Читать книгу Die reiche Zukunft hat ein Double - Christine Schick - Страница 5
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Wer hat denn hier Leute ausgekippt, schoss es Malik durch den Kopf. Normalerweise war niemand in seiner Straße anzutreffen, wenn er am Abend von der Schicht im Freizeitpark kam. Deshalb wohnte er ja in dieser Gegend. Er sah, wie sein Nachbar in Richtung einer Gruppe Jugendlicher schimpfte. Malik glaubte sich zu erinnern, dass sie das Haus gegenüber für ihre Treffen nutzte. Sechs Leute standen draußen vor dem Eingang.
„Verschwindet endlich. Wir wollen hier keine Elektro-Junkies!“, schrie der Alte herüber. „Miete zahlt ihr auch nicht.“ Sein Bademantel wirkte steif und fleckig, so als sei er seit Jahren nicht gewaschen worden.
Die Reaktion der Jugendlichen war abzusehen, dachte Malik, und interessierte ihn wenig. Es lief darauf hinaus, dass sich zwei unzufriedene Lager ineinander verkeilten. Er wollte nach Hause, die Tür hinter sich zumachen. Lesen, schlafen.
Der Kleinste in der Gruppe verdrehte wild die Augen, hatte Probleme, gerade zu stehen, hielt sich an seinem Kumpel fest. Ein dünnes, weißes Kabel hing ihm aus der Nase.
„Machen Sie sich doch nichts vor, alter Mann. Sie gehören auch zu den Abgehängten.“ Er spuckte die Worte förmlich über die Straße. „Wollen Sie mal nippen am neuronalen Cocktail? Aber ich befürchte, die Daten zu Ihrer Geschichte fallen zu spärlich aus. Partnerin, Kinder, ein Haustier? Nein? Deshalb sind Sie auch so mies drauf, hab ich recht?“
Der Alte machte eine resignierte Handbewegung, sah Malik genervt an, murmelte „Noch so ein Verrückter“, drehte sich um und verschwand in der Tür seiner Doppelhaushälfte. Malik wollte es ihm gleichtun und zog den Schlüssel aus der Tasche.
Gelächter drang zu ihm herüber. „Schaut mal, ein Höhlenmensch, der ist so arm, dass er sich noch nicht mal einen Highcontroller für sein Schloss leisten kann“, meinte der schlaksige Blonde, der seinen Kumpel immer noch stützte. Der lachte jetzt irre. Plötzlich fing der Jugendliche an, zu zucken, und kniff die Augen zu, als sei es ein Akt der Konzentration, den heranrollenden epileptischen Anfall abzuwehren.
„Scheiße, nicht schon wieder, Dragusch“, sagte der Blonde. Es klang genervt. „Du hast die Zeit wieder überschritten, das ist nicht in Ordnung und wir werden das nicht für dich ausbaden.“
Malik schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Als er sie wieder öffnete, löste sich die Gruppe von dem Jungen, der sich an einem rostigen Geländer festhielt, und ging die Straße in Richtung Unterdruckbahnstation hinunter.
„Das ist nicht euer Ernst. Die Negativpunkte im Sozialscore holt ihr nie wieder auf, wenn ihr euren Kumpel jetzt einfach hängen lasst“, rief Malik laut.
Keine Reaktion, die Karawane zog weiter. Der Jugendliche kauerte zuckend am Geländer, ließ los, rutschte die Stufen herunter, dann überschlug er sich.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, fluchte Malik und rannte los.
Der Junge lag jetzt auf dem Gehweg gekrümmt und hielt den Takt. Sein Gesicht war blutverschmiert, vermutlich hatte er sich auf die Zunge oder Lippe gebissen. Malik kniete sich zu ihm herunter, hielt den Arm zur Seite und drehte das Gesicht etwas zu sich. Er holte tief Luft, griff das Kabel und zog es mit einem Ruck heraus. Der Miniaturchip war ebenfalls blutverschmiert. Die Zuckungen wurden stärker und Malik hatte einige Mühe, dem Jungen das dazugehörige Gerät aus der Tasche zu ziehen, schaffte es dann aber doch. Auf dem 3-D-Wachsglas-Display stand: Die unendliche Reise ohne mich. Level 15.
Malik schnaubte und warf das Ding in den Vorgarten. Dann setzte er sich auf den Boden, legte den Kopf des Jungen so sanft wie möglich ab und suchte nach seinem Highcontroller. Dabei bemerkte er, wie feucht sich seine Hand anfühlte. Malik schaute nach. Sein Junkie hatte eine Platzwunde am Hinterkopf.
Von Weitem sah er eine Frau auf die Straße einbiegen. Malik winkte. „Hey, können Sie die Rettung rufen?“, rief er ihr entgegen, woraufhin die Angesprochene sofort kehrtmachte. „Himmel, was für ein krimineller Tag“, fluchte er vor sich hin. Endlich fand er sein Gerät und wählte zittrig die Nummer. Sein Körper stellte ihm Weglauf-Hormone zur Verfügung. Komm, reiß dich zusammen, sagte er sich, der Typ braucht Hilfe.
„Hey, du hast ja doch einen. Wieso denn dann der Schlüssel?“
Malik zuckte zusammen. Die Augen des Jugendlichen blickten ihn nicht unfreundlich an. „Du blutest, hattest einen epileptischen Anfall, ich hole die Rettung“, er hielt inne. „Wär nicht schlecht, wenn du in eine Klinik kommst. Entzug“, sagte Malik. Er sprach total abgehackt. Es waren die Aufregung und die ungewohnte Situation, abends überhaupt noch groß reden zu müssen. Normalerweise war er einfach nur für sich.
„Ich bin noch nie über einen Drohnenkontakt hinausgekommen, ich glaube nicht, dass sie mich nehmen“, sagte der Junge. Es klang verdammt resigniert.
„Werden wir ja sehen“, murmelte Malik und gab der Rettungszentrale durch, dass ein Verletzter im Nordend einen Wagen und eine Behandlung in einem Krankenhaus benötigte.
Der Jugendliche versuchte, hochzukommen, schob sich anderthalb Meter nach links, wo er sich an eine Steinmauer anlehnen konnte. Dann tastete er seine Taschen ab. Er sah Malik fragend an. „Wo ist mein Neurodreamer?“
„Auf dem Kompost“, sagte Malik.
„Kompost?“ Sein Gegenüber blinzelte, fuhr sich mit der Hand in den Nacken und stöhnte leise. „Könnte schlecht sein, wenn sie ihn finden. Kannst du ihn in der Kanalisation versenken?“
Malik nickte, stand auf, ging die Treppen hoch und suchte auf dem Rasen nach dem Gerät. Unter einer alten Buche entdeckte er es, lief hinters Haus und schaute sich nach einem Schacht oder Kanalgitter um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde er endlich fündig, warf Dreamer, Chip und Kabel nach unten und war erleichtert, ein Platschen zu hören. Das Wasser würde die Elektronik zerstören und das Zeug nicht wieder auffindbar machen. Ihn selbst hatte es noch nie gereizt, sich mit einem Neurodreamer die eigene Gedankenwelt aufzumischen und mit dem Neokortex Karussell zu fahren. Nicht, weil es illegal war und unter Strafe stand, sondern weil er besonders dort für sich bleiben wollte und keinen Wert darauf legte, seine grauen Zellen zu beschleunigen und in einem Multimediacocktail zu ertränken.
Als Malik wieder zurück am Haus war und auf seinen Junkie zusteuerte, nahm er das leise Surren der Drohnen wahr. Sein Blick verdüsterte sich. Er kam näher und registrierte die zwei unbemannten Sani-Flieger etwa einen halben Meter über dem Boden.
„Dragusch Winter“, sagte der Junge.
„Wie haben Sie sich die Verletzungen zugezogen?“, tönte eine Stimme aus der Drohne. Sie zog nach oben und aktivierte ihr Licht-Kommunikationssystem. Im hellgrauen Kegel kam Draguschs blutverschmiertes Gesicht gut zur Geltung.
„Hören Sie, Dragusch hatte einen epileptischen Anfall und ist gestürzt. Er muss in eine Klinik“, schaltete sich Malik ein.
Dragusch war auf seine Namensnennung hin zusammengezuckt, jetzt starrte er Malik an, was ihm unangenehm war. Es löste das Gefühl in ihm aus, als hätte er einen Kümmerervertrag unterschrieben. Er wollte ihn auch unterstützen, aber viel konnte er weiß Gott nicht für ihn tun.
Die andere Drohne stieg auf Augenhöhe. „Wie ist Ihr Name?“
Malik ignorierte die Frage. „Verbinden Sie mich mit dem nächstgelegenen Krankenhaus. Ich will mit jemand von der Notaufnahme sprechen.“
„Wie ist Ihr Name?“
Malik zog seinen Kommunikator und wählte erneut die Nummer der Rettung. Die Verbindung kam nicht zustande, dann verstand er. Die Drohnen verhinderten den Verbindungsaufbau seines Highcontrollers.
„Herr Cerny, lassen Sie uns bitte zuerst die Anamnese machen, dann schauen wir weiter.“ Malik wunderte es nicht, dass die automatisierten Rettungsflieger ihn per Gesichtserkennung nun datentechnisch auf dem Schirm hatten. Aber es regte ihn maßlos auf, dass sie überhaupt Energie damit verschwendeten, statt zu helfen.
„Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dieser Patient eine Platzwunde am Kopf hat, die stark blutet“, sagte Malik mit unterdrückter Wut. Er schloss die Augen, um den Impuls unter Kontrolle zu bekommen, nach dem Ding zu schlagen.
„Herr Winter, sind Sie in der Lage, aufzustehen und zu gehen?“
„Ich glaube nicht“, sagte Dragusch, „mir ist ziemlich schlecht.“ Seine Stimme war leiser geworden.
Die Drohne flog nah an ihn heran, das laute Surren bedeutete, dass sie Videosequenzen in hochauflösenden Bildern machte.
„Haben Sie sich mit elektrischen Impulsen neuronal stimuliert?“
„Nein“, sagte Dragusch. Er wirkte jetzt müde und abwesend.
„Haben Sie Familienangehörige oder Verwandte, die Sie hier abholen können?“
„Verstehen Sie das unter einer Anamnese?“, schrie Malik. Genau genommen war das irrational. Er wusste, dass im Inneren der Plastikgehäuse und Elektronik nur Softwareprogramme saßen. Und damit keine teure medizinische Betreuung eingefordert werden konnte, hatten die terroristischen Drohnen seine Verbindung nach draußen lahmgelegt. Alles lief auf die Simulation heraus, sich zu kümmern, aber das Gegenteil war der Fall. Hochflexible, intelligente Abwimmeltechnik könnte man auch sagen. Malik kannte sich auf dem Gebiet aus. Er sah auf seinen Highcontroller. Immer noch keine Freigabe. Wenn er nach Hause rannte und es vor den Drohnen schaffte, die Tür zuzuknallen, hatte er vielleicht eine Chance. Aber er wollte Dragusch jetzt nicht allein lassen.
Im nächsten Moment würgte der Jugendliche, drehte sich zur Seite und übergab sich. Die Drohne nahm Abstand.
Malik ballte die Faust, mit zittriger Stimme sagte er: „Wenn Sie nicht sofort Hilfe holen, sehe ich mich gezwungen, die Sache zu übernehmen.“
„Bitte beruhigen Sie sich. Wir sind verpflichtet, abzuwägen. Wenn Sie sich aufregen, verschlimmern Sie die Lage möglicherweise.“
„Hey, Malik, lass mal, schon gut.“ Dragusch hustete, dann wischte er sich über den Mund.
„Nichts ist gut“, sagte Malik, schaute ein letztes Mal auf sein Gerät, dann rief er: „Codebefehl 1002, abgesegnet von 0863, Autorisierung erteilt, keine Rückfrage nötig.“
Die beiden Drohnen bewegten sich von ihnen weg, zogen langsam auseinander, verharrten in einem Abstand von etwa zehn Metern in der Luft. Plötzlich beschleunigten sie, flogen direkt aufeinander zu, kollidierten und fielen krachend zu Boden.
Malik tippte sich durchs Menü, wartete, hörte, wie sein Blut in den Ohren pochte.
„Malik, was gibt’s?“
„Charlie, kannst du mir bitte von unserem Standort eine Verbindung zur der Kliniknotaufnahme machen, die am nächsten liegt?“
„Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, ich brauche Hilfe für einen Bekannten.“
„Alles klar, ich geh übers Friendsnet. Pass auf dich auf.“
„Danke.“
„Hallo, Rettungsleitstelle 14.“
„Das ist ein Notfall, ich habe hier jemand, der kurz vor einem zweiten epileptischen Anfall steht, sich beim Sturz schwer verletzt hat. Wir brauchen einen Wagen, sofort!“
Als Malik das Gespräch beendet hatte, registrierte er, wie Dragusch ihn anstarrte. Immerhin, er hatte aufgehört, zu spucken, und im Moment zuckte er auch nicht.
„Sie sind bestimmt gleich da“, meinte Malik.
„Was bist du? Ein Geheimagent? Ein Außerirdischer?“, fragte Dragusch. Er schien sich noch nicht 100-prozentig sicher, wie unheimlich ihm die Sache war. „Ich bin nur dein fucking Nachbar“, sagte Malik.
„Da sind die Sequenzen meines Neurodreamers ja Pipifax dagegen. Dich hätte ich mal in meine Synapsen einspielen sollen!“ Draguschs Lächeln erfasste seine Augen, dann lachte er leise.
Malik fühlte sich geschmeichelt, auch er lächelte.
Dann sah er den Krankenwagen kommen, gefolgt von einem Polizeiauto. Malik ahnte, was das bedeutete. Er war trotzdem froh, dass er die Drohnen vom Himmel geholt hatte.