Читать книгу Die reiche Zukunft hat ein Double - Christine Schick - Страница 10

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Malik war extra früh aufgestanden, was sich auf der Fahrt zur Klinik bezahlt machte. Er bekam einen Sitzplatz und konnte noch ein bisschen dösen.

Als er ins Foyer des Hauptgebäudes einlief, stellten sich seine Nackenhaare auf. Er hatte sich nicht umsonst eingeredet, dass sein Besuch Suri vielleicht nur irritieren oder in eine peinliche Situation bringen würde. Malik hasste Krankenhäuser. Sie waren zu eng mit den Erinnerungen an Vaters Unfall und den Folgen verbunden.

Er steuerte auf die Lautsprechersäulen an der Infotheke zu. Als er in ihren Umkreis trat, erkundigte sich eine Männerstimme übereifrig: „Was können wir für Sie tun?“

„Ich möchte jemand besuchen. Ihr Name ist Suri Temme“, sagte er und registrierte die Kameras an der Wand gegenüber.

Nach einem Augenblick Bedenkzeit meldete sich die Stimme zurück. „Suri Temme wird auf der Neuroimmunologie behandelt, fünfter Stock, Zimmer 598. Leider müssen wir Sie bitten, von Geschenken wie Blumen oder Speisen abzusehen.“

Das machte Malik weniger Sorgen als die Fachabteilung, in der Suri lag. Neuroimmunologie. Das hörte sich nicht banal an. Wenn Kopf und Immunsystem betroffen waren, konnte so einiges durcheinandergeraten. Eines der beiden Gebiete hätte ihm eigentlich schon gereicht.

Malik nahm die Treppe, um noch ein bisschen mehr Zeit zum Ankommen zu haben. In der fünften Etage öffnete er die Tür und trat auf einen kalt beschienenen, leeren Gang. Ein drahtiger Pfleger kam aus einem der Zimmer und musterte ihn im Vorbeigehen. Sicher, für einen typischen Wochenendbesuch war er etwas zu früh dran.

Als er vor dem Zimmer stand, zögerte er. Was, wenn sie noch schlief? Tat sie nicht. Im Krankenhaus wurde man um 5 oder 6 Uhr geweckt. Jedenfalls vor 20 Jahren war das noch so. Was, wenn ihre Eltern bei ihr waren? Himmel, dann würde er dem alten Haudegen auf die Schulter klopfen und sagen, er habe ihn schon lange nicht mehr in den Nachrichten gesehen. Was denn los sei mit ihm? Malik atmete tief durch und klopfte.

Da er nichts hörte, öffnete er die Tür vorsichtig. Suri saß im Bett und wandte den Blick zu ihm. Sie sah ihn etwas ungläubig an, schüttelte leicht den Kopf und strahlte. Malik schloss die Tür und trat näher heran.

„Hey, Suri. Was machst du denn für einen Quatsch?“, fragte er.

Sie kniff die Lippen zusammen, blinzelte, fasste sich in den Nacken und rieb mit ihrer Hand hin und her. Ihr Lächeln verblasste. „Ja, das stimmt“, sagte sie. „Ganz schöner Quatsch.“ Sie wirkte irgendwie versunken auf ihn, wie hinter Wasser. Gleichzeitig sah sie ihn aufmerksam an, so als erwarte sie, dass er im nächsten Moment wie eine Seifenblase zerplatzen würde.

„Ich hoffe, sie haben dir unten keine Blumen angedreht, die sie dir oben wieder aus der Hand gerissen haben“, sagte Suri.

Malik war irritiert. Diese Frau war niemand, der freiwillig über Blumen sprach. Jedenfalls hätte er das noch geschworen, bevor er durch diese Tür trat. Sollte er sich so dermaßen in ihr getäuscht haben? Aber was erwartete er eigentlich? War es wirklich angemessen, dass er Suri besuchte? Vermutlich hatte sie ganz andere Sorgen, als einer flüchtigen Bekanntschaft Auskunft über ihren momentanen Gesundheitszustand zu geben. Wieso war er auf die Idee gekommen, dass eine einzige Begegnung schon eine Brücke gebaut hatte?

Bei deutlich mehr Zeit, die man zusammen verbrachte, war das schon schwer genug. Ganz davon abgesehen, dass er nicht gerade ein Held in diesen Dingen war. Malik versuchte, sich selbst den Druck zu nehmen. Er würde ein paar Worte mit Suri wechseln und sie dann in Ruhe lassen.

„Ich gebe zu, wenn ich an eine Kleinigkeit gedacht hätte, wäre es vielleicht eher ein Reader mit ein paar aktuellen Fachzeitschriften-E-Papern von Cyberlab oder Algopop gewesen“, sagte Malik.

„Cyberlab hab ich schon ewig nicht mehr gelesen“, meinte sie und atmete mit einem sehnsuchtsvollen Stöhnen aus. Dann hielt sie inne und sah ihn an. „Du hast dich über mich erkundigt, oder?“ Suri rieb sich mit beiden Händen die Schläfen.

„Hast du Schmerzen?“ Malik ging ein Stück näher ans Bett, traute sich aber nicht, sich zu setzen.

„Ja, nein, ich …“, sagte sie. „Ich bin so überrascht, dass du hier bist. Ich freu mich.“

Wow, 100 Punkte für seinen Bruder. Malik setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und beobachtete sich selbst ein bisschen ungläubig dabei.

„Weiß man denn, was dir gesundheitlich zusetzt? Können dir die Fachleute hier helfen?“, fragte er.

Da war sie wieder, die unsichtbare Wand, die sich zwischen sie schob. Obwohl Suri ihn anlächelte, schien sie sich in einer seltsamen Art und Weise zurückziehen zu wollen. Möglicherweise versuchte sie, sich einfach nur höflich zu verhalten, obwohl ihr der Besuch eigentlich zu viel war.

„Nicht so richtig, leider“, sagte Suri. Es klang ermattet.

Malik lächelte und stand auf. „Jetzt lass ich dich mal wieder in Ruhe. Beim nächsten Besuch hab ich jede Menge Reader mit Cyberlab-E-Papers dabei, versprochen.“

Suris Augenbrauen schoben sich zusammen. Sie streckte die Hand aus und sagte: „Ich würde dir so gerne was erzählen und auch von dir hören, ich meine, wenn all die vielen, vielen Untersuchungen hier vorbei sind, weißt du.“ Mit ihren Händen zeigte sie in die Umgebung des Krankenzimmers, ließ ihren Blick noch mal von links nach rechts schweifen und sah Malik dann in die Augen.

Die Wand war weg. Plötzlich verstand er. Mein Gott, wieso hatte er so lange gebraucht, um zu schalten? Suri konnte nicht frei sprechen, überall waren Kameras und Audiogeräte integriert. Im nächsten Augenblick fiel ihm die Unterhaltung mit Hedi ein.

„Warte“, sagte er, „also ich meine, lauf nicht weg, ich habe eine Idee und bin gleich wieder da.“

Malik ging nach draußen und suchte nach dem Pfleger. Der war zwar ziemlich genervt von seiner Bitte, fand dann aber doch in einer der Stationsschubladen noch einen alten Notizblock und einen Kugelschreiber. Zurück im Zimmer, setzte sich Malik wieder neben Suri, lockerte ihre Decke etwas und formte sie zu einer leichten Wölbung über ihrem Bauch, sodass sie und er verdeckt unter ihr schreiben konnten.

Da war er wieder, der strahlende Blick. Er sagte ihm, dass er richtig lag. Seine Schrift war verdammt krakelig, aber Suri schien keine Probleme beim Entziffern zu haben.

Hast du Angst vor der Firma?

Sie nickte und nahm ihm den Stift aus der Hand. Die Berührung verursachte ein Kribbeln in seinem Nacken.

Sie haben vor, die Menschen in ein Kontrollkorsett zu stecken, sie in Kasten einzuteilen und wie auf einem Schachbrett hin und her zu schieben.

„Was meinst du mit …?“ Suri legte ihre Hand auf seinen Mund. Er nahm den Kuli und schrieb.

Was ist mit den anderen Firmen, sie verfügen doch nicht über alle Daten?

Das ist nicht das Problem, sie ersticken in Informationen.

Suri schloss die Augen, rieb sich wieder den Nacken. Malik sah sie fragend an. Sie hatte offensichtlich Schmerzen. „Du solltest dich ausruhen“, flüsterte er. Sie schüttelte den Kopf, also schrieb er weiter.

Was wollen sie erreichen?

Menschen kontrollieren, manipulieren und sich bereichern.

Das ist jetzt nicht wirklich neu.

Suri lachte leise, dann fasste sie sich an die Stirn.

Nein, aber mit dem, was sie planen, können sie eine Menge anrichten, alles unter dem Deckmantel einer gerechten Ressourcenverteilung und des Erhalts der gesellschaftlichen Stabilität.

Planen?

Noch hat die Entwicklung Projektstatus.

Im nächsten Moment klopfte es an der Tür und sie zuckten zusammen. Suri drückte ihm den Notizblock in die Hand, den er sich hektisch in die Hosentasche schob. Die Tür ging auf und es kamen ein Paar sowie Hans Vidal herein.

Malik erkannte Suris Eltern. Sie waren um einiges älter als auf den Bildern, die er gesehen hatte.

„Oh, du hast Besuch!“ Alva Temme kam auf sie zu.

Malik streckte ihr die Hand entgegen, woraufhin sie einschlug. „Ich hoffe, wir stören nicht“, sagte sie.

Hans Vidal schnaubte.

„Guten Tag, Frau Temme, Malik Cerny“, sagte er und nickte. Als sie seine Rechte freigegeben hatte, begrüßte er auch Suris Vater kurz und kam sich dabei fürchterlich steif vor. Machte man das überhaupt noch so oder war das längst auch in diesen Kreisen verpönt?

„Äh, ich könnte den Pfleger fragen, ob es irgendwo Stühle gibt“, schlug er vor.

„Was wird das? Machst du hier auf Familie?“, sagte das Gepardenfrettchen leise, aber gut artikuliert, sodass es alle hören konnten. „Seit wann umgibst du dich mit Straftätern, Suri? Ich glaube, ich muss mir echt Sorgen machen.“

Suri schloss die Augen und kniff die Lippen zusammen.

Dieses unglaubliche Riesenarschloch, dachte Malik. Wie konnte deine Schwester nur? „Vermutlich, weil Sie Suri so ausgesprochen zuvorkommend bei der Arbeit behandeln, dass sie weder ein noch aus weiß vor Unterstützung und Wertschätzung“, sagte Malik mit einem kalten Lächeln. „Da hat sie sich in die Arme eines, Achtung, und da lege ich Wert drauf, S 100, gestürzt, um wieder etwas Luft holen zu können.“

Alva und Kai Temme sahen aus, als hätten sie gleichzeitig auf eine große Zitronenscheibe gebissen und würden nun den Tequila danach vermissen. Sie blickten von ihm zu Hans Vidal.

Das Gepardenfrettchen grinste, lachte, dann ging er unvermittelt auf Malik los, packte ihn am Pulli und schleuderte ihn gegen die Wand, sodass ihm kurz die Luft wegblieb. Alva Temme gab einen hohen Laut von sich, ihr Mann war mit zwei Schritten bei ihnen und drängte sich mit Unterarm und Ellenbogen zwischen sie. Malik spürte, dass Kai Temme durchaus noch Kraft hatte.

„Hans, Hans, hör sofort auf. Sofort!“, schrie er.

Suri hatte angefangen, zu husten, ihre Mutter ging zu ihr. Malik konnte noch erkennen, dass sie die Hände um ihren Kopf legte. Es wirkte so, als habe sie Angst, dass er ihr einfach davonflöge. Scheiße, kein Wunder bei diesem Chaos. Und Malik Cerny mittendrin. Er bekam ein hundsmiserabel schlechtes Gewissen. Riskierte hier eine Prügelei mit ihrem Familienhanswurst, obwohl es Suri einfach nur schlecht ging.

Malik riss die Arme hoch, schaffte es, sich aus Vidals Klammer zu lösen, und sagte laut: „Es tut mir leid, wirklich. Ich gehe jetzt ganz unauffällig.“

„Verdammt gute Idee“, zischte Vidal.

„Nein, Malik, bitte bl… “

Das, was wohl ein bleib hätte werden sollen, ging in einem Würgen unter. Dann erbrach sich Suri aufs Bett. Mehrfach. Ihre Mutter hielt sie und rief: „Bitte, Kai, drück den Alarm!“

Noch bevor ihr Mann ein panisches „wo?“ ausstieß, war Malik an ihm vorbei und legte seine Hand auf den Knopf über dem Bett an der Wand.

Unendlich viele Sekunden später waren zwei Medizinerinnen bei ihnen. Malik versuchte, nicht im Weg herumzustehen. Gleichzeitig wurde es seltsam ruhig um ihn herum. Es kam ihm so vor, als hätte sein vegetatives Nervensystem beschlossen, den Ton abzudrehen.

Die Ärztinnen schoben Suri im Bett nach draußen und verschwanden. Sie wurden auf dem Gang um die Ecke zwischen Kaffeeautomat, Highcontrollerladestation und Bänken abgestellt.

Malik saß auf einem an die Wand getackerten Plastikstuhl. Suris Eltern stand die Angst ins Gesicht geschrieben und Hans Vidal bekam seine Panik fast nicht mehr unter Kontrolle. Er telefonierte, lange, vermaß den Gang und schien dabei in sein Gerät zu kriechen.

Schließlich berichtete er umständlich von irgendeinem wichtigen, unvorhersehbaren Geschäftstermin, der sich nicht verschieben ließ, bat Kai Temme, ihn sofort anzurufen, wenn die Ärzte etwas sagen konnten. Dann spurtete er los.

Als die Tür zur Treppe hinter ihm zufiel, atmete Malik tief aus und sah die fast identisch ablaufende Bewegung bei Alva Temme, die zwei Meter entfernt von ihm auf einer Bank saß. Sie spürte seinen Blick und wandte den Kopf zu ihm. Alva grinste, dann lachte sie leise. „Wehe, Sie verraten mich.“

„Tue ich nicht.“ Malik lächelte. Kai Temme lehnte an der Wand. Auch sein Blick hatte nichts Ablehnendes mehr.

Aus dem Gang kam wie aus dem Nichts eine der beiden Ärztinnen auf sie zu. Alva Temme stand auf und ging zu ihrem Mann. „Bitte sagen Sie uns, was los ist, ich bin eine Kollegin.“

„Ihre Tochter hat neurologische Probleme, wir müssen noch verschiedene Möglichkeiten abklären.“

„Ist sie ansprechbar? Ich denke, es wäre gut, sie zu fragen, ob sie gestürzt ist oder irgendeinen Unfall hatte“, sagte ihre Mutter.

Doch die Ärztin schüttelte den Kopf.

„Was? Was heißt das? Sie ist nicht mehr bei Bewusstsein? Liegt sie im Koma?“, hakte Kai Temme nach.

Die Medizinerin nickte, dann schaute sie in seine Richtung.

Malik wurde kalt. Im Koma. Gerade hatte er doch noch mit ihr gesprochen. Er spürte den Notizblock in seiner Hosentasche. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

„Entschuldigen Sie die Frage, aber gehören Sie zur Familie?“, erkundigte sich die Ärztin.

„Nein, ich bin nur ein Bekannter“, sagte er.

„Ich möchte Sie bitten, das, was Sie hier mitbekommen haben, nicht nach außen zu tragen“, sagte sie. Ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten, forderte sie das Ehepaar auf, ihr in ein Besprechungszimmer zu folgen.

Alva und Kai Temme nickten ihm kurz zu und folgten der Medizinerin. Dann lag der Gang wieder still und menschenleer da. Malik war unglaublich kalt.

Die reiche Zukunft hat ein Double

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