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Der Tote in der Schleuse

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Während des Frühstücks bekam Eva von Coen noch ein Geschenk, zwei mehrreihige Perlenarmbänder. Die Ereignisse der vergangenen Nacht erwähnte er mit keinem Wort, sodass sich Eva kurzzeitig fragte, ob ein Einbrecher ins Zimmer geschlichen sein und sich an ihr vergangen haben könnte. Nach dem Essen spazierte sie mit Johanna hinüber zum Weißen Adler, um zusätzliche Kleidung zu holen. Als Tanneke öffnete, wirkte sie verstört.

„Ich wollte Euch an diesem Tag nicht zu früh stören, aber ich bin sehr besorgt! Der Herr ist nicht da! Wisst Ihr, wo er stecken könnte?“

Eva erschrak. „Nein, keine Ahnung. Aber frag doch bitte sogleich im Prinsenhof nach. Vielleicht war er am Ende nicht mehr in der Lage, den kurzen Weg nach Hause zurückzulegen, und hat sich dort für eine Nacht einquartiert? Wenn es nicht so ist, dann wissen sie dort vielleicht, ob er mit jemandem mitgegangen ist.“

Nach einer halben Stunde war Tanneke zurück und berichtete: „Im Prinsenhof weiß niemand etwas. Übernachtet hat er dort jedenfalls nicht.“ Nun wurde die Magd zu Pieter Hasselaer geschickt. Sie brachte jedoch nicht mehr in Erfahrung, als dass Vater Ment als einer der Letzten gegangen sein musste. Und dass er zu dieser Zeit nicht mehr ganz nüchtern gewesen war. Als die Stunden vergingen und er auch am frühen Nachmittag noch nicht aufgetaucht war, beschloss Eva, selbst noch einmal zu Pieter Hasselaer zu gehen. Sie fand ihn in seiner Brauerei. „Onkel, ich habe wirklich Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist – habt Ihr vielleicht die Möglichkeit, nach ihm suchen zu lassen?“ Hasselaer zögerte keinen Augenblick, sondern machte sich sofort auf den Weg zum Rathaus, um dort Erkundigungen einzuholen. Als Mitglied des Rats würden ihm die städtischen Beamten zu Diensten sein.

Mit bangem Gefühl kehrte Eva in den Weißen Adler zurück. Mehrere Stunden vergingen mit Warten. Dann, um sechs Uhr abends, wurde der Türklopfer betätigt. Eva hastete durch den Flur, öffnete – und sah bereits am Gesicht ihres Onkels, dass sich ihre Befürchtungen bestätigt hatten. „Was ist geschehen?“, stieß sie hervor. „Lasst uns hineingehen“, sagte er. Sie setzten sich in das Zimmer neben der Vorhalle, in dem Coen um ihre Hand angehalten hatte. Auch Gerrit kam dazu.

„Ich habe leider eine schlimme Nachricht für euch“, hob Hasselaer an. „Heute Vormittag ist in der Schleuse am Grimburgwal eine Leiche aus dem Wasser gefischt worden. Ich habe sie mir zeigen lassen. Es ist euer Vater.“

Eva starrte ihn an. „Aber wie … wie …?“

„Es sieht ganz danach aus, dass er heute Nacht auf dem Weg von der Feier nach Hause im Dunkeln in die Gracht gefallen und ertrunken ist. Es tut mir sehr leid.“

„Vater ist tot?“, fragte Eva. „Das kann doch nicht sein … das kann nicht sein …“

Onkel Pieter nickte langsam. „Ich fürchte, es ist so. Bedauerlicherweise stürzen des Nachts immer wieder Leute ins Wasser, gerade wenn sie angetrunken sind.“

Eva fühlte sich, als hätte sie einen Schlag mit einem riesigen Hammer bekommen. „Was für ein schrecklicher Tod! So plötzlich, so unerwartet. Von einem Moment auf den anderen, ohne vorhergehende Krankheit, ohne dass er Zeit hatte, sich vorzubereiten …“

„Der Tod ist uns so nahe, dass stets sein Schatten auf uns fällt“, zitierte Hasselaer eine Redensart.

Gerrit schwieg nur und sah auf den Boden.

Nach einigen Momenten fragte Eva: „Kann ich ihn sehen?“

„Der Leichnam wird noch heute Abend hierhergebracht. Dann könnt ihr von eurem Vater Abschied nehmen. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für euch tun kann, dann sagt mir Bescheid.“ Damit erhob Hasselaer sich, setzte den Hut auf und ging.

Eva schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich verstehe das nicht … Am Tag nach der Hochzeit. Gestern um diese Zeit haben wir noch mit ihm gefeiert, und jetzt soll er tot sein? Das muss eine Ursache haben.“

„Was für eine Ursache?“, fragte Gerrit.

„Es ist ein Fingerzeig Gottes“, sagte Eva. „Das ist doch offenkundig. Gestern haben wir meine Hochzeit gefeiert, heute wird Vater tot aus dem Wasser gezogen. Das steht miteinander in Verbindung. Gott hat Anstoß daran genommen, wie wir gestern Hochzeit gehalten haben … Und ich glaube, ich weiß auch schon, warum. Ich habe in der Kirche kein einziges Mal wirklich gebetet, ich habe nur daran gedacht, dass ich meinen Mann nicht wirklich liebe. Dies ist die Strafe. Vater musste büßen für meine Sünden.“

„Ach, Unfug!“, entgegnete Gerrit. „Das weißt du doch gar nicht.“

„Meinst du, es ist Zufall, wenn der Brautvater in der Hochzeitsnacht auf diese Weise umkommt? Das kannst du nicht ehrlich meinen! Einen solchen Zufall gibt es nicht. Vaters Tod hält eine Botschaft für mich bereit.“

„Welche Botschaft?“

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Es waren Bedienstete des Begräbnisunternehmers. Hinter ihnen erkannte Eva in schummrigem Laternenlicht einen Wagen mit einem Sarg. „Unser Beileid“, sagte der Mann, der geklopft hatte. „Es ist höchst ungewöhnlich, einen Sarg nicht aus einem Haus, sondern in ein Haus hineinzutragen. Aber es hat doch seine Richtigkeit damit, oder?“

„Ja“, war Evas tonlose Antwort.

Es war ein beklemmender Anblick, als nun nicht weniger als sechs Männer den ungewöhnlich großen Sarg vom Wagen schoben, anhoben und mit ihm ins Haus schwankten. Neben dem Bett stellten sie ihn ab. „Sollen wir den Toten hier aufbahren? Er ist allerdings völlig durchnässt.“

„Ja, bitte tut das.“

Die Männer öffneten den Sargdeckel und wuchteten den massigen Körper auf das Bett. Dann zogen sie ihre Hüte, senkten die Köpfe und murmelten im Chor: „Der allmächtige Gott gebe ihm eine fröhliche Auferstehung!“ Damit zogen sie sich zurück.

Eva trat näher. Das Gesicht ihres Vaters war dermaßen aufgequollen, dass er ihr wie ein Fremder erschien. Sie fiel auf die Knie, ergriff die klamme Hand des Toten und drückte ihre Stirn dagegen: „Verzeih mir, Vater, verzeih mir!“, flüsterte sie.

In den nächsten Tagen wusste Eva nicht, welches Gefühl in ihr stärker war: Schmerz oder Schuld. Aber ihr fehlte die Zeit, darüber nachzudenken, weil hundert Dinge erledigt werden mussten, um das Begräbnis vorzubereiten. Zum Glück waren sie und Gerrit nicht auf sich allein gestellt. Nach alter Sitte übernahmen es die Nachbarn, den Leichnam zu waschen, zu rasieren, zu kämmen und in seine kostbarsten Kleider zu hüllen – genau jene, die er auch auf der Hochzeit getragen hatte.

Coen, der ehrlich betroffen schien über den plötzlichen Tod seines Schwiegervaters, bestand darauf, ihm ein prächtiges Begräbnis auszurichten. Eva war ihm dankbar dafür. Es war die Tragödie ihres Vaters gewesen, dass er in einer Stadt voller Aufsteiger zu den Absteigern gezählt hatte. Wenn er jetzt wenigstens wie ein reicher Amsterdamer begraben wurde, war das vielleicht eine kleine Entschädigung.

Da Jacob Janszoon de Wit, der Arzt, davor warnte, den mit Wasser vollgesogenen Leichnam so lange wie üblich aufzubahren, fand das Begräbnis schon nach drei Tagen statt. Unter dem Läuten der Totenglocke setzte sich der Trauerzug nach Einbruch der Dämmerung in Richtung Kirche in Bewegung. Der Sarg stand auf einem mit schwarzen Tüchern behangenen Wagen, der von Laternenträgern flankiert wurde. „Das hätte ihm gefallen“, dachte Eva.

Pfarrer Sylvius stellte seine Predigt unter das Motto Der Himmel legt in alles Zweck. Zwar könne der Mensch mitunter nicht erfassen, was der Herr mit einer bestimmten Fügung beabsichtige, doch geschehe im Plan der göttlichen Vorsehung nichts ohne Sinn.

Wenig später senkte sich eine schwere schwarze Grabplatte über den Sarg von Claes Corneliszoon Ment. Dank einer großzügigen Spende Onkel Pieters fand er seine letzte Ruhestätte unmittelbar hinter der Kanzel.

Eva hatte die Predigt so sehr berührt, dass sie Pfarrer Sylvius um ein persönliches Gespräch bat, das zwei Tage darauf in seiner Wohnung stattfand. Sie berichtete ihm, dass sie sich schuldig fühle am Tod ihres Vaters, weil sie sich während ihrer Trauung nicht auf Gott konzentriert habe.

Johannes Sylvius erwies sich als taktvoller Seelsorger, anders als Eva es in Kenntnis seiner Strafpredigten befürchtet hatte. Er wisse, dass viele junge Frauen während ihres Hochzeitsgottesdienstes abgelenkt seien, versuchte er sie zu trösten. Es helfe nicht, wenn sie sich nun mit Vorwürfen quäle. Stattdessen gebe er ihr folgenden Rat: „Fragt Euch künftig bei jeder wichtigen Entscheidung, was Euer Vater von Euch erwartet hätte. So könnt Ihr ihm weiterhin einen Platz in Eurem Leben geben und ihm gleichzeitig posthum den Gehorsam zollen, von dem Ihr meint, dass Ihr ihn zu seinen Lebzeiten mitunter habt vermissen lassen.“

Die Muskatprinzessin

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