.«
Ban schnaubte. »Genauso wie in Rutten, oder glaubst du, dass sie dort ihre Gabe zu schätzen wissen?«
Lore drehte sich um und sah ihn mit einer Mischung aus Resignation und Härte an. »Nein. In ganz Gotland gibt es keinen Ort für sie.«
Herausfordernd reckte Ban das Kinn. »Woher willst du das wissen? Und warum sollte es mich daran hindern, sie zur Frau zu nehmen?«
Seufzend zupfte Lore Blüten von einem getrockneten Strauch an der Decke, verteilte sie auf zwei Becher und goss sie mit heißem Wasser auf. »Hier. Trink etwas Kräutersud, während ich es dir erzähle.« Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig, ihre Miene hatte sich verfinstert, als wäre sie in tiefer Trauer gefangen. So hatte Ban seine ehrfurchtgebietende Mutter noch nie erlebt.
»Du machst mir Angst.« Bans Hände zitternden, als er den Becher entgegen nahm. Er hatte das sichere Gefühl, als würde sie ihm gleich etwas Wichtiges offenbaren. Wichtiger noch als Injas Begabung.
Ächzend ließ Lore sich auf ihren Schemel fallen. »Seit wann fürchtest du dich vor der Wahrheit? Ich dachte, es verlangt dich danach.«
Sie schlürfte einen Schluck Tee, sah ihn dann an und fuhr mit den Fingern durch sein strubbeliges Haar. »Du ähnelst deinem Vater, weißt du das?«
Ban erwiderte ihren Blick schweigend und wartete. Sein Körper kribbelte vor Aufregung. Endlich würde sie ihm von seinem Vater erzählen.
»Ich war etwa in deinem Alter, als ich ihm begegnet bin«, begann sie. »Groß und hager war er, mit breiten Schultern und einem Blick, der mir die Knie weich werden ließ. Er war auf der Durchreise und verbrachte die Nacht auf dem Gehöft meiner Eltern. Den ganzen Abend lang konnte ich kaum meine Augen von ihm wenden, und als er später zu Bett ging, bot ich ihm an, ihm den Weg in die Scheune zu zeigen.«
Sie nahm einen weiteren Schluck und starrte gedankenverloren in die Tasse. Ein kleines Lächeln kräuselte ihre Lippen. Das Lächeln des jungen Mädchens, das sie einst gewesen war. »Wir redeten, bis der Morgen graute. Ich erzählte ihm von meinen Hoffnungen und Träumen und als mich meine Mutter zum Morgenmahl rief, hatte ich keinen Augenblick lang geschlafen. Beim Essen verkündete er überraschend, dass er noch eine Nacht oder zwei zu bleiben wünsche, wogegen weder ich noch mein Vater etwas einzuwenden hatten, schließlich bezahlte er gut für die Bleibe. Am Ende blieb er sieben Nächte, und als er am Morgen des achten Tages abreiste, war ich keine Jungfrau mehr. In tiefer Liebe entbrannt, folgte ich ihm in seine Heimat, ohne mich von meinen Eltern zu verabschieden. Denn ich wusste, sie hätten es mir nie erlaubt, diesen Mann zu lieben.«
Wieder trank sie und bedeutete Ban, es ihr gleichzutun. Sprachlos starrte Ban seine Mutter an. Dass sie den Mut und die Kühnheit besessen hatte, mit einem Fremden durchzubrennen, erschien ihm unglaublich. »Warum bist du so sicher, dass deine Eltern es nicht erlaubt hätten? War er denn kein Gotländer?«
Sie lachte verächtlich. »Nein, mein Sohn. Seine Heimat war Arnýekké, das Schattenland.«
Ban schnappte nach Luft. »Du bist ihm ins Schattenland gefolgt? Du musst verrückt gewesen sein.«
»Ja. Ich war verrückt vor Liebe. Das Schattenland ist ein gefährlicher Ort Ban, doch längst nicht so gefährlich, wie es dir die Gotländer Glauben machen wollen. Am gefährlichsten war die Tatsache, dass sich dein Vater als dunkler Magier herausstellte, der auch vor Menschenopfern und der Schaffung von Wiedergängern nicht zurückschreckte, um seine Heimat vor Feinden zu beschützen. Obwohl ich ihn liebte und dich unter meinem Herzen trug, verließ ich ihn, als ich es erfuhr. Ich packte meine Sachen und verschwand klammheimlich, ohne mich von ihm zu verabschieden.«
Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt sie Tasse umklammert und sie wirkte um Jahre gealtert. Offensichtlich schmerzte es sie, diesen Teil der Geschichte zu erzählen. »Als ich auf das Gehöft meiner Eltern zurückkehrte, musste ich feststellen, dass es abgebrannt und meine Eltern in den Flammen umgekommen waren. War dies das Werk meines Geliebten? Hatte er meine Eltern auf dem Gewissen? Ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Passiert war passiert. Da ich schwanger war, hatte ich keine Wahl, als zu deinem Vater zurückzukehren, denn das war es, was er wollte. Glaubte ich zumindest. Ich dachte, er würde mir verzeihen. Doch die Grenzen des Schattenlandes sind unüberwindbar und blieben es auch für mich. In meiner Verzweiflung kehrte ich nach Krickdorf zurück und hoffte, dass er mich eines Tages holen würde, denn mittlerweile hatte ich erkannt, dass es ein großer Fehler gewesen war, ihn zu verlassen.« Sie hielt kurz inne und schloss die Augen. Der Schmerz grub tiefe Spuren in ihr Gesicht. »Doch er kam nicht.« Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern.
Ban wusste nicht, was er sagen sollte. Nie zuvor hatte er seine Mutter bekümmert erlebt. Sie wirkte wie ein gebrochener Zweig. Zaghaft nahm er ihre Hand. Sie starrte in die Flammen und fuhr mit leiser Stimme fort.
»Bis heute warte ich auf seine Rückkehr und verachte ihn zugleich dafür, weil er nicht um mich gekämpft hat. Und um seinen Sohn. Scheinbar war seine Liebe nicht halb so tief wie er mich hat Glauben lassen.«
Sie schwieg einen Moment und schlürfte den Kräutersud, während sie um Fassung rang. Dann sah sie Ban an. »Jetzt weißt du, wer dein Vater ist. Tu mit diesem Wissen, was du für richtig hältst.«
Ban schluckte trocken. »Wie lautet sein Name?«
Seine Mutter straffte sich, als könnte sie den Namen nur aussprechen, wenn sie Stärke zeigte. »Sein Name ist Skandor Askoll Nocturo.«
Skandor Askoll Nocturo. Ein seltsamer Name für einen seltsamen Mann. Sein Vater. Ein Magier aus dem Schattenland. Alles hatte Ban in Erwägung gezogen, sogar dass er das Ergebnis einer Schändung sein könnte, aber das wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. »Und du glaubst, dass Inja so ist wie er?«
Lore nickte. »Sie trägt eine Macht in sich, die auf die Menschen wirkt. Die einfältigen Bauern spüren es und haben Angst vor ihr. Auf dich wiederum wirkt es anziehend. Nur glaube ich nicht, dass du stark genug für sie bist.«
Ban runzelte die Stirn. Was redete seine Mutter da? »Warum sagst du so etwas?«
Lore stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie braucht Schutz und Führung, Ban. In Gotland ist sie bestenfalls ein Nichts, schlimmstenfalls wird sie gebrandmarkt oder gar hingerichtet, ohne zu verstehen, warum. Ihre einzige Zuflucht wäre das Schattenland. Doch dort ist es gefährlich und wild und ich bin mir nicht sicher, ob du dich behaupten könntest. Zudem wird das Land von allen Seiten bedroht. Sehr bald schon wird König Ulrik gegen Arnýekké in den Krieg ziehen und es ist ungewiss, ob die Künste der Magier ausreichen werden, um es zu schützen, denn das Schattenland verfügt über vieles, jedoch keine Soldaten.«
»Warum sollte ich mich nicht behaupten können? In mir fließt das Blut meines Vaters, somit gehöre ich nicht weniger ins Schattenland als nach Krickdorf«, sagte Ban. »Und wer weiß, vielleicht trage ich ebenfalls unerkannte magische Fähigkeiten in mir.«
Lore lächelte ihn mitleidig an und tätschelte seine Wange. »Du bist ein guter Junge und wirst eines Tages ein ehrenwerter und starker Mann sein, aber ein Magier bist du nicht.«
In dieser Nacht war Ban froh um die Einsamkeit am Meiler, die es ihm gestattete, über das nachzudenken, was er von seiner Mutter erfahren hatte. Endlich verstand er, warum sie ihm die Herkunft seines Vaters verschwiegen hatte. Die Bewohner des Schattenlandes wurden mit Argwohn betrachtet, nicht selten landeten die Magier auf dem Blutgerüst, wenn sie es wagten, ihr Können zu offenbaren. Manchmal genügte ein Gerücht, wie bei dem Eheweib des alten Alus. Resia lebte in einem Dorf an der Grenze zum Schattenland, und als Alus sie nach Krickdorf brachte, mieden die Menschen sie wie eine Aussätzige. Erst nachdem sie ihm drei gesunde Kinder geboren und immer fleißig den Göttern geopfert hatte, verloren die Dörfler langsam ihre Vorbehalte. Eines Tages jedoch starb ihr ältester Sohn an einem rätselhaften Fieber, das anschließend noch weitere Kinder in Krickdorf befiel. Daraufhin erinnerten sich die Menschen wieder an ihre Herkunft und begannen zu tuscheln und zu spekulieren. Gerüchte machten die Runde, Resia übe sich in dunkler Magie und würde die Geister beschwören, selbst der alte Alus, gramgebeugt durch den Tod seines Sohnes, betrachtete seine Frau fortan mit Misstrauen. Eines Morgens stürmte eine Horde Männer, angeführt von Bauer Hugolf, in die Hütte, zerrte Resia zum Dorfplatz, brandmarkte sie und jagte sie dann zum Dorf hinaus. Ban erinnerte sich noch gut daran: Resias verzweifeltes Schluchzen, das zerrissene Gewand und die verbrannte Haut auf ihrer Schulter, blutig und rot mit verkohlten Rändern um das Schandmal herum. Inja, die schreckenstarr hinter einem Baum gekauert und das Geschehen beobacht hatte. Tagelang hatte sie die Dorfbewohner gemieden und sich immer wieder ängstlich umgeblickt, wenn sie durch die Gassen huschte. Damals hatte er ihr Verhalten nicht verstanden, doch nun wusste er, wie sehr Inja unter ihrer Andersartigkeit gelitten haben musste. Resias Schicksal hatte ihr gezeigt, was mit ihr geschehen konnte, sollte je ein Unglück über das Dorf hereinbrechen.
Dass sie tatsächlich anders war, hatte er nie erkannt oder nicht erkennen wollen. Ihr seltsames Sehnen nach dem Wasser, ihre Fähigkeit lange und tief zu tauchen und die Fische anzulocken. Ihre Vorahnungen und die Dinge, die nur sie sehen konnte und die er bisher für Ausgeburten ihrer Fantasie gehalten hatte. Das alles hatte er verdrängt.
Sie war ein Geisterkind.
Konnte er dieses Wissen nicht nutzen, um Inja zu helfen? Er könnte seinen Vater suchen und ihn um Rat und Hilfe bitten. Doch das Schattenland war gefährlich und seine Grenzen zu überschreiten so gut wie unmöglich, hatte seine Mutter gesagt. Er stieß einen Fluch aus, der ungehört in der nächtlichen Stille entschwand. Es musste doch eine Möglichkeit geben, nach Arnýekké zu gelangen. Bestimmt gab es einen Weg, auch für einen Gotländer. Er musste ihn nur finden.