Читать книгу Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen - Страница 16
Eiskonzert
ОглавлениеAm nächsten Tag erfuhr Eva den Grund dafür, warum die Siebzehn zunächst allein mit Coen hatten sprechen wollen. Der englische Botschafter in Den Haag, Sir Dudley Carleton, hatte bei der niederländischen Regierung gegen seine erneute Ernennung zum Generalgouverneur protestiert. Coen erläuterte ihr, dies habe damit zu tun, dass er die englische East India Company mit allen Mitteln bekämpft habe. Die niederländische Regierung hatte die Protestnote des Botschafters an die Vereinigte Ostindische Compagnie weitergeleitet. Die Siebzehn hatten daraufhin beschlossen, Coens Ernennung vorerst nicht öffentlich zu machen und ihn unter strengster Geheimhaltung nach Ostindien abreisen zu lassen. Wenn er in acht Monaten dort ankomme, werde die Welt schon wieder anders aussehen.
Dies bedeutete jedoch auch, dass Coen und Eva getrennt voneinander zur Reede von Texel fahren sollten, wo die großen Schiffe der Compagnie auf sie warteten. Es wurde nicht ausgeschlossen, dass sie von englischen Spionen beobachtet wurden, und eine separate Abreise würde weniger auffallen. Zudem sollten sie möglichst kein Gepäck mitnehmen.
An den Tag des Abschieds versuchte Eva gar nicht zu denken. Stattdessen genoss sie mit Gerrit die Freuden des Winters. Nachmittags holte sie ihn an der Brauerei ab, und dann gingen sie zusammen Schlittschuh laufen, was Eva nicht schlecht und Gerrit meisterhaft beherrschte. Sie liefen Hand in Hand oder hielten die beiden Enden eines Taschentuchs fest. Eva schloss die Augen – sie schwebte.
Der gesamte Hafen war zugefroren. Die Schiffe lagen fest und trugen einen blanken Panzer aus Eis. Von ihren Masten hingen glitzernde Eiszapfen. Darüber wölbte sich ein tiefblauer Himmel. Auf leise knirschenden Kufen glitten die Geschwister durch die stille, frostige Luft, vorbei an Schiffsrümpfen und Ankerketten, bis hin zur Zuiderzee.
Wenn die Schatten länger wurden und die letzte Sonne des Spätnachmittags ihre erhitzten Gesichter mit einem Bronzeton überzog, suchten sie eines der Zelte auf, die man schon von Weitem an der rot-weiß-blauen Flagge erkennen konnte. Dort stärkten sie sich mit warmem Bier und Pasteten und erleichterten sich anschließend hinter senkrecht aufgestellten Booten.
Für den letzten Abend hatte Gerrit ihr etwas Besonderes versprochen: „Damit es noch mal schön wird.“ Sie erwartete den Abend jedoch vor allem mit einem Gefühl der Beklemmung.
Erst als es schon dunkel war, holte er sie ab. Die Wohnung in der Warmoesstraat war mittlerweile fast leer geräumt, bis auf einige Möbelstücke, die sie nicht mitnehmen würden. Coen hatte Amsterdam schon verlassen, er war vorausgefahren zum Schiff.
Eva wurde von Gerrit bei der Hand genommen und zur Alten Kirche geführt. Sie hatte dort in den vergangenen Wochen täglich gebetet: für Gerrits Gesundheit und Wohlbefinden, für eine glückliche Überfahrt nach Ostindien und – verbunden mit einem Dank dafür, dass ihre Gebete bisher erhört worden waren – um weiter ausbleibenden Kindersegen trotz täglichen Beischlafs. Jetzt war die Kirche geschlossen. Die Segelflicker, die tagsüber auf dem Vorplatz ihrer Arbeit nachgegangen waren, hatten Schluss gemacht, die Händler hatten ihre Stände abgebaut, und die Schauspieltruppe, die dort ein paar Tage gastiert hatte, war weitergezogen.
Gerrit ging nicht zum Hauptportal, sondern zur leuchtend rot gestrichenen Tür der Sakristei. Dort nestelte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss auf. „Woher hast du …?“, fragte Eva.
„Von Lucas“, kam als Antwort. „Sein Vater ist Kommissar der Kammer für Ehekrach, und die tagt hier.“ Eine Lampe vor sich her tragend, führte er sie durch die Sakristei zu einer Tür, von der Eva wusste, dass dahinter der Kirchenraum lag. Er stellte die Lampe ab und holte aus seiner Tasche ein Tuch hervor. „Augen zu!“, befahl er und band es ihr um. Nun sah Eva nur noch Schwarz. Sie hörte, wie er die Tür öffnete. Dann ergriff er wieder ihre Hand und geleitete sie in die Kirche. Sie hörte es an ihren hallenden Schritten. Sonst war es ganz still. „Moment noch!“ Er ließ ihre Hand los. Sie war so gespannt! Es verging jedoch eine sehr lange Zeit, und als sie schließlich ungeduldig nachfragte, wann es denn so weit sei, kam seine Stimme aus einiger Entfernung: „Warte noch, gleich!“
Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Endlich verkündete er: „So, jetzt kannst du!“ Eva nahm das Tuch ab und wähnte sich in einem Traum. In dem dunklen Kirchenraum brannten Hunderte Kerzen. Gerrit hatte nicht nur die großen goldenen Kronleuchter entzündet, er hatte zusätzlich an den unmöglichsten Stellen Kerzen aufgestellt. Sie flackerten auf den Grabplatten am Boden, auf den Simsen von Wänden und Pfeilern, den Chorschranken und den Denkmälern für verdiente Persönlichkeiten. Überall warfen die Flammen ihre riesenhaften, sich ständig verändernden Schattenbilder an die Wände. Gerrit selbst stand ein Stück weit von Eva entfernt – um ihn herum leuchteten besonders viele Kerzen –, hatte seine Fiedel unter dem Kinn eingeklemmt und den Bogen gezückt. „Setz dich!“, lud er sie ein. Sie suchte sich eine Stelle, an der sie sich gegen eine Säule lehnen konnte. Es war sehr kalt, sie sah ihren Atem, aber sie trug mehrere Röcke übereinander. Gerrit fuchtelte mit dem Bogen durch die Luft, so als müsse er erst ein paar Gespenster vertreiben, dann begann er zu spielen. Es war jedoch kein Lied, nein, es war das Konzert der Tierstimmen, mit dem er Eva früher immer so zum Lachen gebracht hatte. Inzwischen hatte er seine Fähigkeiten vervollkommnet. Er strich eine helle Saite, dann eine dunkle, und schon ergab sich das Iah eines Esels. Er zirpte wie eine Grille, krähte wie ein Hahn und miaute wie Jasper. Eva konnte noch immer darüber lachen. „Und nun“, rief er plötzlich, „Jan Pieterszoon Coen und seine allerliebste Eva!“ Diesmal ließ er die Saiten seufzen, zwitschern, grollen und flüstern – ganz so wie es im ehelichen Alltag zugehen konnte. Es war verblüffend, welche Töne er der Fiedel zu entlocken vermochte und mit welcher Geschwindigkeit er die Griffe wechselte.
Ohne Zweifel: Diese Vorstellung hätte auch ein großes Publikum begeistert. Aber es war ein Konzert nur für sie. Die Kirche war bis auf sie beide menschenleer – und die Atmosphäre dadurch noch erhabener und feierlicher als sonst. Sie fühlte sich geborgen und behütet wie Jona tief im Bauch des Walfisches – eine ihrer Lieblingsgeschichten aus der Bibel. Auch schien es ihr, dass sie die Größe des Kirchenschiffs erst jetzt richtig ermessen konnte: Sie spürte den Raum durch den Klang – den Klang der Geige, der von den Wänden widerhallte.
Nach der Stimmenimitation kamen Lieder an die Reihe, die sie früher zusammen gesungen hatten: Wilder als wild, Potzblitz Donnerwetter Sapperment, Nimm mich an der Hand und viele andere wohlbekannte Weisen aus dem Liederbuch Der friesische Lusthof. Was da erklang, waren die Melodien ihrer Kindheit, ihrer Jugend, die nun, an diesem Abend, zu Ende ging. So empfand sie es. Dieses Konzert war ein Abschied, wie er endgültiger nur im Sterben vorstellbar war.
Leicht führte Gerrit den Bogen, während seine Finger die Saiten zupften. Seine Locken hingen ihm in der Stirn, sein Federhut wackelte. Immer weiter brannten die Kerzen herunter, bis sie schließlich eine nach der anderen erloschen und nur noch jene, die um Gerrit herumstanden, brannten, weil sie ein Stück größer waren. „Das letzte Lied!“, kündigte er an. Eva brauchte nur zwei, drei Töne zu hören, und schon erkannte sie es. Sofort begannen ihr die Tränen über das Gesicht zu strömen. Es war Der lustige Mai, ihr altes Lieblingslied, das der Organist Sweelinck einst für sie auf der Orgel gespielt hatte. Genau wie er intonierte Gerrit nun mehrere Variationen. Eva hätte ihm ewig zuhören können, doch schließlich verhallte der letzte Ton in der Tiefe des Raumes. Gerrit ließ sein Instrument sinken. Eva stürzte auf ihn zu, warf sich ihm an den Hals und küsste ihn auf den Mund, die Wangen, die Ohrläppchen mit den goldenen Ringen, auf die Spitze seiner frechen kleinen Nase, auf die Stirn, auf die Grübchen, die sie ganz besonders mochte. Sein Gesicht wurde nass, sie wusste nicht, ob es nur ihre Tränen waren oder ob er ebenfalls weinte. Sie schmiegte sich an ihn. So standen sie lange, lange im Schein der letzten Kerzen in der Alten Kirche genau in der Mitte von Amsterdam. Niemand außer ihnen beiden würde je davon erfahren.
Schließlich flüsterte Gerrit ihr ins Ohr: „Geh jetzt. Ich muss hier noch aufräumen.“
Sie löste sich aus der Umarmung, bis sich zuletzt nur noch die Fingerkuppen ihrer rechten und seiner linken Hand berührten. Dann nahm sie eine Kerze vom Boden auf und ging. Sie ging, ohne sich noch einmal umzuschauen, aus der Kirche, durch die Sakristei und nach draußen über den Vorplatz bis zur Warmoesstraat. Hinter der Tür wartete Jasper auf sie. Sie streichelte ihn kurz, dann warf sie sich aufs Bett. In dieser Nacht wünschte sie, Coen würde vom Schiff fallen, auf den Meeresgrund sinken und mitsamt seiner Rute dort vermodern.
Noch bevor der Morgen dämmerte, machte sie sich reisefertig. Sie lockte Jasper mit einem Stück Hering in eine Kiste, die mit einer Gitterluke versehen und mit Pelz ausgepolstert war. Sie selbst zog wie am Vorabend mehrere Röcke übereinander an.
Ein milchiges Licht verlieh der Stadt sanfte Konturen. Zum letzten Mal ging sie an der Alten Kirche vorbei. Ganz kurz hielt sie inne und sah noch einmal über den Platz, wo die Verkäufer ihre Stände aufbauten. „Das Leben geht weiter“, dachte sie. „Egal, ob ich da bin oder nicht.“ Dann wandte sie sich ab und eilte, die Kiste mit Jasper in der Hand, zum Schreiersturm im Hafen. Dort sollte der Schlitten auf sie warten, der sie zunächst über die zugefrorene Zuiderzee in die Stadt Medemblik bringen würde. Von dort musste sie mit der Kutsche über Land bis zur Nordspitze Hollands reisen, um schließlich mit einem Boot in das Dorf ’t Schilt auf der Insel Texel überzusetzen. Dort sammelte sich die Ostindienflotte.
Tatsächlich stand der Schlitten schon an der verabredeten Stelle. Es war ein prächtiges Gefährt, das an den Seiten und hinten mit einem goldenen Löwen dekoriert war. Noch schöner anzusehen, war das Ross: An seinem Zaumzeug hingen Glöckchen, und auf dem Kopf trug es eine Krone aus Federn in den niederländischen Farben Rot, Weiß und Blau. Der Kutscher stellte sich als Jan vor. Eva setzte sich in den Schlitten, stellte die Kiste mit Jasper zwischen ihre Füße und wickelte sich in eine bereitliegende Pelzdecke ein. Ihr Gesicht verbarg sie wieder hinter einer Samtmaske.
„Kann’s losgehen?“, erkundigte sich Jan.
Die Antwort kam etwas leise: „Ja, bitte.“
Der Schlitten setzte sich in Bewegung. Trotz der morgendlichen Stunde herrschte schon reger Betrieb auf dem Eis. Eva sah einen Maronenverkäufer, der gerade eine Portion abwog. Kinder bewarfen sich mit Schneebällen.
Als sie ein Stück weit gefahren waren, drehte sie sich um. Ihr letzter Blick auf Amsterdam. Der Blick, den sie mitnehmen würde. Sie sah das Gespinst der Masten und dahinter die gezackten Giebelreihen. Der Turm der Alten Kirche grüßte noch einmal. Sie versuchte, das Bild in sich aufzunehmen. Dann schaute sie wieder nach vorn. Amsterdam stand jetzt für ihre Vergangenheit, und irgendwo vor ihr jenseits der Dunstschleier lag ihre Zukunft.
Die Hufe klapperten, das Pferd schnaubte, die Glöckchen läuteten. Vor ihnen breitete sich eine unabsehbare Eisfläche aus, die zugefrorene Zuiderzee. Der Horizont lag verschwommen im Nebel, den die fahle Wintersonne gelblich tönte. Hin und wieder überholten sie einen anderen Schlitten, oder einer kam ihnen entgegen. Zweimal passierten sie den Kadaver eines verendeten Pferdes. So vergingen zwei Stunden. Dann wurde Jaspers Miauen zu einem Wehklagen. Außerdem musste Eva mal einen Abtritt aufsuchen. „Jan! Jan!“
Der Schlittenkutscher wandte sich zu ihr um: „Gnädige Frau?“
„Ich glaube, meine Katze droht zu erfrieren. Können wir vor Edam eine Pause einlegen? Es muss doch bald kommen, oder?“
„Können wir machen. Wir sollten nur nicht allzu viel Zeit verlieren, denn das Wetter scheint nicht besser zu werden.“
Er lenkte den Schlitten nach Westen, dorthin, wo sich die Küste befand. Bald zeichneten sich die Umrisse eines Kirchturms im Dunst ab. Schon von Weitem erkannte Eva zahllose eingemummelte Gestalten, die genau wie die Amsterdamer ihre freie Zeit auf dem Eis genossen. Beim Näherkommen wurde allerdings auch deutlich, dass die Leute hier nicht ganz so wohlhabend waren: Manche Kinder benutzten skelettierte Pferdeköpfe als Schlittenersatz. Eine Frau wusch in einem Eisloch ihre Wäsche. Und ein Bauernehepaar schob auf einem Schlitten ein mageres Kalb mit zusammengebundenen Beinen vor sich her.
Ein Stück weit vor der Stadt waren zehn Zelte in einer Reihe aufgebaut. Es zeigte sich, dass sie nicht die ersten aus Amsterdam kommenden Reisenden waren, die hier Rast machten. Viele andere waren schon vor ihnen eingetroffen. Vor einigen Essenszelten musste man sich anstellen. Der Kutscher ging, um etwas zu besorgen, während sich Eva mit Jasper in seiner Kiste an einem Feuer wärmte. „Wo soll der denn hin?“, fragte eine Frau neben ihr mit Blick auf den Kater. „Nach Ostindien“, antwortete Eva. Die Frau schaute verärgert zur Seite, sie glaubte ihr natürlich nicht.
Nach einem Imbiss und einem Besuch des Latrinenhäuschens stiegen sie wieder in die Schlittenkutsche. Eva hatte gerade wieder ihre Maske aufgesetzt, da begann es zu schneien. „Ich habe es ja geahnt“, sagte Jan.
Sie trabten los ins konturlose Grau. Alle Farbe war aus der Landschaft gewichen. Eva hatte einmal in einem Künstleratelier vor einer grundierten Leinwand gestanden, die die Schüler für den Meister vorbereitet hatten. Dies hier sah ähnlich aus. Und nun ging es richtig los, jedoch nicht mit sanften dicken Flocken, sondern mit kleinen harten Kügelchen. Sie kamen von oben, von den Seiten, dem Anschein nach sogar von unten.
Nach einiger Zeit konnte Eva den Kopf des Pferdes nur noch schemenhaft erkennen. Mit lautloser Beharrlichkeit setzte sich der Schnee in Nase und Ohren ab. Jasper miaute jetzt nicht mehr – war er erfroren?
Und dann hörte sie es. Töne im Schnee. Erst nur so leise, dass sie glaubte, ein Geräusch fehlgedeutet zu haben, dann etwas lauter. Sie reckte den Kopf ins weiße Nichts – kein Zweifel möglich: Es war Der lustige Mai. Da draußen in der Schneewüste geigte jemand Der lustige Mai!
Sie musste verrückt geworden sein. Die Trennung von ihrem Bruder, der Abschied von der Heimat – all das hatte sie offenbar überfordert. Sie hörte Dinge, die es nicht geben konnte. Doch sie wollte Gewissheit. „Halt an!“, schrie sie dem Kutscher zu. „Anhalten!“ Die Glöckchen verstummten.
„Hörst du das auch?“
Der Kutscher lauschte. „Das … das kann doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihm.
„Versuch, auf die Musik zuzufahren!“, befahl Eva.
„Gnädige Frau, ich weiß nicht …“
„Wir müssen da hin! Ich lasse mich nicht umstimmen. Fahr zu!“
Der Schlitten setzte sich in Bewegung, die Melodie kam näher. Eva starrte ins Wirbeln und Stöbern. Jetzt hatte die Musik plötzlich ausgesetzt. Oh nein! „Bitte spiel weiter!“, flehte sie in Gedanken. Bange Momente verstrichen. Und dann, als sich schon bleierne Enttäuschung in ihr breitmachen wollte, vernahm sie wieder die Klänge des vertrauten Liedes. Jetzt konnten sie nicht mehr weit von dem Geiger entfernt sein. Und da, tatsächlich, tauchten aus den Schleiern schemenhafte Umrisse auf. Die Gestalt wurde größer und größer – es war ein Mann mit einem Hut, der eine Fiedel von sich gestreckt hielt. „Gerrit! Gerrit!“, rief Eva. Sie sprang aus dem Schlitten und stürmte durch den Schnee. Er ließ die Fiedel sinken, und glitt auf seinen Kufen auf sie zu. Sie fielen sich in die Arme, küssten sich das kalte Gesicht ab – ihre Maske hatte Eva fortgeworfen.
„Was machst du hier?“, keuchte sie.
„Ich bin dir nachgereist“, erwiderte er. „Aber dann fing’s an zu schneien. Da hab ich gedacht: Ich muss auf meiner Fiedel spielen, dann hört mich vielleicht jemand, der mit einer Schlittenkutsche unterwegs ist. Und das bist du dann gewesen.“
„Wie hast du denn die Fiedel transportiert?“
Er deutete auf einen Rucksack.
„Und warum bist du mir nachgereist?“
„Ich hab’s mir anders überlegt, ich komme doch mit. Ich will wissen, wie gut die Inder im Eisgolfen sind.“ Er sagte es in einem Ton, als hätte er lediglich seine Pläne für den Abend geändert.
„Gerrit, das ist doch Unsinn! Du musst hierbleiben! Du weißt, wie gefährlich es ist. Und der Abschiedsschmerz geht vorbei, glaub es mir. Schon bald wirst du nicht mehr so viel an mich denken.“
„Glaub mal nicht, dass es wegen dir ist. Ich will etwas sehen von der Welt. Ich habe keine Lust mehr auf Onkel Pieters Brauerei. Und jetzt Schluss! Die Entscheidung steht fest, ich geh nicht mehr zurück.“
Gestützt auf Eva balancierte er zum Schlitten. Dort legte er die Fiedel ab und zog sich die Kufen aus.
„Hoffentlich hast du dir nicht den Tod geholt!“, sagte Eva. „Komm, kriech unter die Decke!“
Kutscher Jan machte ein Gesicht, als wäre ein Geist bei ihm eingestiegen.
„Du kannst jetzt weiterfahren“, meinte Eva zu ihm.
Dicht aneinandergedrückt, Kopf an Kopf gelehnt, saßen sie auf der Bank. Sollte es wirklich wahr sein, würde er sie begleiten? Mit Gerrit vereint, verloren die schlimmsten Gefahren ihren Schrecken, mit ihm zusammen war es die reinste Vergnügungsreise!
Noch immer schneite es so heftig, als würden Säcke von Mehl ausgeschüttet, aber Eva spürte es nicht mehr. Sie saß in diesem Schlitten, unter einer Decke mit Gerrit, den hoffentlich noch lebenden Jasper zwischen ihren Füßen, und war glücklich. Unendlich glücklich trotz eindringender Nässe und eiskalter Füße.
Nicht mehr Medemblik war nun ihr Ziel, sondern das südlicher und damit näher gelegene Hoorn. Nach geschlagenen zwei Stunden erspähten sie im Schneetreiben endlich die Stachelsilhouette aus Kirchtürmen und Verteidigungswerken.
Sie steuerten die nächste Herberge an und beeilten sich, aufs Zimmer zu kommen. Dort zogen sie rasch ihre nassen Kleider aus und krochen dann so dicht ans Kaminfeuer, wie es gerade noch möglich war, ohne sich zu verbrennen. Sie schlossen die Augen. Langsam wich die lähmende Kälte aus ihren Gliedern und ein unbeschreiblich wohliges Gefühl überkam sie. Jasper lag zwischen ihnen – er hatte an diesem Tag wohl eines seiner sieben Leben aufgezehrt. Als ihre Haut rot war von der Wärme, legten sie sich zusammen ins Bett, nahmen sich fest in den Arm und schliefen ein. Jasper rollte sich am Fußende zusammen.
Am nächsten Vormittag mussten sie sich zuerst neue Kleider besorgen lassen, da ihre eigenen noch immer nicht trocken waren. Sie blieben den ganzen Tag und noch eine weitere Nacht und fuhren erst dann mit ihren Kleidern im Gepäck weiter. Das Wetter war immer noch nicht gut, aber es schneite nicht mehr. Am Nachmittag des dritten Reisetages erreichten sie Medemblik. Dort übernachteten sie wiederum in einer Herberge und bestiegen dann die Kutsche, die sie nach Helder brachte. Hier war das Meer nicht zugefroren, aber Berge von Eisschollen türmten sich auf, sodass kein Boot den Hafen verlassen konnte. Sie mussten sich wieder einquartieren und drei Tage warten, ehe ein Fährboot von Texel eintraf, das sie bei Ebbe erreichen konnten. Das letzte Stück durchs eiskalte Wasser musste sich Eva von einem Mann in hohen Stiefeln tragen lassen.
Eine blasse Sonne spiegelte sich in der See, als sie durch hauchdünne Eisschollen auf die Insel zuglitten. Gerrit zeigte zum Horizont. Wie Scherenschnitte lagen dort einige majestätische Schiffe mit gerefften Segeln im Gegenlicht. Die Ostindienflotte.
Eva ergriff seine Hand. „Das ist der Anfang“, sagte sie.