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Kapitel 8

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Charlotte mied es, in die Nähe des großen Kongresssaals zu kommen, in dem Professor Rehagen vor wenigen Stunden sein Leben ausgehaucht hatte. Sie verkniff es sich auch, nach Jankovich Ausschau zu halten. Sie wusste ohnehin nicht, ob der Kommissar noch hier war oder schon längst wieder im Präsidium. ‚Ist mir doch auch egal‘, dachte sie trotzig. Sie war wütend und frustriert. Sie war keinen Schritt weitergekommen und ihr Zeh brannte mittlerweile furchtbar. Charlotte lief in die nächste Toilette, die sie fand und zog ihren Pumps aus, um die schmerzende Blase zu betrachten. Erleichtert fiel ihr ein, dass sie stets ein Notfallkit bei sich trug, in dem sie auch zwei Pflaster aufbewahrte. Umständlich zog sie ihre Strumpfhose aus, um die Blase verarzten zu können. Dabei vermied sie es tunlichst, sich auf den Klodeckel zu setzen, weil ihr vor den Keimen darauf graute. Wackelig balancierte sie auf einem Bein, während sie mit den Fingern die Schutzhülle des Pflasters ablöste und die zwei Schutzstreifen ebenfalls entfernte. Dann klebte sie die rote und pochende Stelle an ihrem großen Zeh ab. Anschließend zog sie die Strumpfhose wieder an und schlüpfte widerwillig in ihren Schuh. Vorsichtig belastete sie den Fuß, und die Blase tat immer noch weh. Aber schon deutlich weniger als zuvor. Charlotte verließ seufzend die Kabine und stellte ihre Tasche am Waschtisch ab, während sie sich die Hände wusch. Als sie einen Blick in den Spiegel warf, war sie überrascht, dass ihr Gesicht nicht deutlicher zeigte, was sie heute alles erlebt hatte. Ihre Haare, die sie mit einem Lockenstab in Form gebracht hatte, waren dank Haarspray immer noch an Ort und Stelle. Und der Concealer tat sein Bestes, um ihre Augenringe abzudecken. Charlotte ließ den Blick zu ihrer Tasche gleiten und zog nach kurzem Überlegen ihren Notizblock hervor. Während hinter ihr die Tür zum Toilettenvorderraum auf und zu ging, überflog sie noch einmal die ersten beiden Punkte ihrer To-Do-Liste:

 Die letzten Stationen von Rehagen hier auf dem Kongress durchgehen

 Wer hat hier mit ihm gesprochen?

Charlotte musste sich eingestehen, dass sie bei keinem der Punkte weit gekommen war. Und die anderen Punkte konnte sie ebenso gut zuhause herausfinden:

 Wo und woran hat er gearbeitet (Lehrstuhl, Themen)?

 Wer könnte etwas gegen ihn haben? Feinde

Charlotte beschloss, nach Hause zu fahren. Für einen Kongressbericht hatte sie nun ohnehin kein Material. ‚Da hat Richling jetzt halt Pech gehabt‘, dachte sie trotzig. Sie hängte sich ihre Tasche um und steuerte auf die Garderobe zu, um ihren Mantel zu holen und den Heimweg anzutreten.

Auf dem Weg zurück ins Präsidium wählte Jankovich noch im Auto die Telefonnummer seiner Freundin. Das Freizeichen ertönte über seine Sprechanlage. Nach ein paar Mal Tuten nahm Ruth ab. „Ja, hallo?“, fragte sie in angespanntem Tonfall. „Hi Ruth, ich bin’s.“ „Ach, hallo“, kam es unterkühlt zurück. „Ja. Hör zu, tut mir leid, dass ich dich alleine gelassen habe. Aber so wie es aussieht, haben wir wahrscheinlich wieder einen Mord. Ich fahr jetzt ins Präsidium. Aber ich komme später heim und wenn du Lust hast, essen wir einfach gemeinsam zu Abend. Ich lade dich natürlich ein – um das verpasste Frühstück wiedergutzumachen. Was hältst du davon?“ Schweigen in der Leitung. Dann erwiderte Ruth: „Ich weiß nicht Paul, nachher dauert’s wieder länger und dann versetzt du mich gleich zweimal an einem Tag. Ehrlich gesagt habe ich darauf keine Lust.“ Jankovich konnte sich nicht verkneifen, nachzuhaken: „Auf mich oder auf das Abendessen?“ Genervt erwiderte sie: „Darauf, von dir versetzt zu werden. Das weißt du auch genau. Also frag bitte nicht.“ Jankovich blinzelte irritiert, dann setzte er den Blinker und wechselte die Spur. „Bitte Ruth, ich versprech‘s dir. Ich bin gegen 18 Uhr zuhause und dann gehen wir schön gemütlich was essen. Ok?“ Mit deutlich hörbarem Widerwillen antwortete sie: „Ja, gut, ich warte hier. Ich wollte eh noch ein Firmenkonzept an meinem PC ausarbeiten.“ Erleichtert verabschiedete sich Jankovich. Allerdings fragte er sich nur Sekunden später, warum dieses Gespräch so verlaufen war. Er hatte Ruth in den letzten Wochen zwar einige Male versetzen müssen, aber er hatte von Anfang an die Karten auf den Tisch gelegt: Als Kommissar konnte er sich nicht immer an die üblichen Bürozeiten halten, das hatte er Ruth klar gesagt. Und sie hatte bislang immer Verständnis gezeigt. Außerdem war sie als Unternehmensberaterin selbst ständig unterwegs und hatte auswärtige Termine. Doch Ruth schien sich zunehmend weniger damit abzufinden, dass Jankovichs Beruf ihn so sehr forderte. ‚Ob sie langsam ihre Toleranzgrenze erreicht hat?‘, fragte sich Jankovich und bemerkte, dass sich Frust in ihm ausbreitete. Er beschloss, nicht während der Autofahrt darüber nachzudenken. Jankovich konzentrierte sich lieber auf den Verkehr, bis er das Präsidium erreichte. Als er auf dem Parkplatz ausrollte, fiel ihm Charlotte Bienert wieder ein. Unwillkürlich verzog er die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Unglaublich, dass sie schon wieder eine Leiche gefunden hatte. ‚Naja, nicht gefunden‘, korrigierte er sich. Er stieg aus und steuerte auf den Eingang des Präsidiums zu. Er würde sich nun erstmal dem Hintergrundcheck über das Leben und Arbeiten des Toten widmen. Bis um 18 Uhr hatte Ruth sich bestimmt beruhigt und sie würden trotz des verpatzten Morgens ein schönes Abendessen genießen. Das zumindest redete Jankovich sich ein.

Als Charlotte in der U-Bahn saß und ihre Wohnung ansteuerte, zog sie ihr Handy hervor. Sie sah auf dem Display, dass Max dreimal versucht hatte, sie zu erreichen. ‚Oh Gott, den hab ich ja völlig vergessen‘, dachte Charlotte mit schlechtem Gewissen und wählte sofort die Nummer ihres besten Freundes. Nach dem zweiten Klingeln war Max dran. Offenbar hatte er nur darauf gewartet, dass sie zurückrief. „Ja hi, meine Süße“, schallte es fröhlich aus dem Hörer. Charlotte musste lächeln. „Aha, wie ich sehe bist du wieder bei Himmelhoch jauchzend angekommen?“ Max schnaubte empört. „Pff, als ob ich davor zu Tode betrübt gewesen wäre“, erwiderte er. „Najaaa...“, sagte Charlotte gedehnt. „Jaja, geschenkt“, fiel ihr Max ins Wort. „Also, mein lieber Freund hat sich bei mir entschuldigt. Hat gesagt, es tue ihm entsetzlich leid, dass er mich so eiskalt abserviert hat. Und dass er es total bereut und auf jeden Fall weiter mit mir zusammenbleiben möchte. Ich sag dir Charlotte, dieser Mann treibt mich noch in den Wahnsinn“, sagte Max in verräterisch schwärmenden Tonfall. „Ja, ich kann es mir vorstellen“, antwortete Charlotte trocken. „Also hast du ihn angerufen?“ Max sagte: „Ja, hab ich. Du hattest mal wieder recht. Wie immer“, schleimte er. „Ach komm, hör auf“, sagte Charlotte. Max verstummte einen Augenblick, dann wurde sein Ton ernst. „Sag mal Charlotte, was ist passiert? Ich höre doch, dass was nicht stimmt.“ Charlotte schnaubte. ‚Verdammt, er kennt mich einfach zu gut‘, dachte sie. Dann sagte sie so leise wie möglich, um die anderen Fahrgäste nicht an ihrem Gespräch teilhaben zu lassen: „Also ob du’s glaubst oder nicht, ich habe... Kommissar Jankovich wieder getroffen.“ Entsetzt kreischte Max in den Hörer: „Du hast schon wieder eine Leiche gefunden?“

Mord auf Kongress

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