Читать книгу Mord auf Kongress - Christine Zilinski - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеAls Charlotte auf das Pressebüro zusteuerte, war sie so in Gedanken versunken, dass sie ihren schmerzenden Zeh gar nicht mehr bemerkte. ‚Schon wieder ein Toter. Wieso muss mir das eigentlich immer passieren?‘, dachte sie frustriert. Sollte Jankovich etwa damit Recht haben, dass das bei ihr langsam zur Gewohnheit wurde? Zynisch überlegte sie: ‚Mal ehrlich, wie oft stolpert man im Leben schon über eine Leiche?‘. Dann atmete sie tief durch und schloss für einen Augenblick die Augen. Beim Gedanken an Jankovich dachte Charlotte daran, wie vertraut ihr sein Anblick vorgekommen war, sobald er im Kongressaal aufgetaucht war: Die große, schlanke Statur, die blonden Haare und die tiefgründigen blauen Augen, die sie besorgt gemustert hatten. Obwohl Charlotte ein schlechtes Gewissen hatte, dass sie ihn angerufen hatte, war sie doch erleichtert, dass er tatsächlich gekommen war. ‚Bestimmt hatte er heute eigentlich was anderes vor‘, dachte sie schuldbewusst. ‚Aber warum hast du ihn dann angerufen?‘, fragte eine Stimme in ihrem Kopf. ‚Weil er dir als Erstes eingefallen ist‘, folgte prompt die Antwort. Unvermittelt tauchten vor Charlottes innerem Auge die Bilder von ihrem letzten Abschied von Jankovich auf. Noch vor wenigen Wochen, nach ihrem letzten Mordfall, hatten sie sich auf dem sonnenbeschienenen Hof des Polizeipräsidiums verabschiedet: „Also, dann heißt es jetzt wohl... Auf Wiedersehen?“, hatte Charlotte Jankovich gefragt. Und er hatte nach kurzem Zögern geantwortet: „Auf Wiedersehen, Frau Bienert.“ Unwillkürlich musste Charlotte lächeln, als sie daran dachte. Als sie nun vor dem Pressebüro stehenblieb und ihr Blick auf die benachbarte Medienannahme fiel, gefror ihr Lächeln. ‚Schon Wahnsinn, dass ich hier fast noch mit Rehagen zusammengestoßen wäre‘, dachte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Sie schüttelte den Gedanken ab und drehte sich abrupt in Richtung Pressebüro.
Und in diesem Augenblick stieß sie tatsächlich mit jemandem zusammen. „Hoppla, Vorsicht“, hörte Charlotte noch. Doch diesmal klang das weniger wütend als bei Professor Rehagen. Charlotte blickte auf. Vor ihr stand ein junger Mann, der etwa gleich alt war wie sie. Er hatte freundliche, braune Augen und einen blondgelockten Schopf. Ihm hingen einige Strähnen locker in die Stirn, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh. Der junge Mann wich einen Schritt zurück, sah Charlotte dabei aber freundlich und beinahe besorgt an. „Alles ok bei dir?“, fragte er sie jetzt. Charlotte starrte ihn perplex aus großen Augen an und stammelte: „Oh Gott, sorry, tut mir leid. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass ich heute mit jemandem kollidiere...“. Ihr Gegenüber lächelte jetzt: „Na, dann hast du dein Soll für heute ja erfüllt“, sagte er. Charlotte warf einen Blick auf das Badge, den er um seinen Hals trug. „Johannes Rebitschek, Großmann Verlag“ stand darauf. „Ach, du bist auch von der Presse?“, fragte Charlotte. Der junge Journalist blickte nun auch auf das Badge mit ihrem Namen und nickte, immer noch lächelnd. „Ja. Aber sag mal, Charlotte... schöner Name übrigens“, schob er ein und Charlotte schoss augenblicklich Blut in die Wangen. „Was ist denn eigentlich drüben beim großen Vortragssaal los? Ich hab mich ein wenig verspätet und wollte noch rein. Aber man hat mich nicht mehr reingelassen. Als ich hier beim Pressebüro ankam, meinten die, es hätte einen Todesfall gegeben. Stimmt das?“ Charlotte zögerte, dann nickte sie. Langsam antwortete sie: „Ähm ja... der Professor Rehagen ist... umgefallen. Also, zusammengebrochen, das trifft‘s wohl eher. Er ist... tot.“ Sie schluckte und zog sich unbewusst ihre Tasche vor die Brust, als könnte sie sich damit vor einem Angriff schützen. Jetzt riss ihr Gegenüber die Augen auf. „Krass, der Rehagen ist tot? Junge, junge, heftig.“ Als er Charlottes Gesicht musterte, fragte er besorgt: „Oh Gott, warst du etwa dabei?“ Charlotte nickte zaghaft. „Ja, naja... ich saß im Raum. Und habe es mitbekommen. Leider.“ Johannes Rebitschek streckte einen Arm nach ihr aus und berührte sie kurz an der Schulter. „Oh Gott, du Arme. Hey... komm‘, setzen wir uns kurz ins Pressebüro, was meinst du? Ich glaube du könntest eine Cola für den Kreislauf vertragen.“ Charlotte war irritiert über die Berührung, aber sagte: „Meinetwegen... gern. Ich soll eh da warten.“ Verwundert schob der junge Mann seine Augenbrauen zusammen: „Du sollst da warten? Wieso? Auf wen?“ Verlegen erwiderte Charlotte: „Auf den diensthabenden Kommissar. Der wollte mit mir sprechen. Weil ich doch ziemlich weit vorne saß, als es passiert ist“, flunkerte sie. Charlotte wollte ihrer neuen Bekanntschaft nicht erklären, dass sie diejenige war, die Jankovich angerufen hatte.
Charlotte setzte sich im Pressebüro in einen Sessel, der zu einer abseitigen Sitzgruppe gehörte. An den Tischen im Raum saßen einige Journalisten, die auf ihren Laptops schrieben oder sich unterhielten. Johannes brachte ihr eine Cola und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. „Also, wie war das mit Rehagen? Was ist da passiert?“ Doch Charlotte hatte keine Lust, sich Details über den Todesfall aus der Nase ziehen zu lassen. Stattdessen lenkte sie das Gespräch lieber auf ihre Arbeit und weshalb Richling sie zum Kongress geschickt hatte. „Witzig, dass dein Chef auch so eigen ist“, sagte Johannes. „Meine Chefin ist auch ziemlich ehrgeizig. Schickt mich schon ganz gerne in der Weltgeschichte rum, um die großen Kongresse mitzunehmen. Aber das finde ich auch in Ordnung, ich will ja auch nicht ewig in der Provinz bleiben. Berlin wär ja mein Traum, am liebsten natürlich die B.Z.“, fügte er lässig hinzu. Charlotte zuckte nur die Schultern. Sie hatte bislang noch kaum darüber nachgedacht, ob sie jemals von der Weinstadt Woche zu einer anderen, größeren Redaktion wechseln sollte. Auch kam ihr Stuttgart nicht direkt provinziell vor. Doch statt etwas zu erwidern, trank Charlotte ihr Glas aus. Johannes beugte sich über den Tisch und fragte: „Kann ich dir noch was bringen?“ Charlotte war es unangenehm, dass er sie so fürsorglich behandelte. Schließlich kannten sie sich ja kaum. Sie sagte: „Ähm, nein, vielen Dank. Aber... ich will dich hier auch nicht weiter aufhalten. Also, wenn du noch was vorhast, dann lass dich von mir nicht aufhalten“, sagte sie mit einem verhaltenen Lächeln. Johannes tat empört: „Na, hör mal, das hört sich ja fast so an, als wölltest du mich loswerden! Ob du’s glaubst oder nicht, ich unterhalte mich gerne mit dir“, sagte er und grinste sie breit an. Wieder wurde Charlotte rot. Sie nickte zaghaft, dann sagte sie: „Ja also, wenn das so ist... dann würde ich glaube ich ein Wasser nehmen. Aber das kann ich mir auch selber holen“, sagte sie und machte Anstalten, aufzustehen. Doch Johannes war bereits aufgesprungen und schnappte sich ihr Glas. „Bleib sitzen, ich hol dir das Wasser. Schließlich musst du ja erstmal einen Schock verdauen.“ Und schon setzte er sich in Richtung Getränketheke in Bewegung. Charlotte seufzte und ließ sich mit dem Rücken gegen die Sessellehne fallen. Dann schloss sie kurz die Augen und rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht. Sie wollte endlich alleine sein, um wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Und sie wollte die Erlebnisse der letzten Stunden einmal Revue passieren lassen, um besser zu verstehen, was passiert war. Doch sobald sie die Augen geschlossen hatte, spürte sie, wie eine bleierne Müdigkeit sie ergriff, und Charlotte ließ den Kopf für einen Augenblick gegen die Lehne des Sessels fallen.
Kaum hatte ihr Kopf das Polster berührt, tönte plötzlich eine vertraute Stimme an ihr Ohr: „Wie ich sehe, kümmert sich schon jemand um sie“, sagte Jankovich. Charlotte schlug die Augen auf und sah Jankovich über sich stehen. Der Kommissar war hereingekommen und direkt neben ihrem Sessel stehen geblieben, ohne dass sie es bemerkt hatte. Charlotte riss den Kopf wieder hoch. Sie überkam das Gefühl, als wäre sie Jankovich eine Rechtfertigung schuldig und stammelte: „Ich... ich... wäre fast mit ihm zusammengestoßen. Und daraufhin hat er mich... Er ist nämlich schon der zweite, wissen Sie, ich wäre ja heute schon fast mit diesem Rehagen kollidiert.“ Charlotte brach ab, als Johannes neben Jankovich an ihrem Sessel auftauchte. Und sofort bereute sie ihr Gestammel. „Guten Tag“, sagte Johannes höflich zu Jankovich. „Sie müssen der Kommissar sein, der mit Charlotte sprechen wollte.“ Jankovich musterte ihn mit unverhohlener Abneigung. Er erwiderte: „Ja, der bin ich. Und Sie sind?“ Mit einem Lächeln hielt Johannes Rebitschek dem Kommissar seine Hand entgegen und stellte sich vor. „Ich bin ein Kollege von Charlotte, wie sich rausgestellt hat. Ich wollte sie nicht alleine lassen, nachdem sie mich fast überrannt hat. Sie hat den Eindruck gemacht, als ginge es ihr nicht gut“, erklärte er ungefragt, obwohl Charlotte direkt daneben saß. Nachdem Jankovich seine Hand wieder losgelassen hatte, schien Johannes wieder einzufallen, wieso er weggegangen war. Er reichte Charlotte das Wasserglas, das er in der anderen Hand gehalten hatte, und sagte locker: „Na, dann unterhaltet ihr euch erstmal. Ich mach mich mal auf den Weg und gehe noch in ein paar Vorträge rein.“ Er beugte sich neben den anderen Sessel, in dem er zuvor gesessen hatte und griff nach seiner Tasche. „Bevor ich‘s vergesse“, sagte er und begann, in seiner Tasche nach etwas zu suchen. Er holte eine Visitenkarte hervor und hielt sie Charlotte entgegen. „Hier, falls du mich mal anrufen willst oder einfach mal Lust auf einen Kaffee hast“, sagte er lächelnd. Charlotte griff reflexartig nach der Karte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen erneut röteten, doch sie schaffte es, Johannes unter Jankovichs bohrendem Blick freundlich zuzunicken. Leise sagte sie: „Danke, das mach ich vielleicht.“ Johannes erwiderte ihr Lächeln, hob zum Abschied kurz die Hand und drehte sich dann um.