Читать книгу Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen - Страница 11
Fieberträume
ОглавлениеCoen war pünktlich auf die Minute, als er am Sonntagnachmittag zu seinem zweiten Besuch erschien. Eva erkannte es daran, dass das Glockenspiel der Alten Kirche einsetzte, als er klopfte. Drei Uhr. Tanneke öffnete ihm, führte ihn herein und bot ihm ein Glas Rheinwein an. Der Stuhl, auf dem Coen Platz nahm, war eigentlich zu niedrig für ihn – er wusste nicht recht, wo er seine Beine lassen sollte.
Die beiden Männer unterhielten sich zunächst über den Verlauf des Krieges gegen Spanien. Dann erhob sich Ment von seinem Platz und sagte: „Ich möchte mich fürs Erste empfehlen.“ Damit verschwand er.
Eva hatte die Augen niedergeschlagen, aber sie konnte den Blick ihres Gegenübers regelrecht spüren. Sie hatte keine Ahnung, worüber sie mit ihm reden sollte. Es war eine äußerst unangenehme Situation.
„Woher wusstet Ihr, dass in Asien Reis gegessen wird?“, fragte Coen.
Eva sah auf. „Das hat mir ein Kaufmann erzählt, der einmal für einige Tage bei uns gewohnt hat. Ein Bekannter von Onkel Pieter.“
Wieder entstand eine Stille. Dann sagte Eva: „Ich bewundere alle, die den Mut haben, eine solche Reise anzutreten. Ich könnte das nie.“
„Warum nicht? Seid Ihr nicht neugierig?“
„Doch, schon. Ich mag es zum Beispiel, Karten anzuschauen. Onkel Pieter hat einen Globus. Er muss überaus kostbar sein.“
„Globen gehören in der Tat zum Teuersten, was es gibt“, bestätigte Coen. „Aber sagt mir, wenn Euch ferne Länder doch offenbar anziehen, warum könnt Ihr Euch dann nicht vorstellen, selbst dort zu leben?“
„Gerade weil alles so anders ist. Die Menschen essen seltsame Dinge, wie Ihr selbst berichtet habt. Sie tragen vermutlich andere Kleidung, sie haben Gewohnheiten, die von den unseren abweichen. Gewohnheiten, die wir vielleicht gar nicht verstehen können. Ich glaube, was am meisten auf mir lasten würde, wäre der Gedanke, dass diese Menschen einer anderen Religion angehören. Und folglich über die Welt und das Zusammenleben der Menschen völlig anders urteilen müssen als wir Christen.“
„Das lässt sich ändern“, gab Coen zu bedenken. „Wir sind aufgerufen, die Botschaft des Herrn in die Welt zu tragen.“
„Das ist gewiss eine ehrenwerte Aufgabe, solange es nicht mit Zwang und Gewalt geschieht, so wie es die Spanier in Westindien getan haben. Wie gesagt, ich bewundere jeden, der ans andere Ende der Welt reist. Aber ich möchte noch nicht einmal in einer anderen holländischen Stadt wohnen. Ich möchte nicht weg aus Amsterdam. Wobei es nicht etwa so ist, dass ich meinen würde, es gäbe auf der Welt keinen schöneren Ort, gewiss nicht …“
„… Ihr müsstet Italien sehen!“, warf Coen ein.
„Ich bezweifle nicht, dass es ein sehenswertes Land ist. Aber dies hier ist eben mein Zuhause, diese Welt ist mir vertraut, und sie zu verlassen, würde mir vorkommen, wie einen Teil meiner selbst aufzugeben.“
Darauf erwiderte er nichts mehr. Auch Eva fiel nichts mehr ein, was sie noch hätte sagen können. Von draußen hörte man Kindergeschrei.
Plötzlich sagte Coen: „Ich habe bei Eurem Vater um Eure Hand angehalten.“
Der Satz kam wie ein Donnerschlag. Eva starrte ihn an.
„Ihr seid erschrocken? Selbstverständlich hängt alles von Eurem Einverständnis ab. Nur ein Wort, und ich ziehe mich zurück.“
Eva schwieg. Schließlich sagte sie: „Kann ich … kann ich darüber nachdenken?“
„Selbstverständlich.“ Coen stand auf. „Eine Entscheidung von solcher Tragweite will wohlüberlegt sein. Ich muss sowieso für einige Tage nach Hoorn. Wenn ich zurück bin, werde ich mich erkundigen, wie Ihr Euch entschieden habt.
Am nächsten Morgen erwachte Eva mit Fieber. Ihre Stirn war heiß, aber ihr selbst war so kalt, dass sie zitterte. Ihr Vater ließ sofort einen Arzt rufen. Noch vor neun Uhr morgens stand er an ihrem Bett, Jacob Janszoon de Wit, ein höflicher, schon etwas älterer Herr, der in Schweden geboren war, einem Land, das – wie er Eva erzählt hatte – völlig anders aussah als Holland, weil es nämlich ganz und gar von Wald bedeckt war. De Wit ließ sich von Tanneke Evas Nachttopf unter dem Bett hervorholen und füllte einen Teil ihres darin aufgefangenen Urins in ein Glas um, das er aus seiner großen Arzttasche hervorholte. Dieses Glas hielt er vor dem Fenster gegen das Licht und betrachtete es eingehend von allen Seiten.
Dann wandte er sich an Claes Corneliszoon Ment und verkündete: „Ein typischer Fall von Furor uterinus.“
„Um Gottes willen!“, rief Ment. „Was ist denn das?“
„Wir sprechen von der wandernden Gebärmutter“, erläuterte de Wit. „Seht, die weibliche Gebärmutter vermag im Körper umherzuwandern, wobei sie je nach Position bestimmte Organe zusammenpresst und dadurch die unterschiedlichsten Krankheiten verursacht. Fast jedes ernsthafte Frauenleiden lässt sich darauf zurückführen.“
„Es ist also ernsthaft?“, hörte Eva ihren Vater fragen.
„Ich fürchte ja“, war die Antwort. „Das Wichtigste ist jetzt, dass Fräulein Eva aus dem Bett kommt und sich möglichst aufrecht auf einen Stuhl setzt. Dann besteht die Chance, dass die Gebärmutter von selbst wieder nach unten rutscht, auf den Platz, wo sie hingehört.“
Ment wandte sich an Eva: „Hast du das gehört? Bitte setz dich auf den Stuhl dort.“
„Ich fühle mich sehr schwach“, protestierte sie.
„Du hast gehört, was der Doktor gesagt hat. Es mag beschwerlich sein, aber es ist der einzige Weg zur Gesundung und Verkürzung deines Leidens. Tanneke, kannst du den Stuhl vielleicht mit Kissen polstern? Herr de Wit, das wird doch wohl erlaubt sein oder stört das den Genesungsprozess?“
„Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern sich Fräulein Eva um eine möglichst aufrechte Haltung bemüht.“
Unter den Augen des Arztes krabbelte Eva mühsam aus dem Bett und schleppte sich auf den Stuhl. „Lange halte ich es hier nicht aus“, klagte sie. „Ich schaff das einfach nicht.“
„Stell dich nicht so an!“, ermahnte sie der Vater. „Es ist doch nur zu deinem Besten.“
Doktor de Wit packte seine Tasche zusammen. „Ich werde morgen wieder vorbeikommen. Sollte sich ihr Zustand verschlimmern, so unterrichtet mich umgehend.“ Im Flur unterhielt er sich danach noch eine Zeit lang im Flüsterton mit dem Hausherrn.
Als de Wit gegangen war, bestimmte Vater Ment, dass Gerrit heute nicht mit in die Brauerei kommen, sondern bei seiner Schwester bleiben solle. Gerrit setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. „Schwesterchen, Schwesterchen, was machst du für Sachen?“ Schon nach kurzer Zeit erklärte Eva, sie könne sich nicht mehr länger auf dem Stuhl halten, und wechselte ins Bett. Gerrit stapelte dort mehrere Kissen übereinander, sodass ihr Oberkörper erhöht lag. Bald schlief sie ein und wachte erst am Abend wieder auf. Das Fieber hatte nicht nachgelassen.
Am nächsten Tag erschien de Wit abermals, hielt erneut ein Glas mit Urin gegen das Licht, betrachtete Eva und bestätigte seine Diagnose einer wandernden Gebärmutter im fortgeschrittenen Stadium. Möglicherweise befinde sie sich bereits oberhalb des Magens. Nachdrücklich ermahnte er die junge Frau, so viel Zeit wie eben möglich in sitzender statt in liegender Haltung zu verbringen. Damit empfahl er sich.
Nach dem Arztbesuch schlief Eva. Als sie wach wurde, sah sie, dass Jasper sich neben ihr zusammengerollt hatte. Noch immer war ihr kalt, obwohl ihre Wangen glühten. Gerrit fragte, ob er ihr etwas auf seiner Fiedel vorspielen sollte. Er war ein hervorragender Musikant, aber Eva wollte jetzt Ruhe. Gerrit brachte ihr Bier zu trinken, setzte sich wieder neben sie und begann, ihr von der Fechtschule Thibault zu erzählen, die er seit einiger Zeit besuchte. Zusätzlich wollte er sich nun auch noch in der Tanzschule Vallet anmelden, die erst vor einem Jahr geöffnet hatte, sich aber bereits eines enormen Zulaufs erfreute. „Vater meint allerdings, es wäre zu teuer.“
Eva lächelte matt. Gerrit mochte ein rechter Taugenichts sein, aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Als ihm jetzt nichts mehr einfiel, was er noch erzählen könnte, holte er aus dem Saal die Familienbibel nach oben und schlug sie in der ersten Hälfte auf. Er habe da eine Stelle gefunden, die ihr sehr gefallen werde, sagte er zu Eva, und fing gleich an zu lesen. Es ging um den Feldherrn Holofernes, der zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die Länder des Westens aufbrach. Eine typische Männergeschichte! „Die ganze Erde werde ich mit den Füßen meiner Truppen bedecken und den Besitz der Menschen meinen Männern zur Plünderung preisgeben“, las Gerrit vor. „Ihre Täler sollen sich mit Gefallenen füllen. Jeder Bach und Fluss soll übervoll werden von Toten.“
Eva sah mit Leichen bedeckte Landschaften vor sich. Dann tauchte am Horizont eine Silhouette auf. Es war der Feldherr Holofernes, riesenhaft groß. Er drehte seinen Kopf hin und her und rollte mit den Augen. Eva spürte, dass er sie suchte, er hatte es auf sie abgesehen. Schnell versteckte sie sich hinter einem verkohlten Baumstumpf. Der Feldherr kam näher. „Ich habe bei deinem Vater um deine Hand angehalten! Du gehörst mir!“ Immer schneller rollten seine großen runden Augäpfel in ihren Höhlen herum, bis sie schließlich aus seinem Kopf sprangen und wie Golfbälle über den Boden hüpften. Im Nu hatten sie hinter den Baumstumpf gespäht und Eva entdeckt. Der Feldherr lachte dröhnend und schwenkte einen Degen. Eva drehte sich um und lief, lief, lief … Hinter sich hörte sie die dumpfen Schritte des Riesen und das leise Klatschen, das entstand, wenn einer der Augäpfel wieder auf dem Boden aufschlug. Gleich würde er sie packen, gleich würde er sie stechen … „Hilfe! Nein! Nein!“
„Eva, Eva!“ Verschwommen sah sie Gerrits Gesicht vor sich. Er rüttelte an ihr. „Ich glaube, du fantasierst!“, sagte er. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Du musst dich wieder auf den Stuhl setzen, so wie es der Doktor gesagt hat. Hier im Bett verschlimmert sich dein Zustand! Komm!“ Er fasste sie unter die Arme und hievte sie aus dem Bett. Eva lief der Schweiß herunter, ihre roten Haare hingen ihr verklebt im Gesicht. „Ich werde Tanneke zu Vater schicken. Er soll den Doktor noch mal holen!“
Eva bekam kaum noch mit, was geschah. Sie krallte sich an den Lehnen des Stuhls fest, um nicht herunterzurutschen. Irgendwann ließ sie sich auf den Boden gleiten. Wenig später schwanden ihr die Sinne.
Als sie wieder die Augen aufschlug, lag sie auf ihrem Kissenlager im Bett und blickte in das Gesicht von Doktor de Wit. An ihrem rechten Arm fühlte sie einen leichten Schmerz. Sie drehte den Kopf – und sah, dass ihr Blut abgezapft wurde. Es lief in eine Schüssel. „Was tut Ihr?“, fragte Eva.
„Ich nehme einen Aderlass vor“, antwortete der Doktor. „Ihr habt zu viel Blut im Körper, was zu einem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte geführt hat. Dadurch hat sich das Fieber noch weiter erhöht. Indem wir Eure Blutfülle durch Abzapfen des überflüssigen Blutes verringern, können wir die Säfte wieder in Balance bringen.“
„Welche Säfte?“, hörte Eva Gerrit fragen, ohne dass sie ihn sehen konnte.
„Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim. Daraus besteht unser menschlicher Körper.“
Eva ließ den Kopf zurück auf ihr Kissen sinken. Sie fühlte sich so elend wie noch nie in ihrem Leben. Nach einiger Zeit verließen der Doktor, ihr Vater und Tanneke das Zimmer. Sobald sie draußen waren, kam Jasper, der beim Eintreffen des Doktors den Raum fluchtartig verlassen hatte, zurück und sprang wieder ins Bett. Gerrit setzte sich auf die Bettkante, streichelte ihre Hand und sah sie aus seinen großen Augen mitleidig an. „Wenn du wieder gesund bist, machen wir eine Bootsfahrt über die Kanäle bis zu den Dünen“, versprach er.
Eva hörte ihn nur noch sehr entfernt. Sie irrte durch einen Wald, sehr dunkel, sehr tief. Die Bäume waren mit Moos überzogen und von Spinnweben umhüllt, in sich versunken und verkapselt. Einer dieser Baumriesen war von innen hohl, seine Krone wurde nur noch von drei kleinen Teilstücken des Stammes getragen. Eva trat in ihn hinein und sah auf dem Boden ein Ei liegen. Sie nahm es hoch und betrachtete es. Zunächst schien es unversehrt, doch dann bemerkte sie einen Sprung. Es schien von innen auseinandergedrückt zu werden. Die Schale fiel ab, und nun sah sie, dass darin eine noch nicht voll entwickelte Katze steckte. Sie war nackt, ohne Fell, aber ihr eines Auge bewegte sich und fixierte sie. Erschrocken ließ sie das Ei fallen und rannte davon, aber hinter sich hörte sie die Katze rufen: „Ich bin dein Kind! Ich bin dein Kind! Nimm mich mit! Komm zurück!“
Als Eva diesmal wach wurde, erkannte sie niemanden mehr, nur noch eine schemenhafte Gestalt, die vor ihr stand und zu ihr sagte: „Trink das hier! Trink das!“
An alles unmittelbar Folgende konnte sie sich später nie erinnern. Irgendwann schlug sie die Augen auf und bekam von Gerrit Bier eingeflößt. Nach einer gewissen Zeit – sie hätte nicht sagen können, ob nach Stunden oder Tagen – wachte sie öfter auf. Jedes Mal drängte Gerrit oder ihr Vater sie zum Trinken. Irgendwann aß sie zum ersten Mal etwas Brei. Und dann – es war gerade Morgen, wie sie am Licht des Himmels erkannte – fühlte sie sich mit einem Mal besser.
Ihr Vater saß an ihrem Bett. „Kind“, sagte er, „ich glaube, du bist über den Berg!“
„War ich sehr krank?“
„Wir haben um dein Leben gefürchtet. Du hast sehr schnell enorm hohes Fieber bekommen. Doktor de Wit wusste nicht mehr, was er tun sollte.“
„Und dann?“
„Dann ist etwas schier Unglaubliches passiert. General Coen ist aus Hoorn zurückgekehrt. Und er hat uns einen Trank gegeben, in dem er die Rinde eines Urwaldbaums aufgelöst hatte. Er sagte, die Javaner verwendeten dieses Mittel gegen hohes Fieber, und er wisse aus eigener Anschauung, wie gut es wirke. Aus purer Verzweiflung haben wir dir dieses Mittel gegeben. Und seitdem hat sich dein Zustand gebessert.“
Eva sah ihn ungläubig an.
„Kind“, sagte ihr Vater wieder. „General Coen hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet.“ Er machte eine Pause. „Er wird dich in den nächsten Tagen besuchen. Und wenn er dich dann noch einmal fragen sollte, ob du ihn heiraten willst, dann bin ich mir sicher, dass du ihm die richtige Antwort geben wirst.“