Читать книгу Geisterkind - Christine Millman - Страница 13

Rutten

Оглавление

Fröstelnd zog Inja die Wolldecke enger, während sie aus dem Einstieg spähte. Die Halbinsel Rutten wirkte wie das Ende der Welt. Steile Klippen ragten wie von Riesenhand erbaute Festungsmauern aus der gotischen See. Felsen, dürres Gras und Moos, soweit das Auge reichte und dahinter das endlose Meer, das in schäumenden Wellen gegen das Gestein brandete.

Hinter diesem Ort gab es nichts mehr.

Die Einsamkeit des Landes drückte wie eine schwere Last auf ihr Gemüt. Ein kräftiger Nordwind riss an der Wagenbespannung und rüttelte den Wagen kräftig durch. Wegen des steinigen Bodens kamen sie nur langsam voran. Immer wieder mussten sie kleineren Felsen und Gesteinsbrocken ausweichen. Das Rauschen der Brandung verdichtete sich zu einem stetigen Donnern, das wie ein dunkler Fluch in Injas Ohren hallte.

Vor den Mauern des Konvents passierten sie einen Zaun, der eine Fläche von fünfzig Doppelschritten umfasste. Dahinter befanden sich aus faustgroßen Steinen gefertigte Grabhügel, die teilweise von Moos und Flechten überwuchert waren.

»Sind das Gräber?«, flüsterte Lykke.

Inja schluckte trocken. »Sieht so aus.«

Würde sie eines Tages in diesem kargen Boden liegen? Von der Welt vergessen? Gleich hinter dem Totenfeld gelangten sie zu einer Mauer, die den weitläufigen Innenhof des Konvents umschloss. Inja reckte den Hals und versuchte, einen Blick zu erhaschen. Sie sah ein Gebäude mit einem kuppelförmigen Dach und einem Säulengang davor, sowie mehrere Flache Häuser. Niemand war zu sehen.

Griselle hielt vor dem Tor, stieg vom Kutschbock und schlug mit einem Pflock gegen das Holz. Inja, Lykke und Hadwin krochen zur anderen Seite und spähten durch den schmalen Schlitz in der Wagenbespannung über den Kutschbock. Eine Konventin öffnete das Tor. Sie war kräftig und von kleinem Wuchs, ihr buschiges, braunes Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, darüber eine farblose Haube. Die Konvententracht. Sie hielt den Blick gesenkt und verneigte sich tief, während der Wagen das Tor passierte. Im Innenhof war es still, bis auf das Tosen der Wellen, die unaufhörlich gegen die Steilküste brandeten.

Nachdem sie ausgestiegen waren, führte Griselle sie einen Trampelpfad entlang zu einem flachen Gebäude. »Innerhalb dieser Mauern müsst ihr auf den Wegen bleiben«, erklärte sie.

»Warum?«, fragte Inja.

Griselle warf ihr einen strengen Blick zu. »Es ist eine Regel, an die ihr euch zu halten habt. Da gibt es kein warum.« Sie deutete auf Injas Füße. »Bevor ihr ein Haus betretet, müsst ihr eure Schuhe ausziehen.«

Was für eine seltsame Regel. »Auch im Winter?«

Griselle nickte. »Immer! Das ist das Haus der Gesegneten. Ihr dürft es niemals unter keinen Umständen unbefugt betreten. Im Haus müsst ihr still sein und stets den Kopf gesenkt halten.«

Inja fragte sich, was sie noch alles tun mussten und nicht tun durften. Der Konvent schien nur aus Regeln und Zwängen zu bestehen. Widerwillig streifte sie ihre Schuhe ab und betrat das Haus. Der kalte Stein fühlte sich unangenehm an und ließ Inja frösteln. Sehnsüchtig blickte sie auf die türlosen Kammern zu beiden Seiten, in denen sich Betten, Waschschüsseln und große Truhen befanden. Waren das die Zimmer der Konventen? Eher nicht, denn Griselle hatte das Gebäude als Haus der Gesegneten bezeichnet. Bilder, Spiegel oder Teppiche schienen verpönt, denn Inja entdeckte keinen einzigen dieser Gegenstände.

»Wie ihr sehen könnt, gibt es im Konvent keine Türen. Hier seid ihr niemals allein«, erklärte Griselle.

Der Gang mündete in eine schmale Kammer. Ein Feuer brannte im Kamin, dessen Wärme leider nicht den Steinboden erreichte. Injas Füße waren mittlerweile durchgefroren. Im Türrahmen hielt Griselle inne. »Richtet niemals ungefragt das Wort an die Erhabene Eltrud und verneigt euch, wenn ihr vor sie tretet.«

Beklommen betrat Inja den Raum. Eine große Frau mittleren Alters saß auf einem breiten, gepolsterten Stuhl. Sie war mager, die schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen, die Lippen waren bloß ein dünner Strich in einem knochigen Gesicht. Die klauenartigen Hände hielt sie im Schoß gefaltet. Zwei Frauen flankierten sie.

Griselle verneigte sich. »Seid gegrüßt Erhabene. Ich bringe Euch die neuen Konventen. Mögen sie sich würdig erweisen unter Eurer göttlichen Führung.«

Die Erhabene nickte ihr zu, ließ Inja dabei aber nicht aus den Augen. Sie blinzelte kein einziges Mal. Die Frau war unheimlich.

»Wer ist dieses Mädchen?« Ihre Stimme klang scharf und kalt.

»Ihr Name ist Inja. Sie stammt aus einem Dorf bei Murg«, erklärte Griselle.

Die Erhabene erhob sich und musterte Inja prüfend. Missbilligung stand in ihrem Gesicht. Inja wurde flau im Magen. Griselle hatte sie ohne zu zögern mitgenommen, doch was würde passieren, wenn die Erhabene sich nun dagegen entschied? Andererseits hatten sie für Inja bezahlt und würden sich ihre Arbeitskraft oder was auch immer sie von ihr haben wollten, sicher nicht entgehen lassen.

»Niemand sagte uns, dass sie uns ein Winterkind schicken«, stellte die Erhabene fest. »Trägt sie böse Geister in sich?«

»Bisher konnte ich nichts Böses in ihr entdecken«, antwortete Griselle. »Aber man weiß ja nie«, fügte sie kleinlaut hinzu.

Die Erhabene führte die gefalteten Hände zum Mund und rieb sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Eine Konventin, die böse Geister in sich trägt, können wir hier nicht gebrauchen. Wer weiß, zu was sie fähig ist. Du hättest diesen Bauern das Geld nicht übergeben dürfen, als du sie gesehen hast. Sie wollten sie loswerden und wir haben sie jetzt am Hals.«

Inja schluckte nervös. Anders als Griselle zuvor schien die Erhabene an die bösen Geister in ihr zu glauben.

»Verzeiht mir Erhabene. Die Männer beschworen ihre Reinheit. Soll ich sie zurückschicken?«, fragte Griselle zerknirscht.

Zurückschicken? Injas Herz begann zu pochen. Hatte sie ausnahmsweise Mal Glück? Sie hielt den Atem an.

»Nein«, beschied die Erhabene und machte Injas Hoffnung mit einem Schlag zunichte. »Das wäre Verschwendung. Freiwillig rücken die Dörfler keinen Kreuzer mehr raus. Wir werden ihren Leib von Unrat und Sünde befreien und die bösen Geister austreiben, bevor sie in den Dienst der Götter tritt.«

Griselle neigte den Kopf. »Das klingt vernünftig.«

»Ich übertrage dir die Unterweisung der Konventinnen und die Durchführung der Reinigungszeremonie. Der Junge bleibt hier, ein Eunuch wird ihn in das Jungenhaus bringen.«

Bei dem Wort Eunuch stieß Hadwin einen erschrockenen Laut aus, was ein höhnisches Lächeln auf die Lippen der Erhabenen zauberte. Sie genoss Hadwins Entsetzen, stellte Inja angewidert fest. Aus dem Schatten hinter Eltrud trat eine junge Frau, deren üppige Oberweite fast das hochgeschlossene Gewand sprengte. Hadwin starrte sie ängstlich an.

Sie legte eine Hand auf Hadwins Rücken. »Hab keine Angst. Die Götter sorgen für uns. Folge mir. Ich bringe dich zu Dolf.«

Griselle verneigte sich und führte Inja und Lykke hinaus.

»Was geschieht während der Reinigungszeremonie?«, platzte Inja heraus, sobald sie die Kammer verlassen hatten.

Griselle verdrehte die Augen, sie wirkte gereizt. »Du musst lernen, deine Neugier und Ungeduld zu zügeln, sonst wirst du nicht lange durchhalten.« Sie zog an Injas Haar, fester als es nötig gewesen wäre. »Hättest du das nicht bedecken können? Dann wäre der Erhabenen der Anblick erspart geblieben.«

Und dir die Zurechtweisung dachte Inja trotzig. Sie warf Lykke einen vielsagenden Blick zu. Lykke versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, was ihr jedoch kläglich misslang. Sie hatte Angst vor dieser ominösen Reinigungszeremonie, das war deutlich zu sehen. Griselle führte sie zu einem Gebäude am nördlichen Rand, dessen einziger Schutz vor dem grimmigen Nordwind die Mauer bot. Wieder musste Inja die Schuhe ausziehen. Mittlerweile schmerzten ihre Zehen vor Kälte. Das Haus bestand aus einem riesigen Schlafsaal.

Griselle deutete auf die Strohsäcke am Boden. »Hier schlafen die Konventinnen.«

Auf jedem Strohsack lagen zwei ordentlich gefaltete Decken, dahinter befand sich eine schlichte Truhe, in der die Konventinnen ihre Kleidung aufbewahrten. »Eure Plätze findet ihr gleich neben der Tür.«

Auf ihrem Schlafplatz fand Inja jeweils zwei Kleider aus grober Wolle, passende Untergewänder, Hauben und knöchelhohe Lederschuhe mit hölzernen Unterschuhen für den Winter sowie ein Umhang, ein Stück Seife und zwei Leintücher.

»Wie ihr bereits wisst, legen wir großen Wert auf Reinlichkeit«, betonte Griselle. »Ihr müsst euch täglich am Brunnen hinter dem Haus waschen. Nur im Winter ist es euch gestattet, das Wasser mit in den Schlafsaal zu nehmen und euch dort zu reinigen.«

Da Lykke bereits die Konvententracht trug, musste sie sich nicht umkleiden und so half sie Inja beim Verschnüren des Kleides, flocht ihre Haare und stülpte ihr die Haube über. Anschließend zeigte Griselle ihnen die Arbeitsbereiche. In einem Haus wurde Schmuck hergestellt, der aus verschiedenen Muscheln und bunt leuchtenden Steinen gefertigt wurde. Sobald Griselle den Raum betrat, erhoben sich die Konventen von ihren Hockern und verneigten sich. Inja spürte die Blicke der Jungen und Mädchen, die sie unter gesenkten Augenlidern neugierig betrachteten.

»Den Schmuck verwenden wir als Handelsgut«, erklärte Griselle.

Im nächsten Haus wurde Käse aus Geißenmilch hergestellt und mit getrockneten Kräutern vermengt. Hinter der Küche befand sich eine Kammer, in der Fisch und Fleisch geräuchert wurden.

Der Garten lag außerhalb der Mauern auf der Südseite des Konvents. Drei Konventinnen befreiten den Boden von Steinen und Unkraut. Ihre Gesichter waren vor Anstrengung gerötet, die Hände mit brauner Erde bedeckt. Auch sie erhoben und verneigten sich, als sie Griselle erblickten.

»Auf dem steinigen Boden wächst nicht viel, doch es reicht, um uns zu nähren«, erklärte Griselle beim Gehen.

Nach dem Feld führte die Gesegnete sie eine Treppe hinab zu einem schmalen Strand, der nur über die ausgetretenen Stufen erreicht werden konnte. An mehreren Stellen ragten Pfosten aus dem Wasser, zwischen denen Netze gespannt waren.

»Das sind unsere Fischnetze. Einmal täglich holen wir den Fang ein«, erklärte Griselle. »Diese Aufgabe ist bei den Konventen nicht besonders beliebt. Die Strömung ist unberechenbar und der Strand wird hin und wieder von großen Wellen überspült, die jeden mit sich reißen und auf das offene Meer hinaustragen. Kraft und die Fähigkeit, lange unter Wasser zu bleiben ist von Vorteil.«

Obwohl Griselle vor den Gefahren gewarnt hatte, wusste Inja sofort, dass sie diese Aufgabe gerne übernehmen würde, ganz im Gegensatz zu Lykke, die die Netze beäugte wie eine Giftschlange. Inja liebte das Wasser und konnte länger die Luft anhalten als jeder andere. Zudem erschien ihr der einsame Strand wie ein Stückchen Freiheit, ein Ort, an dem sie unbehelligt von den Blicken der anderen ihre Arbeit verrichten könnte.

»Da oben liegen die Höhlen.« Griselle deutete auf die Klippen über ihnen. »Täglich klettern fünf Konventen hinein, um nach Steinen zu graben, die wir dann zu Schmuck verarbeiten.«

Vom Strand aus sah es hoch und gefährlich aus und Inja hoffte, dass sie nicht gerade zum Edelsteinschürfen eingeteilt werden würde. Weder wollte sie in dunklen Höhlen herumkriechen, noch an Steilhängen entlang klettern. Bestimmt stürzten immer wieder Konventen in die Tiefe.

Als Griselle sie die Stufen wieder hinaufführte, knurrte Injas Magen vernehmlich. Seit dem Buchweizenbrei am Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. »Wann speisen die Konventen, Gesegnete?«, wagte sie zu fragen.

»Ihr bekommt am Morgen und am Abend eine Mahlzeit. Die Konventinnen, die im Garten, im Stall und in den Höhlen arbeiten bekommen zusätzlich eine Scheibe Graubrot für zwischendurch. Wir essen, um zu überleben und meiden Völlerei«, erwiderte Griselle. »Ihr beiden bekommt jetzt allerdings nichts mehr, da ihr heute gereinigt werdet.«

Inja runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?«

»Ihr werdet fasten, beten und baden. Üblicherweise ist die Zeremonie von kurzer Dauer. Nach der Reinigung im Salzmeer muss die neue Konventin einen Tag und eine Nacht lang fasten«, sie wandte sich Inja zu. »Da du aber ein Winterkind bist, wirst du zwei Nächte und zwei Tage lang deinen Leib zu einem Ort machen, den kein böser Geist freiwillig heimsucht.«

Inja schluckte. Zwei lange Tage ohne Essen, wo sie doch jetzt schon schrecklichen Hunger hatte.


Am Abend versammelten sich die Konventen und Gesegneten auf dem Platz im Hof, um Injas und Lykkes Reinigung zu zelebrieren. Die rote Sonne versank hinter dem Horizont und tauchte die Mauern des Konvents in flammendes Licht. Die Erhabene Eltrud führte sie die Steinstufen hinab an den Strand, wo sie bis auf das Untergewand entkleidet und von zwei Gesegneten zum Wasser geleitet wurden. Lykke zitterte am ganzen Leib. Sie konnte nicht schwimmen und fürchtete, zu ertrinken.

»Konventinnen. Wir reinigen euren Leib vom Schmutz dieser Welt«, rief Eltrud.

Fackeln wurden entzündet. Die Konventen knieten im Sand, und senkten demütig die Häupter. Inja fiel auf, dass keine alten Frauen unter ihnen waren, nicht einmal jemand im Alter ihrer Eltern. Ob das gut oder schlecht war, konnte sie noch nicht beurteilen, aber es machte sie zumindest misstrauisch.

Das Wasser leckte an Injas Füßen, es war kalt und weich, körniger Sand schob sich zwischen ihre Zehen. Der zeremoniellen Reinigung blickte sie verhältnismäßig gelassen entgegen. Wasser war ihr Freund. Trotzdem fing ihr Herz an zu pochen, als die beiden Gesegneten und zwei Beschützer sie packten und tiefer in das Wasser trugen. Lykke neben ihr schluchzte und zappelte. Als sie bis zu den Hüften im Wasser standen, hielten sie inne und drückten Inja nach unten. Bevor das Wasser über ihr zusammenschlug, hielt sie rasch den Atem an. Kälte umfing sie und die vertraute Stille. Über sich sah sie die verschwommenen Gesichter der Beschützer, spürte die Hände, die sie unter der Wasseroberfläche hielten. Ein kleiner Fisch schwamm vorbei, berührte ihre nackten Beine und entlockte ihr ein Lächeln. Er verschwand, als das Wasser plötzlich in Wallung geriet, weil Lykke neben ihr anfing zu zappeln. Inja drehte den Kopf in Richtung ihrer Leidensgefährtin. Sie sah schäumendes Wasser und wild um sich schlagende Arme und Beine. Die Beschützer hielten Lykke unbarmherzig unter Wasser. Wollten sie das Mädchen etwa ertränken?

Inja streckte den Arm aus und versuchte, Lykke zu berühren, ihre eigene Gelassenheit auf das Mädchen zu übertragen, doch sie war zu weit fort. Und dann wurde Lykke plötzlich emporgehoben und verschwand aus ihrem Blickfeld. Inja sah wieder nach oben. Das Wasser beruhigte sich. Wabernde Kreise aus Licht tanzten über die Wasseroberfläche, als am Strand Fackeln entzündet wurden. Nach und nach wurde die Luft weniger, dennoch blieb sie ruhig. Ihre Gedanken wanderten zu Ban und seinem Versprechen. Sein jungenhaftes Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Er lächelte sie an und sie verspürte den Wunsch, ihn zu küssen, wie in der Nacht als sie bei ihm übernachtet hatte. Irgendwann wurde die Luft knapp. Inja sah auf die Hände, die sie unbarmherzig unter Wasser drückten. Warteten sie darauf, dass sie zu zappeln begann? Sie harrte aus, zählte die Wellen, die über sie hinwegspülten. Zehn, zwanzig, dreißig Mal. Der Drang zu atmen überkam sie mit überraschender Dringlichkeit. Vorsichtig versuchte sie, sich von den Händen der Beschützer zu befreien. Erfolglos. Ihr Körper schrie nach Luft. So fest sie konnte trat sie um sich, strampelte gegen den unbarmherzigen Griff der beiden Männer.

Sie musste atmen. Sofort!

Ihr Mund öffnete sich und plötzlich war da kalte Luft, die in ihre gierigen Lungen strömte. Sie wurde an Land gezogen und auf die Füße gestellt. Verwirrt blickte sie sich um. Die Fackeln fauchten im Wind, Wasser umspülte ihre Knöchel, wann immer eine Welle über das Ufer rollte.

Die Erhabene Eltrud beäugte Inja mit eisigem Blick, als wäre sie ein widerliches Getier, das irgendjemand aus Versehen aus dem Meer gezogen hatte. Doch da war noch etwas anderes in ihren Augen. Furcht. Vor was fürchtete sie sich? Vor Inja wohl kaum.

Langsam erhob die Erhabene sich. »Knie nieder, Konventin!«

Inja tat wie geheißen.

»Äußerlich bist du gereinigt«, fuhr Eltrud fort und es klang alles andere als überzeugt. Hoch erhobenen Hauptes wandte sie sich zum Gehen. Inja folgte der Prozession die Stufen hinauf Richtung Gebetshaus. Das Untergewand hing an ihr wie nasse Schlingen, Wasser triefte auf den Boden. Sie fühlte sich schwach und hungrig und sie fror.

Vor dem Eingang hielt Eltrud inne. »Bis zum Morgengrauen wirst du an der Pforte des Tempels knien und die Götter um eine reine Seele bitten.«

Die Prozession entfernte sich. Ein Beschützer drückte sie auf die Knie und blieb bei ihr, um über sie zu wachen. Während sie auf den kalten Steinen kniete, spähte sie in das Gebetshaus, das im Konvent als Tempel bezeichnet wurde. Für einen Tempel fand Inja das Gebäude allerdings ziemlich schlicht. Es strahlte keinerlei göttliche Erhabenheit oder Ruhe aus. Weder gab es Bänke noch eine andere Sitzgelegenheit, nur drei hölzerne Altäre, die mit Opfergaben bestückt waren, sowie ein grobes, aus Stein gemeißeltes Bildnis der Götter Huam und Geb.

Die Nacht war kalt, ein frischer Wind wehte über das Plateau. Inja bibberte. Hoffentlich würde das Untergewand schnell trocknen. Nach kurzer Zeit begannen ihre Knie, zu schmerzen. Unbehaglich rutschte sie auf dem Steinboden herum. Um sich abzulenken, sah sie in den Himmel hinauf und betrachtete die Sterne, die hier, in der klaren Weite Ruttens viel heller leuchteten als in ihrem Heimatdorf. Ihre Gedanken wanderten zu Ban und ihren Geschwistern, die unter demselben Himmelszelt lebten. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Injas Füße kribbelten unangenehm und der Schmerz in den Knien zog mittlerweile bis in den Rücken hinauf. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie, abwechselnd ein Bein zu entlasten, was den Druck auf das andere Knie jedoch um ein Vielfaches erhöhte.

»Was passiert, wenn ich es nicht schaffe?«, fragte sie an den Wächter gewandt.

»Du musst«, erwiderte er gelassen.

»Und wenn nicht?«

»Wenn du Glück hast, musst du fortan bei den Geißen schlafen und für den Rest deines Lebens niedere Dienste verrichten. Wenn du Pech hast, wirst du nach Amhorst gebracht und auf dem Sklavenmarkt verkauft.«

Inja schnappte erschrocken nach Luft. Amhorst war ein Sündenpfuhl, den kein Gotländer freiwillig betrat. »Aber ich bin keine Sklavin.«

»Der Konvent hat dich gekauft, also kann die Erhabene über dich verfügen«, erwiderte der Mann ungerührt. »Wenn du nicht rein wirst, kann sie dich zu einer Sklavin machen.«

Wieder dachte Inja an Ban. Um seinetwillen musste sie durchhalten, denn wenn man sie nach Amhorst brachte und verkaufte, würde er sie niemals finden und ihre Hoffnung auf Freiheit wäre für immer verloren.

Die Nacht schritt voran. Der erste Bewacher wurde von einem grimmig dreinblickenden abgelöst, der die Arme vor der Brust verschränkte und Inja jedes Mal argwöhnisch beäugte, sobald sie sich rührte, als befürchtete er, dass sie aufstehen und weglaufen oder die bösen Geister aus ihr herausspringen würden. Mittlerweile spürte sie ihre Füße nicht mehr, ihre Muskeln zitterten unkontrolliert und die Qual in ihren Knien und im Rücken wurde so unerträglich, dass sie sich wünschte, ohnmächtig zu werden. Hunger, Durst, Müdigkeit und Schmerz trugen sie auf dornigen Schwingen durch die Nacht und verscheuchten jeden hoffnungsvollen Gedanken. Die Sterne verschwammen zu bleichen Schemen und die Tür zum Tempel glich mehr und mehr einem riesigen, schwarzen Maul, das sie zu verschlingen drohte.

»Oh Göttin des Erbarmens steh mir bei«, flehte sie immer wieder. »Hilf mir durch den Schmerz und die Verzweiflung. Gib mir Kraft für einen neuen Morgen.«

Kurz vor Morgengrauen kippte sie mit einem verzweifelten Schluchzen vornüber und stützte sich auf dem Boden ab. »Helft mir, ich flehe euch an.«

Ihre Stimme war nur noch ein Wimmern. Ihr Kopf sank auf den Stein. Jeden Augenblick würde sie zur Seite kippen, das spürte sie, doch es war ihr egal. Sollte die Erhabene sie ruhig auf dem Sklavenmarkt verkaufen, es konnte kaum schlimmer sein als an diesem elenden Ort.

»Steh auf! Sie kommen«, sagte der Bewacher.

Inja hob den Kopf. »Wer?«

»Die Gesegneten und die Konventen. Erheb dich!«

Inja stemmte sich auf alle viere und sah sich um. Die Dunkelheit wurde von Fackeln erhellt, Menschen näherten sich. Der Bewacher griff unter ihre Armbeuge und half ihr, damit sie den Oberkörper aufrichten konnte. »Du hast tapfer gekämpft. Nur Wenige halten die Nacht durch.«

Inja schluchzte. Jede Bewegung war eine einzige Qual. »Ich kann nicht aufstehen«, wisperte sie.

»Das musst du auch nicht. Man wird dich zum Wasser tragen.«

Die Erhabene Eltrud trat auf sie zu, sprach eine Segnung und bedeutete den anderen, sie hochzunehmen. Inja schrie auf, ihre Muskeln waren steif und die Knie fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Schmiedehammer zertrümmert. Während sie die Stufen hinabgetragen wurde, sangen die Konventen ein Lied über ewiges Leid und die Gnade der Erlösung. Wieder wurde Inja unter Wasser getaucht. Sie begrüßte die Wellen, die über ihr zusammenschlugen, die Stille und die kühle Geborgenheit. Fast wünschte sie sich, niemals wieder aufzutauchen, eins zu werden mit dem endlosen Meer, denn die Welt oberhalb der Schwerelosigkeit war grausam und kalt. Sie starrte auf die Wasseroberfläche, betrachtete das rote Leuchten der aufgehenden Sonne, das wie Fragmente aus gebrochenem Licht über ihr erstrahlte. Sie würde nicht zappeln und nach Atem ringen, sie würde einfach davonschweben. Schicksalsergeben schloss sie die Augen.

Und plötzlich wurde Inja emporgehoben, hinaus an die kalte Luft. Die Morgensonne begrüßte sie mit einer wärmenden Umarmung. Jemand sprach, sie hörte ihren Namen, doch war sie zu schwach, um darauf zu reagieren. Der Himmel über ihr bewegte sich, wurde zu einer Decke aus Stein, die sich schützend über ihr wölbte. Hände kneteten ihre Muskeln, versuchten, die Beine zu strecken. Schmerzen stachen durch ihre Knie. Jemand schrie. Sie schrie. Gnädige Dunkelheit senkte sich auf sie herab.

Als Inja die Augen aufschlug, erblickte sie die Decke des Gebetshauses und das Fresko von Huam und Geb, den gotländischen Schutzgöttern, das aus vielen kleinen Steinen und Muscheln darauf verewigt war. Sie lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, die Beine gestreckt und sie fror. Natürlich. Im Gebetshaus war es kalt.

»Beweg dich nicht«, zischte eine Stimme hinter ihr.

Inja verdrehte die Augen. Griselle.

»Hier trink das.« Die Gesegnete hob ihren Kopf und hielt ihr einen Becher an die Lippen. Kühles Wasser floss in Injas Mund. Sie trank es gierig.

»Den Tag wirst du in dieser Haltung verbringen und dich in das Antlitz unserer höchsten Götter vertiefen, die dir nach der ersten Nacht der Reinigung gestatten, ihren Tempel zu betreten. Du darfst nicht sprechen und nicht einschlafen«, mahnte Griselle. »Ein Beschützer wird über dich wachen.« Sie erhob sich und ging. Erst jetzt bemerkte Inja den Beschützer, der im Hintergrund wartete. Es war einer der Männer, die sie in den Konvent begleitet hatten. Benommen fragte sie sich, wie lange sie ohnmächtig gewesen war.

Der Tempel hatte keine Fenster, wurde nur von Kerzen erhellt, die auf den Altären und entlang der Wände standen. Der kalte Boden fraß sich wie Säure durch das nasse Untergewand und kroch in ihre Knochen. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie verbot sich, auch nur eine zu vergießen.

Der Tag verging quälend langsam. Der Schmerz in den Beinen wurde abgelöst von Eis. Schlotternd versuchte sie, ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Huam und Geb über ihr schimmerten warm und farbenfroh im Kerzenschein, doch ihre Wärme drang nicht bis zu ihr hinab. Zudem hatte sie schrecklichen Hunger. Wieder fragte sie sich, ob sie nicht mit einem Schlafplatz bei den Geißen oder dem Amhorster Sklavenmarkt vorlieb nehmen sollte, anstatt auch nur einen weiteren Augenblick auf dem kalten Boden zu verbringen.

Als die Kerzen fast heruntergebrannt waren, betraten die Gesegneten und Konventen den Tempel. Inja hatte jedes Zeitgefühl verloren, sie hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob es Tag war oder Nacht. Die Konventen verteilten sich im Raum, knieten nieder und stimmten ein Gebet an. Inja wurde auf die Füße gestellt. Zwei Konventinnen stützten sie, damit sie nicht zu Boden sackte, und geleiteten sie in die Nacht hinaus. Den Weg zum Strand kannte Inja bereits, aber sie wäre auch mit zu den Klippen oder in die Höhlen gegangen. Ihr war alles egal. Als man sie erneut untertauchte, wartete sie eine Weile und fing dann halbherzig an, zu zappeln. Sie würden sie sowieso nicht unter Wasser lassen, also konnte sie es auch hinter sich bringen. Wenn ich noch einmal knien muss, gebe ich auf, dachte Inja, als sie zum Tempel zurückgeschleppt wurde. Die nasse Kleidung klebte an ihrer kalten Haut. Jede Wärme schien aus ihrem Körper gewichen zu sein.

»Heute Nacht wirst du stehen«, beschied die Erhabene ungerührt.

Tränen schossen in Injas Augen. Stehen war besser als knien, aber ihre Kräfte waren verbraucht. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Griselle reichte ihr einen Becher Wasser, den sie durstig leerte. Dann war sie wieder allein mit einem Beschützer, der sie scharf im Auge behielt. Immer öfter schwankte sie und musste ihr Gewicht verlagern, um nicht umzufallen. Sie konnte ihre Füße nicht mehr spüren und wunderte sich darüber, dass sie überhaupt stand.

Die Altäre verschwammen zu einer fließenden Einheit aus Farben und Formen. Die Luft erhitzte sich, als würde sie an einem Feuer sitzen. Inja genoss die unerwartete Wärme und sog tief den Atem ein. Wo kam die Wärme her und was war das für ein seltsamer Geruch? Nach Räucherwerk und Leder. Das schemenhafte Antlitz einer alten Frau flimmerte vor ihren Augen. War das ein Traum? Eine Vision? Inja blinzelte. Aus dem Gesicht der Frau wurde ein Mann mit bronzefarbener Haut. Ein furchterregender Krieger. Wie eine Fleisch gewordene Gottheit stand er vor ihr und starrte sie an. Sein dunkler Blick ließ sie erschauern. Sie schüttelte den Kopf und die Vision verschwand.

Und plötzlich war die Kälte wieder da. Ihre Beine zitterten. Gleich würde sie umkippen, das spürte sie.

»Komm schon Mädchen. Bald hast du es geschafft«, sagte eine Stimme. Hände schoben sich unter ihre Arme und hielten sie aufrecht. »Ich kann dich eine Weile stützen, doch sobald die Sonne aufgeht, musst du alleine stehen.«

»Danke«, war das Letzte, was Inja hervorbrachte, bevor ihr Kopf gegen die Brust des Beschützers sackte. Er hielt sie und sie war ihm unendlich dankbar dafür. Kurz vor Morgengrauen löste er sich von ihr und warf einen Blick zur Tür. »Sie kommen. Ich kann die Fackeln sehen. Jetzt musst du es alleine schaffen.«

Inja zuckte hoch und versuchte blinzelnd, die Müdigkeit zu vertreiben und ihren Körper zum Stehen zu bringen. Nur noch eine kleine Weile, dann hatte sie es geschafft. Wenn nicht würde sie einfach aufgeben.

Die Gesegneten näherten sich, gefolgt von den Konventen. Schweigend verteilten sie sich im Tempel. Inja stand schwankend in ihrer Mitte und sehnte das Ende dieser Qualen herbei. Es gab keine Stelle an ihr, die nicht schmerzte.

Als zwei Beschützer auf sie zu traten, sackte sie zusammen. Die Männer fingen sie auf, schleiften sie zum Strand und tauchten sie unter Wasser. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Inja sie an. Sie könnte einschlafen und eins werden mit der ewigen See. Die Vorstellung war wundervoll.

»Sie rührt sich nicht, Erhabene«, hörte sie eine dumpfe Stimme an der Wasseroberfläche sagen.

»Dann wird sie ertrinken«, entgegnete Eltrud. »Die Götter haben es in der Hand.«

»Große Mutter. Sie hat länger durchgehalten als jede andere.« War das Griselles Stimme? »Und denkt an den Verlust. Wenn sie stirbt, müssen wir eine Neue kaufen.«

»Es sind die bösen Geister, die sie stärken und ihr erlauben so unnatürlich lange unter Wasser zu bleiben. Erst wenn sie stirbt, ist sie wahrhaft rein.« Die Stimme der Erhabenen klang unnachgiebig und so kalt wie das Meer.

Inja lag im Wasser, lauschte den fernen Worten und erkannte die Wahrheit. Es gab keinen Ausweg. Die Erhabene würde sie immer weiter quälen, weil sie Inja hasste. Weil sie fürchtete, dass das, was in Inja schlummerte, eines Tages hervorbrechen und sie zerstören könnte. Vielleicht würde es das. Ihr Leben lang hatte Inja so getan, als wäre sie wie alle anderen, aber das war sie nicht. Etwas verbarg sich in ihr. Eine Macht, die danach verlangte, entdeckt und ausgelebt zu werden. Waren das die bösen Geister, von denen die Menschen sprachen?

War sie ein Geisterkind?

Wenn es so war, sollte sie dann nicht lieber sterben, bevor sie tatsächlich Schaden anrichtete? Langsam öffnete Inja die Lippen. Wasser strömte in ihren Mund. Sie schluckte. Sogleich drang neues Wasser ein. Wieder schluckte sie und versuchte unwillkürlich, zu atmen, doch statt Luft inhalierte sie Wasser. Ein Brennen schoss ihren Hals hinab und verbreitete sich in ihrer Brust, es fühlte sich an als hätte sie spitze Steine verschluckt. Ihre Arme und Beine zuckten, ihr Körper rang mit dem Tod, sie spürte es. Er war schon ganz nah. Plötzlich berührte ihre Wange etwas Weiches, Körniges. Sand. Sie hustete und erbrach einen Schwall Wasser.

Mühevoll hob Inja den Kopf. Eltrud stand nur wenige Schritte entfernt und schaute gebieterisch auf sie hinab. Vergeblich suchte Inja nach Freundlichkeit oder Erbarmen in ihrem Blick, sie fand nur Gleichgültigkeit und Verachtung. Die Beschützer nahmen sie hoch und trugen sie hinauf in den Konvent.

Kraftlos sackte Inja auf den Boden des Tempels.

»Geh auf die Knie, Konventin«, befahl die Erhabene.

»Bitte«, keuchte Inja. »Ich kann nicht mehr.«

»Geh auf die Knie!«, fuhr die Erhabene unbeirrt fort.

Schluchzend rappelte Inja sich hoch und kniete sich hin. Sofort schoss ein stechender Schmerz durch ihre Beine, der sie wimmern ließ wie ein verletztes Tier. Warum hatte die Erhabene sie nicht einfach sterben lassen?

»Sprich mir nach«, befahl Eltrud. »Ich entsage den Geistern, die meinem Leib innewohnen.«

Ja, ja. Das wollte Inja tun, damit man sie endlich in Ruhe ließ. »Ich … entsage mich ... den Geistern, die meinem … Leib wohnen.«

»Mein Leib und Leben gehören den Göttern.«

»Mein Leib und Leben … gehören den Göttern.« Die Welt drehte sich vor ihren Augen. Keuchend sackte sie vornüber.

»Von heute an, bis ans Ende meines weltlichen Seins stelle ich mich in den Dienst der von den Göttern Gesegneten.«

Inja hustete. Ihr Körper war eine Hölle, in dem ihre Seele keinen einzigen Atemzug länger verweilen wollte. Gut so, denn sie hatte es nicht besser verdient, weil sie gelogen und sich geweigert hatte, die Wahrheit zu erkennen. Geisterkind. Oh ja, das war sie, und weder durch Gebete noch durch Folter würde sich daran je etwas ändern.

»Sprich!«, forderte die Erhabene.

»Von heute an … bis ans Ende … meines weltlichen Seins … stelle ich mich in den Dienst … der Gesegneten.« Ihr flehender Blick bewies der Erhabenen hoffentlich, wie ernst es ihr war.

Die Erhabene nickte zufrieden. »Gut. Die bösen Geister haben dich verlassen. Von heute an bist du rein.«

Erleichtert schloss Inja die Augen. Eines Tages würde sie sich an Eltrud rächen.

Geisterkind

Подняться наверх