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Krickdorf

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Dunkelheit senkte sich über das Land, ohne dass die Söldner Krickdorf wieder verließen. Inja befürchtete, dass sie in der Schankstube übernachten würden, wodurch sich die Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen, weiter verringerten. Anfänglich war lautes Grölen von unten zu hören gewesen, doch nach und nach war es still geworden. Eine bedrückende Stille, die Inja wünschen ließ, dass die Söldner wieder grölen und singen mögen. Grölen bedeutete, dass sie gute Laune hatten und feierten. Diese unheilvolle Ruhe hingegen ließ sie das Schlimmste befürchten. Leise öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und lauschte. Vereinzeltes Gelächter und das Wimmern einer Frau drangen zu ihr hinauf. Das musste ihre Mutter sein. Irgendjemand rückte an einem Stuhl. Tischbeine schabten rhythmisch über den Boden.

»He Wirt, noch eine Runde«, rief ein Söldner. Ein Klatschen erklang, ähnlich wie die Backpfeifen, die der Vater verabreichte, gefolgt von einem weiteren Wimmern.

»Hast du eine Tochter, Schankwirt?«, fragte ein Mann mit rauer Stimme. »Dein Weib hat ein pralles Hinterteil, doch ein junges Ding würde mir noch besser gefallen.«

»Es tut mir leid Herr, ich habe nur Söhne«, erwiderte Injas Vater. Seine Stimme triefte vor Unterwürfigkeit und unterdrückter Angst.

»Vielleicht sollten wir nachsehen, ob er die Wahrheit sagt«, warf ein anderer ein. »Zwei Weiber sind besser als eins. Wer weiß, am Ende versteckt er einen ganzen Stall voller Töchter im Haus.«

Erschrocken schloss Inja die Tür. Benlin, der hinter ihr gestanden und ebenfalls gelauscht hatte, sah sie entsetzt an. »Bei allen Göttern, was tun die Männer da unten?«

Stumm schüttelte Inja den Kopf, Panik schnürte ihre Kehle zu.

Doch Benlin war nicht dumm. Er verstand. Entschlossen packte er sie am Arm. »Du musst verschwinden. Geh zu Ban. Seine Mutter wird dich verstecken.«

»Komm mit mir«, bat Inja. »Bitte. Diese Männer sind böse und gefährlich.«

Benlin schüttelte den Kopf. »Ich kann Benhard nicht alleine dort unten lassen. Hau ab, bevor es zu spät ist.« Er öffnete die Tür und schob sie in den Flur.

»Gib mir Irmeli«, wisperte Inja.

Benlin huschte zur Wiege, nahm seine kleine Schwester hinaus und legte sie vorsichtig in Injas Arme. Irmeli greinte leise und Inja wiegte sie schnell, damit sie nicht aufwachte. Von unten drang ein dumpfer Schlag und ein Schrei zu ihnen hinauf. Veit.

»Bitte meine Herren, so glaubt mir doch, ich habe keine Tochter«, flehte der Vater. »Hier, trinkt einen Krug Schwarzbier, es ist das Beste der ganzen Gegend sagt man.«

»Wir wollen Weiber und nicht dein schales Bier.«

Etwas fiel klirrend zu Boden, das Krachen splitternden Holzes gefolgt von einem Poltern erklang. Veit stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus und ihre Mutter wimmerte gedämpft, es klang als hätte sie einen Knebel im Mund.

»Ich glaube du lügst, alter Mann«, knurrte einer der Söldner. »Geh nachsehen Anton.«

Schwere Schritte näherten sich der Treppe. Inja huschte zur Hintertür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vor der Tür wandte sie sich ein letztes Mal um. Benlin nickte ihr entschlossen zu, straffte sich und stellte sich dann breitbeinig an den Treppenabsatz. In Windeseile stieg Inja die Stufen hinter dem Haus hinab, rannte durch den Garten und verschwand in den dunklen Gassen. Sie hielt nicht inne, bis sie zu Bans Hütte gelangte.

Bans Mutter Lore öffnete. »Den Göttern sei Dank, du bist rausgekommen.« Scheinbar wusste sie genau, was in der Schankstube vor sich ging. Hastig zog sie Inja durch die Tür und verriegelte sie.

»Setz Tee auf«, befahl sie an Ban gewandt, während sie Inja zu einem Stuhl führte.

Die Hütte bestand nur aus einer einzigen Kammer. Von der Decke hingen getrocknete Kräuterbüschel und in einem grob gezimmerten Regal standen Töpfe, allerlei Tiegel, tönerne Gefäße und Schalen. Der durchdringende, aber nicht unangenehme Geruch nach Kräutern und ausgelassenem Fett hing in der Luft. Ganz im Gegensatz zu Injas Zuhause war der Boden gefegt und mit frischem Stroh bedeckt, die Feuerstelle sauber und auf der Bettstatt lagen ordentlich gefaltete Felle.

Lore nahm die schlafende Irmeli und trug sie zu ihrem Bett. Der flüchtige Gedanke, dass sie Bans Mutter noch nie hatte lachen sehen, schoss Inja durch den Kopf. Lore war energisch und klug, doch der straffe Haarknoten und die fest aufeinandergepressten Lippen, die umrahmt waren von zahllosen, kleinen Falten, ließen sie streng und abweisend wirken.

Lores Kräutertee und ihre unerschütterliche Art wirkten beruhigend, trotzdem fand Inja keinen Schlaf in dieser Nacht. Wie festgefroren saß sie vor dem Feuer und starrte in die Flammen. Bei jedem ungewöhnlichen Geräusch zuckte sie zusammen und blickte ängstlich zur Tür, jeden Moment damit rechnend, dass die Soldaten die Tür aufbrechen und sie holen würden. Ban wachte neben ihr, hielt ihre Hand und murmelte Worte des Trostes. Inja hörte ihm nicht zu. Es gab keinen Trost, nur die Sorge um das Wohl ihrer Familie und die schrecklichen Bilder von Folter und Tod, die ihren Geist marterten.

Nichts ist erschreckender als die Vorstellungskraft hatte ihre Großmutter immer gesagt, wenn sie Angst vor dem Unbekannten hatte. Diesmal jedoch befürchtete Inja, dass ihre Vorstellungskraft nicht annähernd ausreichte, um sich das auszumalen, was in ihrem Zuhause geschah.


Bei Tagesanbruch verließen die Söldner das Dorf. Das Wiehern der Pferde, raue Stimmen und Gelächter hallten durch den frühen Morgen. Die Männer schienen bester Laune. Kaum hatte die Schar das Westtor passiert, machte Inja sich auf den Weg nach Hause. Überall wurden Türen und Fenster geöffnet, Menschen traten auf die Wege und reckten ihre Gesichter zur Morgensonne hin, froh darüber, unbehelligt und am Leben zu sein. Ohne die neugierigen Blicke zu beachten, rannte Inja an ihnen vorbei.

Vor der Hütte vom buckligen Neils hielt sie abrupt inne. Die Tür hing nur noch an einem einzigen, verbeulten Scharnier, der Riegel war gewaltsam aus der Verankerung gerissen und fortgeschleudert worden. Neils selbst lag im Türrahmen, mit dem Oberkörper auf der Gasse. Sein Kopf mit den leeren Augen schwamm in einer Lache aus Blut, sein Mund eine blutige Höhle in einem wachsbleichen Gesicht. Entsetzt schlug Inja die Hand vor den Mund.

Sieh nicht hin, befahl sie sich. Sie wandte sich ab und passierte das Haus in einem großen Bogen. Vor dem Gartentor hinter der Schankstube stockte sie. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Butzenglasfenster, die ebenso unversehrt waren wie die Tür. Still und friedlich lag ihr Zuhause im frühen Morgenlicht, fast so als schliefen die Bewohner noch.

Inja atmete tief durch, stieg die Stufen empor und betrat das Haus. Die Stille im Inneren war anders als draußen, unheimlich und bedrückend. Totenstille. Es fühlte sich an, als betrete sie einen verfluchten Ort. Langsam schlich sie den Flur entlang, der ihr noch nie so düster erschienen war, und spähte durch die offenen Türen. Truhen und Kommoden lagen umgestürzt auf dem Boden, die Strohmatten waren zerschnitten und überall lagen Kleider verstreut. Meine Kleider. Vor dem Treppenabsatz hielt Inja inne. Die Schankstube lag in schummrigem Licht.

»Aberlin? Veit?«, rief sie. »Seid ihr da unten?«

Unangenehm laut hallte ihre Stimme durch die Stille.

»Bleib oben. Wir kommen hinauf«, sagte Benlin.

Jemand rührte sich. Inja vernahm unsichere Schritte und ein Leises: »Komm Mutter, du musst dich hinlegen.«

Unwillkürlich fragte Inja sich, wie schlimm es um ihre Mutter bestellt sein musste, wenn sie sich von dem gerade mal zwölf Winter zählenden Benlin führen ließ. Und sie fragte sich, wo ihre älteren Brüder waren und Vater. Am liebsten wäre sie geflüchtet, weil sie sich davor fürchtete, was sie gleich erfahren würde.

Benlin hielt die Mutter im Arm, die sich bewegte wie eine alte Frau, schwerfällig und gebeugt. Der Geruch nach Schweiß, ungewaschenen Leibern und getrocknetem Blut entstieg ihrem Gewand. Als sie endlich oben ankam, betrachtete Inja sie entsetzt. Ihr ansonsten so energischer Blick war leer, das Gesicht schlaff und um Jahre gealtert. Getrockneter Speichel und Blut klebten an Mundwinkel und Kinn. Das Unterkleid und der Rock waren an vielen Stellen zerrissen, die Haare zerzaust. Schürfwunden und Blutergüsse zierten ihre Arme, das Gesicht und die Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt. In Höhe ihrer Brust durchtränkte ein großer Blutfleck das Gewand. Während Inja wie gelähmt ihre geschundene Mutter anstarrte, schob Benlin sie zur Seite und führte die Mutter an ihr vorbei in die Schlafkammer, wo sie auf das Bett sank und sich nicht mehr rührte. Inja folgte den beiden zögerlich. Etwas Kaltes, Erdrückendes beschwerte ihre Schritte. Langsam kniete sie sich neben das Bett und zwang sich dazu, die Hand ihrer Mutter zu ergreifen, die leblos über den Rand baumelte. Schlaff lag sie in ihrer, die Haut war kalt und klamm. »Mutter, was ist passiert?«

Die Mutter antwortete nicht. Wie eine Tote lag sie auf der Matratze und starrte blicklos an ihr vorbei. Hilfesuchend blickte Inja zur Tür, durch die nun Veit trat. Er war so bleich wie Nebel an einem Wintertag. Dunkle Flecken auf seinem Wams verströmten den Geruch nach Schwarzbier und Schnaps, vermischt mit Schweiß. Er hielt seinen rechten Arm umklammert, der schlaff nach unten hing, als würde er nicht zu seinem Körper gehören. Getrocknetes Blut klebte am Hemdsärmel.

Inja erhob sich und trat auf ihn zu. »Bist du verletzt?«

Er verzog das Gesicht und nickte. Vorsichtig führte sie ihn zu einem Stuhl und half ihm dabei, den verletzten Arm auf den Tisch zu legen. Dann untersuchte sie seine Wunden. Die Finger und der Knöchel waren geschwollen und standen in einem unnatürlichen Winkel.

»Geh und hol Bans Mutter. Beeil dich«, befahl Inja an Benlin gewandt, der regungslos vor der erkalteten Feuerstelle hockte. Zuerst wirkte er irritiert, als hätte er sie nicht verstanden, doch dann nickte er und huschte hinaus.

»Was ist passiert?«, fragte Inja, kaum das Benlin das Haus verlassen hatte. »Wo sind Vater und Aberlin und Benhard? Geht es ihnen gut? Und was ist mit dem buckligen Neils passiert?«

Veit antwortete nicht, doch sein gebrochener Blick bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen.

»Sind sie …?« Inja wagte nicht, das Wort auszusprechen, blickte ihren Bruder nur flehend an. Bitte sag nicht tot.

Veit schluckte schwer, schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Aberlin lebt«, wisperte er. »Aber Vater und Benhard und die beiden Frauen sind …«

Seine Brust verkrampfte sich, er schluchzte laut und schlug die unverletzte Hand vors Gesicht. Inja merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»Nein!«, stieß sie hervor. »Das kann nicht sein.«

Veit schluchzte in seine Hand. Inja saß hilflos daneben. Wie sollte sie ihn trösten? Ihren älteren Bruder weinen zu sehen war fast noch erschreckender als sein geschundener Leib. Sie starrte zur Tür, in der verzweifelten Hoffnung, ihren Vater oder Benhard zu erblicken. Sie konnten nicht tot sein, das war einfach nicht möglich. Als es klopfte, sprang sie so schnell vom Stuhl, dass er kippte und polternd zu Boden fiel, hastete zur Tür und riss sie auf. Lore stand vor ihr, mit gerötetem Gesicht und finsterem Blick.

»Ich habe Ban gesagt, er soll sich um Benlin kümmern. Der arme Junge ist völlig verstört.« Energisch schob sie Inja zur Seite und betrat das Haus. »Vor Neils Haus hat sich eine Menschenmenge versammelt. Sie sagen, dass die Söldner ihn erwischt haben.«

»Das stimmt«, bestätigte Inja und folgte Lore zum Tisch, wo Veit noch immer um Fassung rang. Mit erfahrenem Griff zog Bans Mutter sein Wams und das Hemd über den Kopf und untersuchte seine Verletzungen. Veit biss die Zähne zusammen und bemühte sich nach Kräften, keinen Schmerzenslaut von sich zu geben.

»Den Arm hat‘s schwer erwischt«, befand Lore nach eingehender Untersuchung. »Alle Finger und der Knöchel sind gebrochen. Der Schnitt am Oberarm ist tief und muss genäht werden.«

Veit nickte. Mittlerweile war er so bleich, dass seine Haut Injas glich.

»Hol einen Krug Schwarzbier und einen großen Kümmler. Der Junge braucht eine Stärkung, sonst kippt er noch um. Außerdem brauche ich Wasser und saubere Tücher«, befahl Lore.

Inja beeilte sich, das Gewünschte herbeizuschaffen. Während sie Kümmler in einen Becher goss, zog Lore hauchfein gesponnenes Flachsgarn auf eine Nadel.

»Mach den Becher voll. Der Junge wird es brauchen«, befahl sie.

Fasziniert und abgestoßen zugleich beobachtete Inja, wie Bans Mutter zuerst die tiefe Wunde reinigte und anschließend begann, das Fleisch zu vernähen wie einen Riss im Gewand. Veit stöhnte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Obwohl Inja eher nach Wegrennen und Weinen zumute war, ergriff sie seine gesunde Hand und lächelte ihn aufmunternd an. Nachdem die Fleischwunde versorgt war, wandte Lore sich den gebrochenen Fingern zu. »Das wird ein hartes Stück Arbeit. Trink lieber noch einen Schluck Kümmler, Junge.«

Veit tat wie geheißen und verzog angewidert das Gesicht. Inja verstand ihn gut. Das Zeug schmeckte scheußlich.

Lore schnappte die Flasche und füllte den Becher ein weiteres Mal auf. »Und noch einen. Was ich jetzt mache ist nichts für zarte Gemüter, das kannst du mir glauben.«

Furcht flackerte in Veits Augen auf, die Lore ungerührt zur Kenntnis nahm. Mit versteinerter Miene richtete sie seine Finger und umwickelte sie anschließend mit festen Tüchern. Trotz des hochprozentigen Gemischs schrie Veit immer wieder auf und biss sich die Lippen blutig.

»Nun mach schon Inja. Halt seinen Arm«, schnauzte Lore, als Veit die Hand zum zweiten Mal wegzog. Inja versuchte nach Kräften, Lores Anweisungen zu befolgen. Tränen strömten ihre Wangen hinab, während sie den Arm ihres Bruders umklammert hielt. Als Lore fertig war, führte sie den schwankenden Veit in seine Kammer, wo er stöhnend auf die Matratze sank.

»Bis zur Tag und Nachtgleiche darfst du den Arm nicht bewegen«, mahnte Lore und reichte ihm einen Becher. »Hier trink das. Ich hab etwas Schlafpulver hineingemischt, damit du zur Ruhe kommst.«

Veit nahm den Becher und leerte ihn in einem Zug. »Werde ich den Arm je wieder benutzen können?«

Lore schnaubte. »Ich habe mein Bestes getan, alles andere liegt in den Händen der Götter. Dein Arm wird nie wieder seine alte Kraft erlangen, so viel ist sicher.« Sie wandte sich Inja zu. »Was ist mit eurer Mutter? Seit ich hier bin, hat sie sich nicht gerührt. Ist sie verletzt?«

Inja zuckte mit den Schultern. »Ich glaube schon. Sie hat kein Wort gesprochen, hat sich einfach nur hingelegt.«

Lore brummte etwas Unverständliches und ging in die elterliche Schlafkammer, wo Injas Mutter noch genauso lag wie zuvor und die Wand anstarrte, als würde ihr Blick von etwas angezogen, dass nur sie sehen konnte.

Lore blieb ruhig. »Ich grüße dich, Gretta. Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«

Gretta antwortete nicht. Lore setzte sich an den Bettrand und legte ihre Hand auf Grettas Arm. »Darf ich nachsehen, ob du Verletzungen hast, die behandelt werden müssen?«

Die Mutter schwieg. Wie versteinert lag sie da und starrte an die Wand. Inja versuchte zu erkennen, ob sie wenigstens blinzelte. Lore stieß einen tiefen Seufzer aus. »Gut, du willst nicht antworten, das verstehe ich. Doch ich nehme dein Schweigen als Einverständnis.«

Vorsichtig löste sie die zerrissenen Schnüre von Grettas Tunika, hob das Hemd an und begann, ihren Rücken nach Verletzungen abzusuchen. »Ein paar Schnittwunden, nicht tief und Blutergüsse, also nichts, was nicht wieder heilt«, sagte sie laut, damit Gretta es hören konnte.

Inja bewunderte ihr Geschick. So griesgrämig sich Bans Mutter ansonsten verhielt, im Umgang mir Kranken wirkte sie fähig und beruhigend.

»Ich schaue mir nun deine Vorderseite an.«

Mit Injas Hilfe drehte sie Gretta auf den Rücken, die es widerstandslos geschehen ließ, und untersuchte den Bauch und die Brüste. Ein Schreckenslaut entfuhr Inja und sie schlug schnell die Hand vor den Mund, um den Schrei abzufangen. Tiefe Schnitte zogen sich über die linke Brust ihrer Mutter. Lore warf Inja einen warnenden Blick zu und zog vorsichtig das Hemd über die Verletzungen. »Inja. Geh zu meinem Sohn und warte dort auf mich.«

Inja runzelte die Stirn. »Warum? Ist es nicht besser, wenn ich hier bleibe und helfe?«

»Geh!«, erwiderte Lore barsch. »Ich brauche deine Hilfe nicht.«

Inja presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf. Lore war nicht ihre Mutter, aber sie war eine Erwachsene und so musste sie gehorchen. Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen kurzen Blick auf Veit. Er hielt die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig.

Erleichterung durchflutete sie, als sie aus der Tür trat, gemischt mit Gewissensbissen, weil sie froh war, dem Anblick ihrer Mutter zu entfliehen und lieber nicht wissen wollte, was die Söldner ihr alles angetan hatten. Mit gesenktem Kopf machte sie sich auf den Weg, versuchte, die Dorfbewohner nicht zu beachten, die sich auf den Gassen versammelt hatten, um über die vergangene Nacht zu sprechen. Sobald sie Inja erblickten, verstummen sie, klopften sich gegen Lippen und Stirn und starrten sie feindselig an. Überall vernahm Inja das Flüstern, hinter vorgehaltener Hand gesprochene Worte über den Tod ihres Vaters und ihres Bruders, über die Schändung ihrer Mutter und Neils Frau und Tochter. Geisterkind hallte es aus jeder Ecke. Sie ist die Schuldige. Sie bringt Unheil über uns. Sie muss büßen.

Am liebsten hätte Inja sich die Ohren zugehalten, um die hasserfüllten Worte nicht hören zu müssen. Endlich kam Lores Kate in Sicht. Wie eine Insel im tosenden Meer stand sie inmitten der feindseligen Menschen. Inja rannte nun fast zur Tür und stürmte in die Hütte.

Ban saß mit Benlin am Tisch, der so sauber geschrubbt war, dass er fast glänzte. Irmeli saß auf seinem Schoß und lutschte an einem Holzlöffel herum. Als sie Inja erblickte, streckte sie die speckigen Ärmchen aus und lachte vor Freude. Bei dem Anblick schossen Tränen in Injas Augen.

Ban sprang auf und reichte Irmeli an Benlin weiter. Sofort begann sie, zu quengeln, denn sie wollte natürlich auf den Arm ihrer Schwester.

»Sie will zu mir«, sagte Inja. »Gib ihr etwas zu essen, um sie abzulenken.«

»Was ist mit deiner Mutter und Veit?«, fragte Ban statt einer Antwort.

Inja schüttelte den Kopf und winkte ab. Noch war sie nicht in der Lage, über den Vorfall zu sprechen.

Ban nickte Richtung Tisch. »Setz dich. Ich koche einen Tee.«

»Und etwas für Irmeli«, fügte Inja hinzu. »Milch wäre gut.«

Hastig goss er Milch in eine Schale und zupfte ein paar Brocken Brot hinein. Irmeli zappelte aufgeregt, als sie das sah, ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und quietschte ungeduldig. Während Ban den Becher auf den Tisch stellte, gluckste sie vergnügt und schmatzte. Normalerweise entlockte Irmelis unschuldige Freude Inja immer ein Lächeln, doch diesmal blieb sie ernst. Sie beneidete ihre kleine Schwester, die von den schrecklichen Geschehnissen noch nichts mitbekam und nun genüsslich die eingeweichten Brotstücke aus der Milch fischte. Ban bereitete derweil den Kräutertee. Inja setzte sich und ergriff Benlins Hand, der dies ausnahmsweise duldete.

»Vater und Benhard sind tot«, sagte er mit tonloser Stimme.

»Ich weiß.« Inja nickte. »Was ist mit Resna und ihrer Tochter passiert?«

Schmerz verzerrte Benlins Gesichtszüge. »Alle sind tot. Es war grauenhaft.«

Schluchzend schlug er eine Hand vors Gesicht. Ban stellte die Becher mit dem frischgekochten Tee auf den Tisch, nahm neben Inja platz und strich tröstend über ihren Rücken. Inja seufzte tief. Seine Berührung tat gut. »Dein Bruder hat mir alles erzählt«, sagte er. »Weil die Söldner dich nicht finden konnten, haben sie sich Neils Frau und Tochter geholt. Er hat versucht, es zu verhindern, darum haben sie ihn getötet.«

Inja sah von einem zum anderen. »Und was ist in der Schankstube passiert?«

Ban zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Benlin sagt, er hätte sich hinter den Tresen gekauert, die Ohren zugehalten und darauf gewartet, dass die Männer endlich verschwinden. An Einzelheiten kann er sich nicht erinnern.«

Inja schüttelte den Kopf und schlürfte den Tee. Ihr Bruder wollte sich nicht erinnern. Das musste sie akzeptieren. Während sich wohltuende Wärme in ihrem Bauch ausbreitete, schloss sie die Augen und versuchte, das Bild ihrer geschundenen Mutter zu vertreiben, das sofort vor ihrem geistigen Auge erschien. Die tiefen Schnitte auf der Brust, die Inja an klaffende, blutige Münder erinnerten. Erst Irmelis Gebrabbel riss sie aus den schrecklichen Gedanken.

»Möchtest du Tee trinken?«, fragte Inja.

»Babamm«, erwiderte Irmeli und schmatzte, woraufhin Inja in ihren Teebecher blies und ihn an Irmelis Lippen hielt.

»Veit ist verletzt«, berichtete sie. »Mutter ebenfalls. Sie spricht nicht. Was mit Vater, Benhard und den beiden Frauen passiert ist, weiß scheinbar keiner von uns, doch Veits Blick verriet mir, dass die Söldner sie getötet haben.«

Ban kratzte sich am Kopf. Das machte er immer, wenn er angestrengt nachdachte. »Vielleicht sollten wir zur Schankstube gehen und hören, was meine Mutter dazu sagt.«

Benlin sprang auf. »Du hast recht. Ich kann nicht länger herumsitzen und warten.«

Irmeli, die gerade dabei war, ein weiteres Stück Brot aus der Milch zu fischen, begann zu jammern, als sie so unvermittelt von der Schale fortgerissen wurde.

»Ich weiß nicht, Benlin. Ich finde, wir sollten warten, bis Bans Mutter zurückkommt«, gab Inja zu bedenken. Der Gedanke an Zuhause und den Anblick ihrer Mutter ängstigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Was hatten die Männer ihr angetan, um aus der tatkräftigen Frau ein Häufchen Elend zu machen?

Bevor sie zu einer Entscheidung gelangten, betrat Aberlin die Hütte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und Veit wirkte er vergleichsweise unbehelligt. Weder war seine Kleidung zerrissen und verschmutzt noch schien er, bis auf ein paar Kratzer und ein zugeschwollenes, blaues Auge, ernsthaft verletzt zu sein. Erschöpft sank er auf die Bank neben der Feuerstelle. Die Kinder blickten ihn erwartungsvoll an. Niemand sprach.

»Vater ist tot«, fing Aberlin an und fuhr sich durch das zerzauste Haar. »Und auch Benhard hat‘s erwischt, ebenso Neils, seine Frau und die Tochter.«

Das war keine Überraschung, Inja hatte es gewusst, dennoch war es ein Schock, die Wahrheit ausgesprochen zu hören. »Wieso haben die Soldaten das getan?« Vor Entsetzen klang ihre Stimme ganz dünn.

Aberlin schnaubte. »Weil sie es können. Die Söldnergarde tut, was ihnen in den Sinn kommt. Das ist allgemein bekannt. Vater wollte ihnen nicht verraten, dass er eine Tochter hat und Benhard konnte nicht mit ansehen, wie Veit gefoltert wird, und hat es ihnen schließlich verraten. Vor Wut haben die Männer ihn getötet.« Er sah Inja an. »Glücklicherweise warst du fort, doch dafür musste jemand anderes herhalten. Also haben sie sich Neils Frau und seine Tochter geholt.«

Entsetzt schlug Inja die Hand vor den Mund. Vier Menschen waren tot, weil sie geflohen war. »Neils Tochter ist nur einen Winter älter als ich«, wisperte sie.

»Mach dir keine Vorwürfe«, versuchte Aberlin sie zu beruhigen. »Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie dir das angetan hätten, was sie Mutter und den beiden Frauen angetan haben. Sie verhielten sich wie Tiere, mordlustig und gierig. Irgendeinen Vorwand hätten sie schon gefunden, um uns zu quälen.«

»Was haben sie denn mit unserer Mutter gemacht? Warum ist sie so?«, fragte Inja.

Aberlin beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. »Das willst du gar nicht wissen, Schwesterherz. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass letzte Nacht Dinge geschehen sind, die selbst den standhaftesten Mann um den Verstand bringen würden und dich wünschen ließen, keine Frau zu sein.« Er räusperte sich und sah sie reihum an. »Morgen früh mache ich mich auf den Weg nach Dörsten zu unserem Oheim. Er wird uns dabei helfen, unsere Angelegenheiten zu regeln.«

Inja riss die Augen auf. »Was ist mit Mutter? Kann sie nicht alles regeln? Sie bleibt doch nicht so, oder?«

Eine seltsame Mischung aus Härte und Entschlossenheit lag in Aberlins Blick, als er antwortete. »Ich weiß nicht, ob sie wieder normal wird, aber ich befürchte das Schlimmste. Deshalb müssen wir Vorkehrungen treffen. In drei Tagen findet die Totenfeier statt, danach verlasse ich diesen Ort und suche mir eine Anstellung in Grimmelstadt. Damit ihr über die Runden kommt, werde ich euch regelmäßig einen Teil meines Soldes schicken.«

»Was?«, stieß Inja entsetzt hervor. »Du willst fortgehen? Warum?«

»Irgendjemand muss ein paar Kreuzer verdienen, sonst verhungern wir.«

»Dann führ die Schankstube weiter«, schlug Inja vor. »Du bist alt genug.«

Aberlin mied ihren Blick, das schlechte Gewissen überschattete sein Gesicht. Er schluckte schwer, bevor er antwortete. »Ich kann nicht hierbleiben, nicht nachdem was geschehen ist.«

Ein paar Atemzüge lang herrschte Stille. Inja fühlte sich wie betäubt. Die Soldaten waren fort, doch statt besser wurde alles nur noch schlimmer. Aberlin ergriff ihre Hand. »Verzeih mir kleine Schwester, eines Tages wirst du es vielleicht verstehen.«

Inja entzog ihm ihre Hand und wich zurück. Nein, dafür hatte sie kein Verständnis. »Du läufst davon wie ein Feigling und lässt deine Familie im Stich. Wie soll ich das jemals verstehen?«

Aberlin senkte den Kopf und schwieg. Benlin schluchzte. Irmeli spielte mit der leeren Schale und brabbelte unbekümmert vor sich hin.

»Es tut mir leid.« Aberlin erhob sich abrupt. »Bleibt hier bei Ban. Lore wird euch wissen lassen, wenn ihr wieder nach Hause könnt.«

Nach diesen Worten verließ er die Hütte. Inja saß schweigend da und starrte auf den Tisch. Vater und Benhard waren tot, genauso wie der Geist ihrer Mutter. Veit würde zeitlebens ein Krüppel bleiben und Aberlin rannte davon wie ein Hasenfuß. Die Familie zerbrach. Wer würde für Benlin und Irmeli sorgen? Und für sie? Niemand im Dorf würde ihr, dem Geisterkind, eine Anstellung geben, vor allem nicht jetzt, nach dem Unglück.

Während Benlin seinen Tränen freien Lauf ließ, erstarrten ihre Tränen in kalter Verzweiflung.

»Es wird sich eine Lösung finden«, versuchte Ban sie aufzumuntern. »Dein Oheim wird euch helfen.«

Inja bedachte ihn mit einem frostigen Blick. Erkannte Ban denn nicht, was geschehen würde? Wenn die Familie kein Oberhaupt hatte, würde man sie trennen und in die Obhut Fremder geben, denn der Oheim würde ganz sicher nicht für vier Kinder zugleich sorgen. Aberlins Zuwendungen würden gerade reichen, um der zerrütteten Mutter und vielleicht noch Irmeli das Überleben zu sichern, nicht aber den restlichen Kindern. Ohne Eltern oder einen Vormund waren sie schutzlos und gänzlich der Willkür Fremder ausgeliefert.

»Niemand kann uns helfen«, erwiderte sie kalt. »Wir sind verloren.«

Geisterkind

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