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Unter Pfeffersäcken
ОглавлениеEva machte sich große Sorgen um Gerrit. Zwei Wochen später wurde er zusammen mit einigen seiner Freunde von den Häschern des Schöffen aufgegriffen, weil sie völlig betrunken einen Nachtwächter angegriffen und mit ihren Degen malträtiert hatten. Am nächsten Tag wurden sie wieder freigelassen, doch musste sich Gerrit vor Onkel Pieter rechtfertigen. Der bestrafte ihn, indem er einen Teil seines Lohns einbehielt.
Eva befand sich in einem Zustand, den sie selbst als „melancholisch“ beschrieb. Der bevorstehende Abschied von Gerrit und allem, was ihr lieb und vertraut war – außer Jasper –, drückte sie nieder. Wenn sie morgens wach wurde, war ihr erster Gedanke noch immer: „Wo bin ich? Das ist nicht mein Zimmer!“ Dann erst fiel ihr ein, was geschehen war, und sie verlor fast den Mut. Oft wachte sie sehr früh auf und konnte nicht mehr einschlafen. Stattdessen grübelte sie. Im Grunde würde der Abschied von Gerrit für sie fast gleichbedeutend mit seinem Tod sein, denn nach menschlichem Ermessen würde sie ihn nie mehr wiedersehen. Es war, als wüsste sie, dass er an einer tödlichen Krankheit litt und nur noch bis Februar zu leben hätte.
Sie begann, die Stadt zu durchstreifen, obwohl dies einer verheirateten Frau nicht anstand. Einmal ließ sie sich an einem stillen Sonntagmorgen über die Grachten rudern. Es war der erste glasklare Wintertag. Bald würden die Kanäle zufrieren, aber noch war alles offen. Eva sah zu, wie das hauchzarte Spiegelbild der Giebelreihen von den Rudern zertrennt wurde. Ihr Blick wanderte zu den Fassaden der eng aneinandergeschmiegten Patrizierhäuser, den immer neuen Variationen in Backstein mit den weißen Gittern der Fensterrahmen, den Simsen, Giebeln, Schnörkeln und Flaschenzügen.
Sie kannte das alles so genau, und doch war es schon nicht mehr ihre Stadt, denn sie wusste, dass sie gehen würde. Einmal sah sie auf einem ihrer Spaziergänge einen Umzugswagen vor einem Haus stehen; ein junges Paar war gekommen, um hier ein neues Leben zu beginnen. Die große Stadt mit all ihren Möglichkeiten lag vor ihnen. Diese beiden jungen Leute würden Amsterdams Zukunft erleben und mitgestalten. Sie hingegen war nur noch Zaungast.
Coen wollte seiner Schwester, die in Hoorn wohnte, ein lebensgroßes Porträt von sich stiften und ließ dafür den Maler Jacob Waben aus seiner Heimatstadt nach Amsterdam kommen. Auch Eva sollte gemalt werden. Viele Stunden musste sie dem Künstler Modell sitzen. Coen hatte ihr dafür in einer Rekordzeit von zwölf Tagen ein golddurchwirktes Prunkgewand aus Damast schneidern lassen; dazu trug sie am rechten und linken Handgelenk die Perlenarmbänder, die er ihr am Morgen nach der Hochzeit geschenkt hatte, sowie einen Fächer aus Pfauenfedern.
Waben, ein schon älterer Mann, schwärmte von den klaren Konturen ihres Gesichts. Das Porträt werde ihr zweites Ich sein, das sie für immer auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit konservieren werde. Im Moment der Fertigstellung würden sie beide gleich aussehen, aber dann werde die leibhaftige Frau Ment unweigerlich den Weg allen Fleisches gehen, während ihr Porträt niemals altern werde. Wenn es nicht gerade durch Feuer oder Kriegsgewalt zerstört werde, könne es noch weit über ihren Tod hinaus von ihren Reizen künden und die Menschen erfreuen.
Eva fand das Porträt am Ende etwas geschmeichelt. Sie bestand darauf, dass er ihre Sommersprossen zumindest andeutete. Waben weigerte sich lange, aber sie erklärte ihm: „Ihr habt doch gesagt, es wäre schön, wenn Menschen in einem späteren Zeitalter das Bild ansehen würden. Ich vermute, diese Menschen werden ahnen, dass unsere Maler die Leute immer schöner dargestellt haben, als sie in Wirklichkeit waren. Wenn sie aber die Sommersprossen sehen, werden sie wissen: Diese Punkte auf der Nase, die hat es einmal wirklich so gegeben. Denn Sommersprossen erfindet man nicht.“ Davon ließ er sich überzeugen und tupfte die Sprossen in wenigen Augenblicken hin.
Während sie dem Maler Porträt saß, war Eva der Gedanke gekommen, ein Landschaftsbild zu kaufen und als Erinnerung an ihre Heimat mitzunehmen. Sie sah sich an Marktständen und in Geschäften um und erstand schließlich eine Darstellung der Zuiderzee, der großen, lang gestreckten Bucht, die Amsterdam mit dem offenen Meer verband. Das Bild zeigte im Grunde nichts Besonderes: Zwei oder drei Boote mit geblähten Segeln zeichneten sich gegen einen niedrigen Horizont ab. Zwei Drittel der gesamten Bildfläche wurden vom Himmel eingenommen, der nicht gerade freundlich aussah. Eva fand, dass das Gemälde auf treffende Weise die Atmosphäre der heimatlichen Witterung einfing. Coen hatte ihr gesagt, dass in Ostindien ein völlig anderes Klima herrschte.
In ihrem Zimmer in der Warmoesstraat begann Eva, ihre Sachen zu packen. Sie konnte so viel mitnehmen, wie sie wollte, da das Schiff auf der Hinfahrt kaum Ladung an Bord haben würde. Europa könne Asien nichts bieten, erklärte ihr Coen. Deshalb zahle die Compagnie dort mit Geld und nicht mit Waren, was zur Folge habe, dass sie vor allem Kisten mit Silbermünzen nach Ostindien verschiffe, zudem Steine und anderes Baumaterial, Kanonen und Psalmbücher. Danach sei noch massenhaft Platz, wenn nötig für ihr gesamtes Inventar. Allerdings riet Coen davon ab, alle Möbel in den Osten zu verfrachten. Manches davon sei dort eher unpraktisch und der Sitz des Generalgouverneurs zudem schon gut ausgestattet. Auch erinnerte er Eva immer wieder daran, dass alles im Bauch des Schiffes eingelagert werden würde und damit für die Dauer der Reise – er schätzte acht Monate – unerreichbar sein würde. In der winzigen Koje, die Eva zugedacht sei, bleibe so gut wie gar kein Platz, um etwas unterzubringen.
Im Januar waren sie beide ins Ostindische Haus eingeladen, die Zentrale der Compagnie, nur zwei Brücken weit weg von der Warmoesstraat. Sie sollten ein festliches Mittagessen mit den Siebzehn einnehmen. Coen instruierte sie vorher: „Vergesst nie, dass die Männer, mit denen wir zusammen sein werden, sehr mächtig sind. Sie gebieten über viele Tausend Menschen und dirigieren mehr als hundert Schiffe. Alle von ihnen suchen den Profit der Compagnie zu mehren, aber mitunter sind sie sich uneinig darüber, wie dies am besten geschehen kann. Zudem spinnt jeder von ihnen seine eigenen Fäden. Wenn sie Euch etwas fragen, dann antwortet so verbindlich wie möglich, doch achtet darauf, dass Ihr es allgemein haltet und nicht zu viel preisgebt. Geht immer davon aus, dass diese Herren bei allem stets eine Absicht verfolgen.“
Als sie sich an jenem Tag auf den Weg machten, war Amsterdam tief verschneit. Die Giebelhäuser schienen mit Zuckerguss überzogen, und alle Geräusche waren gedämpft, weil sie von der dicken Schneeschicht verschluckt wurden. Eva trug eines ihrer besten Kleider und darüber eine Samtjacke mit Pelzverbrämung. Die obere Hälfte ihres Gesichts bedeckte sie zum Schutz gegen die Kälte und die Sonneneinstrahlung mit einer schwarzen Maske. Sie war aufgeregt, denn sie wollte nichts falsch machen.
Das Ostindische Haus war ihr seit Kindertagen ein Begriff, denn kein anderes Gebäude in ihrem Viertel strömte einen so intensiven Geruch aus. Gelegentlich stank es nach den Ochsen, die im Hof geschlachtet und zu Proviant verarbeitet wurden – dann hatte Eva immer einen weiten Bogen darum gemacht. Drei Mal im Jahr aber, wenn die Ostindienflotte eingetroffen war, duftete der Komplex auf drei Brücken Entfernung nach Pfeffer und anderen Gewürzen. Als Eva und Gerrit noch klein waren, hatte Els, ihre damalige Kinderfrau, sie manchmal mit vor das Tor genommen und sie aufgefordert, den Gewürzduft tief einzuatmen. „Das hält euch gesund“, hatte sie gesagt.
Jetzt allerdings schien der Schnee auch die Ausdünstungen des Ostindischen Hauses zu überdecken – Eva roch gar nichts. Als sie durch das große Tor schritten, nahm sie die Maske ab. Im Hof warteten bereits zwei Bedienstete, die sie ehrerbietig willkommen hießen und in das Gebäude führten. Dort sagte der eine von ihnen, ein schlaksiger Mann mit vorstehenden Zähnen: „Die Herren lassen ausrichten, dass sie zunächst noch eine dringende Angelegenheit mit Euch, Herr Coen, besprechen müssten. Vielleicht würde es Eurer Gattin gefallen, wenn ich sie zu ihrer Unterhaltung solange ein wenig durch das Haus führen würde? Anschließend brächte ich sie dann zu Euch zurück zum gemeinsamen Mittagessen.“
„Warum nicht?“, fragte Coen. „Mögt Ihr?“
„Ja, gern“, antwortete Eva.
Während Coen eine Treppe hinaufgeführt wurde, stellte sich der Mann, der sie empfangen hatte, als Wijbrand Kesselaer vor. Als Erstes zeigte er Eva die enormen Vorräte an Pökelfleisch, Stockfisch, Räucherspeck, Bohnen, Erbsen und Gerste. Sie lagen bereit für den Abtransport zu den Schiffen. Dann gingen sie ein Stockwerk höher. Kesselaer öffnete eine Tür, und Eva glaubte, von allen Wohlgerüchen Arabiens überwältigt zu werden. Die Duftmischung war so stark, dass es ihr fast den Atem nahm. In unabsehbaren Reihen und Stapeln lagerte hier abgepackt in Säcken der Vorrat an Pfeffer, Muskat, Zimt, Ingwer und Gewürznelken. Wenn Eva daran dachte, wie viel schon ein kleines Säckchen mit Pfefferkörnern kostete, dann konnte sie sich eine ungefähre Vorstellung von den hier versammelten Werten machen. „Und alles nur, weil die Menschen so gern gut essen …“, ging ihr durch den Kopf.
Sie schritt die langen Reihen mit Ballen von indischer Seide ab und schaute in ein halbes Dutzend Kisten mit chinesischem Porzellan. Auch konnte sie nicht der Versuchung widerstehen, sich auf eine große Gewürzwaage zu stellen, um ihr genaues Gewicht zu erfahren.
Auf andere Art beeindruckend war die Waffenkammer voller Geschütze, Musketen und Hellebarden. Eingetrieben in die Kanonenrohre erkannte Eva das Zeichen, das ihr auch auf einer Keramiktafel über dem Eingang des Gebäudes aufgefallen war: Es bestand aus einem großen V, in das sich ein O und ein C einfügten. „Es ist das Emblem unseres Handelsunternehmens“, erläuterte Kesselaer. „Das V steht für Vereinigte, das O für Ostindische, das C für Compagnie.“
„Und warum Vereinigte?“, fragte Eva.
„Ursprünglich gab es mehrere Compagnien, die sich gegenseitig Konkurrenz machten. Die Regierung hat dann dafür gesorgt, dass sie sich zusammenschlossen.“
Über knarrende Holzstufen gelangten sie in die Apotheke, in der die Schiffsärzte ausgestattet wurden. „Gibt es hier auch Medizin aus Ostindien?“
„Das würde mich überraschen“, sagte Kesselaer. Eva erzählte ihm, wie Coen ihr schweres Fieber mit einem Mittel aus der Rinde eines asiatischen Baums kuriert hatte. „Verblüffend“, meinte Kesselaer. „Der Osten kennt viele Geheimnisse. Schaut einmal, was wir hier in diesem Gang haben!“
Er führte sie um eine Ecke in einen langen schmalen Flur, an dessen Wänden allerhand Kuriositäten aufgehängt waren: getrocknete Korallen, ein kleines ausgestopftes Krokodil, zwei Tigerfelle, Speere und das Gebiss eines Raubfischs. Kesselaer ließ Eva jeweils raten, was es war. Bei einem der Exponate hatte sie keine Ahnung. „Eine Muschel?“
„Nein, es ist der Schnabelaufsatz eines Dodos. Das sind Vögel, groß wie ein fünf oder sechs Jahre altes Kind, die aber nicht fliegen können. Sie leben nur auf einer Insel im Ozean, die wir Niederländer Mauritius genannt haben.“
Danach war es Zeit für das Mittagessen. Kesselaer brachte sie wieder in die Eingangshalle und geleitete sie die Treppe hinauf, bis sie vor zwei geschlossenen Flügeltüren standen. Er klopfte, öffnete, stellte sich an die Seite und rief: „Die Frau Gattin des wohledelgestrengen Herrn General Coen!“ Und dann zu ihr, deutlich leiser: „Bitte tretet ein!“
Eva spürte, wie ihr Herz klopfte. Einige Direktoren saßen in kleinen Gruppen an einem sehr langen Tisch, Coen stand mit ein paar anderen am Fenster. Alle trugen schlichte schwarze Kleidung, weiße Krausen und hohe Hüte und unterschieden sich damit in nichts von jedem gewöhnlichen Krämer. Auch die beiden Männer, die am Kamin Holz nachlegten, waren so gekleidet; nur ihre fehlende Kopfbedeckung wies sie als Bedienstete aus. Abgesehen davon, dass der Raum gut beheizt war, gab es keinerlei Anzeichen von Luxus.
Als Eva eintrat, verstummten die Gespräche, und alle schauten zu ihr. Sie merkte, dass sie rot wurde. Die Herren lächelten, nickten ihr zu oder grüßten. Einer von ihnen, ein zierlicher kleiner Mann mit freundlichem Gesicht, kam auf sie zugeeilt und lüftete den Hut. „Hochverehrte Frau Ment, lasst Euch gesagt sein, dass es uns eine ungemeine Freude ist, Euch heute hier begrüßen zu dürfen. Den ganzen Tag studieren wir Akten und diktieren Briefe, da lacht uns das Glück zu, wenn wir einmal einen so anmutigen Gast bei uns haben. Bitte setzt Euch, es wird sogleich aufgetragen werden. Mein Name ist übrigens Reael, Doktor Laurens Reael.“
Er begleitete sie an den Tisch und bat sie, links neben ihr Platz nehmen zu dürfen. Coen nahm den Stuhl an ihrer rechten Seite, war jedoch in ein Gespräch mit einem anderen Direktor vertieft. „Dass unser beinharter Coen eine so zarte Schönheit für sich gewinnen konnte, stimmt mich glücklich und zeigt mir, dass er noch ganz andere Qualitäten besitzen muss, von denen wir hier nichts ahnen können.“
Eva wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie lächelte unsicher.
„Ihr versteht mich doch nicht falsch?“ Reael zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Wir schätzen Euren Gatten über die Maßen. Il grand economo möchte ich sagen, ein großer Ökonom. Aber nicht nur das, er ist auch ein geborener Soldat. Vertraut euch Gott an, aber haltet euer Pulver trocken!, das ist sein Motto!“
Er lachte. Mittlerweile wurde der Tisch von Dienern umschwärmt, die Tücher ausbreiteten und Teller, Messer und Löffel verteilten. Eva bekam einen Kohleofen gereicht, klein wie eine Fußbank, den sie sich unter den Rock stellte, damit sie nicht fror. Es gab für eine Frau nichts Behaglicheres, als langsam die Wärme an ihren nackten Schenkeln emporkriechen zu fühlen und sich zwischen ihren Beinen vom Rauch kitzeln zu lassen.
„Und dann ist er natürlich auch ein unermüdlicher Arbeiter“, fuhr Reael fort. „Er kann wie ein Besessener schreiben, zwölf, dreizehn Stunden lang, ohne etwas zu essen. Die Diener stellen ihm Suppe und Brot hin und räumen später alles unberührt wieder weg. Ich muss das wissen, denn ich hatte jahrelang die Ehre, mit ihm in Asien zusammenzuwirken. Was Zahlen betraf, gab es niemandem, der ihm das Wasser reichen konnte. Er schien alles gelesen zu haben und nichts zu vergessen.“
„Ihr wart auch in Asien?“
„Oh gewiss, viele Jahre. Und dabei habe ich Euren Gatten sehr gut kennengelernt. Er ist ein Mann von furchtloser Entschlusskraft, Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, Eigenschaften, die ihn selbst in der größten Gefahr nicht verlassen haben.“
Nun wurde Wein ausgeschenkt. Reael ergriff das Glas und prostete ihr zu. „Auf Euch! Auf Euer Glück!“
Eva nahm einen Schluck. Der Wein war schwer und gut.
„Bitte erzählt mir von Asien“, sagte sie. „Ihr müsste wissen, ich fürchte mich davor. Alles wird mir so fremd sein. Neulich habe ich nachts am Fenster gestanden, weil ich nicht schlafen konnte, und da habe ich den Mond gesehen und gedacht: ,Dich kenne ich wenigstens von Weitem, Asien kenne ich gar nicht.‘“
„Was für ein erstaunlich scharfsinniger Gedanke!“ Reael schaute sie nun ganz anders an. Bisher hatte er sie wohlwollend, aber oberflächlich gemustert, jetzt schien sein Blick zu fragen: „Habe ich dich etwa unterschätzt?“
Dann sprach er weiter: „Ich korrespondiere seit vielen Jahren mit einem italienischen Gelehrten, Signor Galileo Galilei aus Florenz, und der hat den Mond durch ein Fernrohr sehr genau beobachtet, sodass er ihn anschließend in vielen Details beschreiben konnte. Ich habe das Buch in meiner Bibliothek, es heißt Sternenbote, das würde Euch interessieren.“
„Ein Fernrohr, mit dem man bis zum Mond sehen kann?“
„Ein ganz spezielles, von ihm selbst konstruiert. Dieser Mann hat ein überlegenes Gehirn. Doch warum ich Euch das alles erzähle, ist: Ich kann Euch beruhigen. Asien ist Euch sehr viel näher als der Mond. Galileis Buch zeigt nur Klüfte und Krater, schrundig und voller Pockennarben. Ich möchte da nicht hin. Wohingegen ich noch immer fast jede Nacht von Ostindien träume.“
Damit begann Reael von Asien zu schwärmen. Von der Abenddämmerung auf Java, wenn die Diener exotische Gerichte auftrügen, die Eidechsen über die Wände kletterten und das Konzert der Grillen, Frösche und Flughunde ertöne. Vom finsteren Wald, der die gesamte Insel bedecke und nicht nur von Krokodilen, Elefanten und Tigertieren bevölkert werde, sondern auch von Waldmenschen. Diese seien am ganzen Körper mit so roten Haaren bedeckt, wie Eva sie habe. Anstatt auf der Erde fristeten sie ihr Dasein hoch in den Baumwipfeln. Die Javaner behaupteten von ihnen, dass sie wohl reden könnten, wenn sie es wollten. Sie täten es aber nicht, weil sie fürchteten, dann arbeiten zu müssen.
Reaels Geschichten zogen Eva so sehr in ihren Bann, dass er sie immer wieder auffordern musste, doch zuzugreifen und dem Fasan zuzusprechen, der längst aufgetragen war. Mit der Zeit legte sie ihre Scheu vollständig ab, stellte Fragen, lachte und erzählte von ihren Erwartungen und Ängsten. „Wenn ich wüsste, dass ich wiederkäme, dann würde mir alles halb so schwerfallen“, seufzte sie.
„Geht Ihr denn davon aus, nie mehr zurückzukommen?“
„Mein Mann spricht nicht von Rückkehr. Ich glaube, er will dort als eine Art Kaufmann-König alt werden.“ Sie lachte, aber als sie in Reaels Augen sah, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Es lag ein Funkeln darin.
Auf dem Heimweg fragte Coen sie, was Reael von ihr gewollt habe. „Wir haben uns einfach unterhalten“, sagte sie. „Er hat mir viel von Ostindien erzählt und in den höchsten Tönen von Euch gesprochen.“
„Ihr habt ihm hoffentlich nichts von mir erzählt?“
Als Eva nicht sofort darauf antwortete, bohrte er nach: „Eva? Habt Ihr ihm irgendetwas über mich gesagt?“
„Nichts Besonderes … nur an einer Stelle, dass wir nicht vorhaben, noch einmal zurückzukommen …“
Coen blieb stehen und sah sie an. „Das hättet Ihr nicht tun dürfen. Formell bin auch ich nur ein Diener der Siebzehn, sie können mich jederzeit abberufen. Ich hoffe, meine Position durch den Aufbau einer blühenden Kolonie bald so sehr zu festigen, dass es faktisch kaum noch denkbar sein wird, mich gegen meinen Willen zurückzubeordern. Doch ist es ratsam, von diesen Plänen zu schweigen.“
„Es tut mir sehr leid.“ Eva fühlte sich als Versagerin. „Aber ich bin mir sicher, dass Doktor Reael Euch nur Gutes will.“
Coen lächelte sarkastisch. „Doktor Reael, wie Ihr ihn nennt, ist mein erbittertster Feind.“
Eva sah ihn ungläubig an.
„Er war mein Vorgänger als Generalgouverneur und vertrat einen ganz anderen Kurs als ich. Freihandel statt Monopolisierung. Es würde zu weit führen, Euch das jetzt zu erklären. Jedenfalls entschieden sich die Siebzehn damals für meine Linie. Reael wurde abberufen. Mittlerweile ist er aber selbst einer der Siebzehn geworden und opponiert gegen mich. Er will Rache. Noch sind er und seine Freunde in der Minderheit, doch tut er alles dafür, damit sich das ändert. Ihr seht, warum ich nicht länger damit warten kann, nach Asien zurückzugehen und mein Werk zu vollenden: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.“
„Aber … aber … er hat so gut von Euch gesprochen!“
„Er ist ein harter Mann von zarter Statur, geschmeidig im Umgang, doch allein seinen Zielen verpflichtet. Ein gefährlicher Mann. Ihr müsst lernen, nicht nach dem ersten Anschein zu urteilen, sondern misstrauisch zu sein. Kluge Menschen sind nicht leicht zu durchschauen, und Ihr werdet es in Zukunft nur noch mit klugen Menschen zu tun haben. In den Sphären, in denen ich mich bewege, gibt es keine Dummköpfe mehr.“