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Kapitel 3

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Charlotte saß im großen Vortragssaal in der dritten Reihe von vorne. In wenigen Minuten sollte der Highlight-Vortrag losgehen. Im Raum wurde es zunehmend voller und Charlotte war froh, sich einen Platz am Gang gesichert zu haben. So würde sie nach dem Vortrag schnell wieder verschwinden können. Charlotte packte ihre Kamera aus. Sie nahm die Redaktionskamera immer zu Kongressen mit, um die Folien abzufotografieren. So konnte sie ihre Kongressberichte im Anschluss mithilfe dieser Gedächtnisstütze schreiben. Sie warf einen Blick über die Schulter: Etwa 200 Zuschauer hatten sich in den Sitzreihen verteilt. Charlotte tippte auf viele Doktoranden und Universitätsmitarbeiter – die breite Allgemeinheit durfte sich ohnehin nicht zur Jahrestagung anmelden. ‚Das macht aber eh keiner freiwillig‘, überlegte Charlotte schnippisch. Als sie sich wieder nach vorne zum Rednerpult drehte, hielt sie einen Augenblick in der Bewegung inne.

Der hochgewachsene Mann, der nun selbstbewusst zum Mikrofon am Stehpult zusteuerte, war derselbe Mann, der in der Medienannahme beinahe mit ihr zusammengeprallt wäre. ‚So sieht man sich wieder‘, dachte Charlotte. ‚Das ist also Professor Günther Rehagen.‘ Der autoritäre Mittfünfziger fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, mit der anderen tippte er auf einem Laptop herum, der oben auf dem Rednerpult stand. Prompt erschien ein Bild auf der Leinwand hinter Rehagen. Darauf standen sein Name, sein Institut und die Namen der von ihm geleiteten Arbeitsgruppenmitglieder. Das Gemurmel im Saal verstummte umgehend und der Professor räusperte sich. Dann begann er mit demonstrativem Lächeln seinen Vortrag. Mit lauter, sonorer Stimme tönte er ins Mikrofon: „Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich freue mich, dass ich heute mit dem Highlight-Vortrag zu Ihnen sprechen darf. Das ist mir eine große Freude und Ehre, und ich verspreche Ihnen nicht zu viel, wenn ich Ihnen sage: Das wird spannend.“ Er machte eine Kunstpause und einige der Zuschauer lachten höflich. Charlotte richtete ihre Kamera auf die Leinwand hinter Rehagen, um seine erste Folie abzufotografieren. Als sie die Kamera wieder herunternahm und auf den Professor blickte, blinzelte sie irritiert. ‚Irgendwas stimmt da nicht‘, dachte sie und glaubte, einen Wandel in Rehagens Gesicht zu bemerken. Eben noch hatte er souverän gewirkt und den Vortrag mit routinierter Leichtigkeit begonnen. Doch auf einmal wirkte er angespannt. Rehagen runzelte die Stirn und griff sich an die Krawatte. Er bewegte den Knoten ein wenig von links nach rechts. Doch dann betätigte Rehagen erneut eine Taste an seinem Laptop und die nächste Folie erschien auf der Leinwand: Ein skelettierter Fischkopf mit weit aufgerissenem Maul war zu sehen. Charlotte drückte wieder den Auslöser ihrer Kamera. Währenddessen sprach Rehagen: „Das ist eine computertomografische Aufnahme des Säbelzahn-Schleimfisches. Dieser Fisch wird die Zukunft der Schmerztherapie revolutionieren. Das gebe ich Ihnen schriftlich.“ Wieder machte er eine Pause, aber diesmal lachte niemand mehr. Mittlerweile war weit über Charlottes Sitzreihe hinaus zu erkennen, dass Rehagen merklich angespannt war. Er griff wieder nach seiner Krawatte und lockerte jetzt den Knoten. Dann stützte er sich mit beiden Händen am Rednerpult ab. Charlottes ungutes Gefühl verstärkte sich. ‚Oh Gott, gleich passiert was‘, schoss es ihr durch den Kopf. Rehagen schien schwerer zu atmen, öffnete jedoch immer wieder den Mund, um weiterzusprechen. Doch es kamen keine Worte mehr heraus. Stattdessen sah Rehagen mit starrem, beinahe verwundertem Blick ins Publikum und dann auf seine Hände. Ein Instinkt veranlasste Charlotte, erneut auf den Auslöser ihrer Kamera zu drücken. Diesmal jedoch fotografierte sie nicht mehr die Leinwand. Sie machte ein Bild vom Professor, der immer noch verständnislos auf seine Hände starrte. Rehagen stieß mit gepresster Stimme hervor: „Ich... ich... es tut mir leid, ich glaube, ich muss hier kurz abbrechen. Mir geht es irgendwie...“, er brach abrupt ab. Ohne einen Laut von sich zu geben, glitt er unkontrolliert zu Boden.

Einige überraschte Schreie hallten durch den Saal. Dann herrschte sekundenlang Schockstarre und es war totenstill im Raum. Nach wenigen Augenblicken gellten schließlich aufgeregte Rufe durch den Kongressaal, und einer der Zuschauer rief laut: „Rufen Sie einen Krankenwagen!“ Charlotte starrte wie gebannt auf Rehagen. Sie sah, wie er im Gesicht puterrot anlief und sich sein ganzer Körper auf dem Boden krümmte. Mit verzweifelt verzerrter Miene griff sich Rehagen mit beiden Händen an seinen Hals. Erste Helfer rannten bereits auf die Bühne und Charlotte sah noch, wie ein Ausdruck größter Panik Rehagens Gesicht überschattete. Dann versperrte ihr einer der Helfer die Sicht, als er sich über den Professor beugte. Im Kongresssaal wurde es zunehmend unruhig. Plötzlich hörte man verschiedene Stimmen rufen: „Bitte verlassen Sie den Saal. Sanitäter sind auf dem Weg. Der Notarzt ist gleich da.“ Offenbar war die Kongressorganisation in Aktion getreten. Charlotte sah, dass die Personen, die durch die Gänge liefen und die Aufforderung nun laut und deutlich wiederholten, allesamt schwarze Poloshirts trugen. Darauf war das Emblem des Kongresszentrums aufgedruckt. Für viele Kongressbesucher kam die Aufforderung, den Saal zu räumen, offenbar sehr gelegen. Sie strömten bereitwillig auf die verschiedenen Ausgänge zu. Charlotte stand mit klopfendem Herzen im Gang und sah apathisch den Leuten nach, die aus dem Raum liefen. Sie selbst rührte sich nicht. Sie begriff immer noch nicht, was soeben passiert war. Doch aus irgendeinem Grund schloss sie sich nicht den Leuten an, die den Saal verließen. Als einer der Poloshirt-Träger auf sie zusteuerte, um sie aus dem Raum zu lotsen, setzte Charlotte sich in Bewegung. Doch statt ebenfalls zu den Ausgängen, lief Charlotte auf die Bühne und das Rednerpult zu. Undeutlich hörte sie, wie der Kongressmitarbeiter etwas hinter ihr herrief. Doch Charlotte ignorierte es. Als sie sich der kleinen Menschenmenge auf der Bühne näherte, sah sie, wie einige der Helfer dem Professor die Krawatte abgenommen und die obersten Hemdknöpfe geöffnet hatten. Einer der Helfer kniete direkt neben dem Kopf des Professors, der nun mit weit aufgerissenen Augen dalag. Ein anderer, etwa 50-jähriger Mann mit Glatze hielt zwei Finger an die Halsschlagader des Professors. Mit panischem Blick sagte er: „Kein Puls, ich spür nichts mehr.“ Entsetzt schüttelte er den Kopf und sagte: „Aber das kann doch nicht sein, an ‘nem Herzinfarkt stirbt man nicht so schnell.“ Der Glatzkopf begann nun hektisch mit einer Herzmassage. „Geben Sie ihm Mund zu Mund Beatmung!“, rief er dem Mann zu, der am Kopf des Professors hockte. Nach kurzem Zögern begann dieser, dem Zuruf Folge zu leisten. Gemeinsam versuchten die beiden Männer, den Professor wieder zum Atmen zu bringen. Die Minuten vergingen, und Charlotte stand wie angewurzelt da, unfähig sich zu bewegen oder zu agieren. Auch die anderen Kongressbesucher, die auf der Bühne beim Professor standen, starrten wie benommen auf die zwei Männer, die sich an dem leblosen Körper abmühten. Dann nahm Charlotte eine Bewegung vom Saalende aus wahr und sah hoch.

Zwei Sanitäter in orangeroten Hosen und weißen Pullovern stürmten auf die Bühne zu. Einer der beiden trug einen großen Koffer bei sich, der andere einen mobilen Defibrillator. Als sie hastig die wenigen Treppenstufen erklommen hatten, schob der Sanitäter mit dem Koffer Charlotte unsanft zur Seite, um an den Professor zu kommen. Auch die anderen beiden Helfer, die neben Rehagen gehockt hatten, machten den Sanitätern Platz. „Ich bin Tierarzt, ich hab versucht, ihn wiederzubeleben“, stieß der Mittfünfziger mit Glatze hervor, während er schwer atmend zur Seite wich. Umgehend klappte der erste Sanitäter seinen Koffer auf, holte eine Schere hervor und begann mit harschen Bewegungen, Rehagens Hemd aufzuschneiden. Wie bei einem eingespielten Team löste der zweite Sanitäter die zwei Elektropads vom Defibrillator und hielt sie seinem Kollegen hin. Dieser nahm die Pads und klebte sie an die Brust des Professors. Sein Kollege sah auf den kleinen, blinkenden Monitor am Defibrillator und presste nach ein paar Augenblicken die Lippen zu einem schmalen Strich: „Kein Rhythmus, wir können nicht schocken.“ Der Angesprochene verzog das Gesicht kurz zu einem verärgerten Ausdruck, dann fischte er schnell eine Beatmungsmaske aus dem Koffer und hielt sie seinem Kollegen hin. Dieser hockte sich mit dem Beutel neben den Kopf des Professors und begann, ihn mit kräftigen Pumpbewegungen zu beatmen. Währenddessen zog der erste Sanitäter eine Spritze mit langer Kanüle aus dem Koffer hervor, und zog mit ruhiger Hand den Inhalt einer gläsernen Ampulle auf. Dann befühlte er den Brustkorb Rehagens und legte Zeige- und Mittelfinger der freien Hand auf die beiden Rippen in Herzhöhe. Zu Charlottes Entsetzen stach der Sanitäter anschließend mit einer beherzten Bewegung die Spritze direkt durch den Brustkorb Rehagens dorthin, wo sein Herz sein musste, und drückte den Kolben der Spritze durch. Anschließend tastete er mit zwei Fingern nach dem Puls des Professors, doch Charlotte erkannte anhand seiner steinernen Miene, dass das Herz immer noch nicht schlug. Während sein Kollege mit der Atemmaske weiter versuchte, Luft in die Lungen des Professors zu pumpen, entschied sich der erste Sanitäter dafür, die Herzmassage fortzusetzen. Immer wieder setzte er kurz ab und suchte nach dem Puls des leblosen Mannes. Schließlich, es kam Charlotte wie eine Ewigkeit vor, tauschten beiden Sanitäter einen knappen Blick aus. Derjenige, der bis eben noch die Herzmassage durchgeführt hatte, ließ nun davon ab. Er schüttelte den Kopf und setzte sich erschöpft auf seinen Fersen ab. Dabei ließ er seine Arme in einer endgültigen Geste in seinen Schoß sinken.

Charlotte spürte, wie ihr das Herz tiefer sackte. Sie begriff. Rehagen war tot. Er war vor ihren Augen gestorben. Eine Welle von Trauer und Fassungslosigkeit erfasste Charlotte. Obwohl sie ihn nicht gekannt hatte. Obwohl sie ihn nicht mal gemocht hatte – trotzdem war hier gerade ein Mensch gestorben. Und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich schuldig. Schuldig, dass sie nicht hatte helfen können. Charlotte spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Doch mitten im Gefühlschaos kam noch etwas anderes in ihrem Bewusstsein auf. Ein Impuls. Charlotte wollte nach dem Handy greifen und jemanden anrufen. Und dieser Jemand war Kriminalhauptkommissar Jankovich.

Mord auf Kongress

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