Читать книгу Die reiche Zukunft hat ein Double - Christine Schick - Страница 11

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Malik konnte sich nicht erinnern, wie er zurück zum Freizeitpark gekommen war. Aber sein Autopilot schien noch zu funktionieren. Leidlich. Mit Blick auf die Halle wies er die Familien, Paare und Einzelbesucher ein, verteilte Anzüge und Brillen. Aber manche Gäste wurden ungeduldig, weil er in allem unglaublich langsam war.

„Fühlen Sie sich nicht gut?“, erkundigte sich eine Frau bei ihm.

Maliks Mund zuckte. Was sollte er seinem Gegenüber sagen? Wissen Sie, meine Wut und Traurigkeit liefern sich im Moment eine erbitterte Schlacht. Erstere hat gerade eine komplette Zahnreihe verloren, kann kaum noch sprechen, setzt aber umgekehrt ihrer Gegnerin so zu, dass die tränenlos und desorientiert im Ring hängt. Ich warte darauf, dass sich eine von beiden durchsetzt, gehe vermutlich aber vorher selbst zu Boden.

Tat er nicht. Stattdessen drangen Erinnerungen an seinen Vater an die Oberfläche. Der Sturz vom Gerüst, das panische Agieren, Hilfeholen, das Warten und die Besuche in der Klinik. Die Gewissheit, dass Leon Cerny auf Rollstuhl und Pflege angewiesen war. Malik konnte damals nicht mit Sicherheit sagen, wie viel sein Vater von den Streitigkeiten innerhalb der Familie mitbekam. Überzeugt aber war er davon, dass er sich durch den Selbstmord seinem unerträglichen Schicksal entzog. Warum hatte er sie im Stich gelassen, nicht weitergekämpft? Maliks Wut auf die Gesundheitsbehörden, die bei jeder Kleinigkeit Probleme machten, war damals unbeschreiblich groß gewesen. Als er es durch einen Trick endlich geschafft hatte, dass der Antrag für die etwas komfortableren Windeln bewilligt wurde, folgte das, was Malik als absolute Demütigung und zugleich Spitze der Seelenlosigkeit empfand. Die Software von Kronberg machte den Differenzbetrag durch die Großlieferung einer ganzen Palette von Windeln wieder wett. Datenbanken und Sachbearbeiter wussten, dass sie in großen Wohnwagen lebten. Das Bild von den völlig durchnässten, nicht mehr verwendbaren Pappboxen der Pflegeeinlagen, die auf einer Holzpalette neben ihrem Wohnmobil im Regen standen, brannte sich tief in Maliks Gedächtnis ein. Es war unzertrennlich mit dem langsamen Verschwinden und dem Suizid seines Vaters verbunden. Ich will so etwas nie wieder erleben, dachte er.

Nachdem er die letzten Besucher nach draußen gebeten und abgeschlossen hatte, ging er zum alten Riesenrad. Er schaltete es an, nahm die Fernbedienung, ließ sich von der zweiten Kabine die Beine weghebeln und nach oben tragen. Der Wind war kühl geworden und es roch nach Gras und feuchter Erde. Mitte März, eigentlich die allerschönste Zeit im Jahr. Er fühlte sich immer noch betäubt, aber seine Emotionen nahmen allmählich wieder Konturen an.

Eigentlich hätte er Suri den Park gerne gezeigt. Jetzt wusste er noch nicht mal, ob es ein Wiedersehen geben würde. Er stellte sich vor, dass sie neben ihm saß. Ihr Pony im Wind. Die tiefe Stimme, die so gar nicht zu ihrem zierlichen Körper passte. Dann zog er den Notizblock aus seiner Hosentasche und las im Schein der LED, die in die Armlehne des Sitzes integriert war.

Kasten, Schachbrett, Kontrolle, Projektstatus.

Sie war beunruhigt, vielleicht auch ein wenig empört gewesen. Wer war verantwortlich für ihren Zusammenbruch? Wie wahrscheinlich war es, dass die Firma nichts damit zu tun hatte? Und warum hatte sie sich ihn als Vertrauensperson ausgesucht? Es war noch nicht mal Zeit gewesen, ihr zu erzählen, dass auch er vom Fach war. Aber war das überhaupt wichtig?

Noch vor seinem Arbeitsantritt hatte er mit Charlie im Friendsnet gescherzt, dass sie sich bald ein wenig in der Firma umsehen konnten. Gedacht hatte er dabei an Informationen über unsaubere Standorte von Serverfarmen, Nicht-Einhaltung der CO2-Verordnungen und Ähnliches.

Jetzt stellte sich die Frage, ob er mutig genug war, nach einer umfassenderen Sauerei zu suchen. Hatten sie Suri etwas angetan? Konnte er ihr helfen?

Das war definitiv größenwahnsinnig in seiner Lage. Er war ein S 100, ein kleinkrimineller, geduldeter Helfer, der mit einem Bein im Knast stand. Die Mitarbeiter empfanden es vermutlich als wunderbar exotisch, dass der ihnen den Nachtisch reichte.

Aber im Gegensatz zu früher, als er mit zwölf Jahren in die Systeme eingedrungen war, hatte er nun ungleich mehr Erfahrung. Das wirklich Entscheidende aber war, dass er förmlich an der Quelle saß. Es nicht wenigstens zu versuchen, würde er im Nachhinein gegenüber Suri schwer rechtfertigen können. Wahnsinn war das trotzdem.

Sein Kopf sagte ihm, dass er sich hier gerade auf ein Kamikazeprojekt einschoss, sein Bauch, dass er nur so seine Traurigkeit und Wut in vernünftige Bahnen gelenkt bekam und in der Lage war, wieder einigermaßen zu funktionieren. Und er würde die Mischpoke um Hans Vidal nur weiter bedienen können, wenn er das Gefühl hatte, sie wenigstens dabei ausspionieren und so etwas tun zu können.

Als er Montagmorgen durchs Tor schritt, hatte er sich einen groben Plan zurechtgelegt. Am leichtesten würde er über Suris Highcontroller an Information kommen. Wenn er ihn geknackt bekam. Dabei sollte ihm Suris Kollegin Momoko helfen. Er hoffte, in den Gesprächen, Digitalprotokollen und Nachrichten einen Hinweis auf ihre Recherchen zu finden. Natürlich wollte er das Momoko Sandgruber nicht auf die Nase binden. Da er aber von seinem Besuch und sogar dem Kontakt zu den Eltern erzählen konnte, würde er die Basis einer gewissen Glaubwürdigkeit schaffen können. Er hatte auch vor, Suri den Apparat zu bringen, wenn auch nicht, bevor er selbst einen Blick auf die Nachrichten geworfen hatte. Schließlich musste er damit rechnen, dass er an der Pforte aufgehalten und der Kommunikator wieder einkassiert wurde.

Froh war er, dass er gefühlt bereits Routine dabei hatte, sein Analysetool in die Firma zu schleusen. Das würde ihm bei der Auslese gute Dienste tun. Auch bei Suris Gerät.

Der Vormittag verstrich im Schneckentempo. Als er mit Hedi an der Buffetfront Aufstellung nahm, musste er seinen Widerwillen unterdrücken. Er sah auf die mit Beeren und Kräutern verzierten Medaillons von Känguru und Wildgans, die er vor drei Tagen weder ge-, geschweige denn erkannt hätte. Wer nur eine Sekunde innehielt, musste doch eigentlich verstehen, wie absurd das hier war. Es widersprach allen Regeln der Vernunft. Sämtliche KI-Flotten rechneten ständig aus, wo wie viel CO2 einzusparen war und wie die Ressourcen gerechter und effektiver eingesetzt beziehungsweise verteilt werden konnten. Wieso schlugen die hier nicht Alarm? Er musste an Dragusch denken. Der hätte vermutlich sein letztes Knäckebrot für den Platz in einer Entzugsklinik gegeben. Das Einzige, was er bekam, waren eine gut überwachte Nichthilfe und ein Update für seinen Neurodreamer. Und Suri? Woran war sie gescheitert?

Momoko Sandgruber tauchte am Eingang auf. Malik betete, dass sie zu seiner Buffethälfte schlenderte. Er würde seine Überlegungen jetzt flott hintenanstellen und ihr so viel Känguru und Wildgans kurzbraten, wie sie maximal verdrücken konnte. Genialerweise schien sie allein zu sein. Kein Gerald Kronberg, kein Hans Vidal in Sicht. Malik verfolgte jede ihrer Bewegungen, ging ihr ein paar Schritte entgegen und lächelte sie an, als sie ihren Blick über die Vorspeisen wandern ließ.

„Sie entwickeln ja eine richtige Dienstleistungslust, wie mir scheint“, sagte Momoko Sandgruber schnippisch.

Malik musste grinsen. „Mir ist auch schon ganz schwindelig.“ Momoko Sandgrubers Schnoddrigkeit gefiel ihm. Er hoffte, dass er einen Draht zu ihr bekam. „Nach was ist Ihnen denn? Salat mit Lachscarpaccio oder was Gejagtes?“

„Ersteres hört sich gut an.“

Malik nahm einen großen, viereckigen Porzellanteller, trug den zart geschnittenen Fisch auf, dann Rucola, Postelein, Tomaten und schaute immer wieder zu Momoko Sandgruber, um das Stoppsignal registrieren zu können.

„Von der Sahne-Chilli-Sauce noch, bitte“, sagte sie. Jetzt war der entscheidende Moment gekommen. Noch hielt er ihren Teller fest.

„Ich habe eine Bitte, Frau Sandgruber“, sagte Malik, während er aus einer Glasflasche Vinaigrette über den Salat träufelte.

„Dachte ich mir doch, dass etwas hinter der neu entdeckten Haltung steckt.“

Malik sah sie ernst an, worauf Momoko Sandgruber die Augenbrauen hochzog.

„Ich habe Suri Temme am Wochenende im Krankenhaus besucht. Sie hat mir erzählt, dass sie neulich ihren privaten Highcontroller an ihrem Arbeitsplatz vergessen hat. Sie meinte, es wäre schön, ihr den zu bringen. Denken Sie, das wäre möglich? Ich würde sie morgen oder übermorgen wieder besuchen“, sagte Malik und holte Luft.

Er wurde nervös. Das war viel zu direkt, viel zu wenig diplomatisch-charmant formuliert. Momoko Sandgruber war der Typ, der auch ein bisschen unterhalten werden wollte. Zudem wurde ihm bewusst, wie seltsam es klang, dass der kleinkriminelle Küchenhelfer am Krankenbett der IT-Spezialistin sitzen wollte. Suris Kollegin hatte ja nichts von ihrer Annäherung mitbekommen. Oder doch? Suri war von Anfang an nett zu ihm gewesen.

„Ja, Mist, er lag noch auf ihrem Tisch. Ich hab das erst gemerkt, als ich vom Meeting kam, und ihn erst mal weggeschlossen. Aber, wenn sie jetzt private Anrufe machen will, ist das natürlich blöd“, sagte Momoko Sandgruber mehr zu sich als zu Malik. „Und Sie fahren demnächst in die Klinik …“, fragte sie und schaute auf sein Display, das Bart ihm besorgt hatte, „Herr Cerny?“

Malik nickte und überlegte fieberhaft, ob er seinem Gegenüber Suris Zustand andeuten sollte. Doch als er noch über eine vorsichtige Formulierung nachdachte, sagte Momoko Sandgruber zu seiner Überraschung auch schon: „Okay, passen Sie auf, ich hole das Ding kurz und Sie sichern mir meinen Salat.“

Malik lächelte. „Na klar.“ Wie auf heißen Kohlen bediente er weitere Mitarbeiter. Gerald Kronberg und ein asiatisch anmutender Gast sowie Hans Vidal betraten den Saal und er begann, innerlich zu fluchen. Malik sah die einzige Lösung darin, die Biege zu machen, um die Übergabe hinauszuzögern. Wenn er Glück hatte, waren die Männer in fünf Minuten in ihr Essen und ihre Gespräche vertieft.

Er spurtete zu Hedi, sagte leise mit deutlichen Lippenbewegungen, dass er unbedingt auf die Toilette müsse. Seine Kollegin nickte und zeigte mit der Hand in Richtung Tür, was wohl so viel hieß wie freie Bahn. Er nickte der Gruppe unmerklich zu, hatte die Handfläche schon an der Schwingtür, da hörte er, wie Momoko nach ihm rief.

„Malik, warten Sie, hier ist Suris Gerät!“

Er drehte sich langsam um. Malik lächelte, ging ein Stück um sie herum, um sie möglichst von den Blicken Vidals und Kronbergs abzuschirmen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Haben Sie vielen Dank“, sagte er und wollte den Highcontroller entgegennehmen und in seine Hosentasche stecken. In dem Moment schob sich Hans Vidal zwischen sie, packte seine Hand und hielt sie fest.

„Was soll das, Frau Sandgruber? Wie kommen Sie dazu, ihm Suris Kommunikator anzuvertrauen? Sind Sie verrückt?“, zischte das Gepardenfrettchen.

Momoko schüttelte den Kopf. „Völlig crazy, ja. Es ist Suris privater Highcontroller. Er bringt ihn Suri, wenn er sie in der Klinik besucht. Sie wollte ihn gerne haben.“

„Hat er das gesagt?“ Hans Vidal lächelte künstlich, dann wurde er wieder ernst. „Und was soll sie damit im Koma?“

„Was? Suri liegt im Koma? Wieso, was ist passiert?“ Momoko wirkte erschreckt, wandte sich nun Vidal zu.

„Ich hoffe, dass sie bald wieder aus dem Koma erwacht. Es gibt jedenfalls keinen Grund, ihr das Kommunikationsgerät nicht zu bringen“, sagte Malik. Die Aufforderung, sich Suri gegenüber trotz ihres Zustandes korrekt zu verhalten und gleichsam Zuversicht auszustrahlen, verfehlte ihre Wirkung nicht.

„Eigentlich sollte ich dich mit Klagen wegen Beleidigung überziehen“, sagte das Gepardenfrettchen. Offensichtlich hatte sich Hans Vidal heute mehr im Griff als noch am Wochenende. Zumindest machte er keine Anstalten, tätlich zu werden. Vielleicht scheute er auch das Publikum. „Sie werden ihm den Highcontroller nicht geben. Unser Kleinkrimineller will nur in ihren Privatsachen wühlen.“

„Warum um Himmels willen sollte ich das tun?“ Malik hoffte, dass es ehrlich klang.

„Weil du ein einsamer Soziopath bist.“

Malik verstand, dass er diese Runde nicht gewinnen konnte. Selbst wenn er ein Soziopath war, stand er nämlich einem noch viel größeren gegenüber. „Und Sie? Was sind Sie? Der Retter, der Suri beschützt?“ Er atmete schwer aus. „Dann beschützen Sie sie, bringen Sie ihr das Gerät. Aber ich werde sie weiterhin besuchen. Das können Sie mir nicht verbieten.“

Hans Vidal ignorierte ihn nun demonstrativ, drehte sich zu Momoko und streckte die Hand aus.

Ihre Augen verengten sich, sie steckte den Highcontroller in ihre Handtasche. „In welchem Krankenhaus liegt Suri?“

„Frau Sandgruber, seien Sie nicht albern.“ Er hielt die Hand immer noch ausgestreckt.

„Sie ist in der Arox-Klinik“, sagte Malik. „Ich hab nichts gesagt, weil die Ärztin mich gebeten hat, als Nichtfamilienmitglied nichts nach außen zu tragen. Ich war zufällig dabei, als sie ins Koma gefallen ist.“

Das Gepardenfrettchen schnaubte laut.

„Danke, können Sie mir noch meinen Salat geben?“, sagte Momoko zu Malik. Hans Vidal ging an der Buffetzeile nach oben und orderte bei Hedi.

Malik drehte sich um, öffnete den unteren Kühlschrank unter den Herdfeldern und reichte Suris Kollegin den Teller. Er versuchte, aus Momokos Blick herauszulesen, ob sie ihm nun misstraute. Er war sich nicht sicher. Aber im Grunde genommen konnte ihm das egal sein. Er musste einen anderen Weg finden, um an Information zu kommen.

Die reiche Zukunft hat ein Double

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