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Schreck in der Morgenstunde

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Der Tag, der das Leben von Eva Ment für immer veränderte, begann damit, dass sie morgens eine tote Maus in ihrem Bett fand. Die Maus war sehr klein und hatte eine spitze Nase. Sie lag auf dem Rücken mitten auf dem schneeweißen Laken und hatte alle viere von sich gestreckt. Da das Maul ein wenig offen stand, konnte Eva zwei winzig kleine vorstehende Zähne erkennen.

„Jasper?“ Eva sah sich im Zimmer um. Aber der Kater hatte seine Gabe wohl nur abgelegt und war wieder verschwunden. Sie ließ sich aus dem Bett gleiten, schlüpfte in ihren Unterrock und tappte über den knarrenden Dielenboden. Im Haus war es still. Die Tür des Nachbarzimmers quietschte, als sie sie öffnete. Sie spähte hinein. Es war dunkel, weil die Läden noch geschlossen waren, nur durch einen Spalt fiel etwas Licht von draußen herein.

Sie tastete sich bis zur gegenüberliegenden Wand vor, wo ein Schrankbett stand, und zog die Vorhänge zurück. Auf dem Kopfkissen zeichnete sich eine wilde Haarmähne ab. „Gerrit!“, rief sie und fasste ihn an der Schulter. „Gerrit!“ Sie rüttelte an ihm. „In meinem Bett liegt eine tote Maus. Hast du gehört? Jasper hat mir eine tote Maus ins Bett gelegt. Aufwachen!“

„Lass mich in Ruhe!“, tönte es dumpf aus dem Kissen zurück. Eva ließ sich nicht beeindrucken: „Warst du gestern doch wieder mit den Jungs unterwegs? Gerrit, antworte!“

„Hör auf damit! Du hast mir gar nichts zu sagen!“

„Natürlich habe ich das, ich bin deine ältere Schwester.“ Diesen Satz hatte sie schon hundert-, nein tausendmal gesagt, und jedes Mal schoss ihr dabei durch den Kopf, dass sie ihm auch die Mutter ersetzen musste. Die Mutter, die drei Tage nach seiner Geburt im Wochenbett gestorben war. Auch Eva selbst hatte keine Erinnerung mehr an sie, denn sie war erst ein Jahr alt gewesen, als es passiert war. Allerdings war ihr ihre Mutter schon mehrmals im Traum erschienen. Ihre Züge waren immer klar umrissen, sie hatte große Ähnlichkeit mit Gerrit. Denn ihre Verwandten wurden nicht müde zu betonen, dass Gerrit seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten sei.

Gerrit war siebzehn Jahre alt und bildhübsch. Dabei sah er ganz und gar nicht so aus wie ein typischer holländischer Junge. Immer wieder wurde er mit dem dummen Scherz aufgezogen, sein Vater sei wohl ein spanischer Soldat gewesen. Gerrit hatte einen schwarzen Lockenschopf, große dunkelbraune Augen, mit denen er mal herausfordernd, mal melancholisch dreinblicken konnte, eine lustige geschwungene Nase und einen sinnlichen Mund. Aber am meisten liebte Eva die Grübchen in seinen Mundwinkeln, die sich immer dann bildeten, wenn er etwas Herausforderndes, Freches oder Spöttisches gesagt hatte. Nur dann waren sie zu sehen – und nicht etwa, wenn er einfach nur freundlich lächelte.

Dass Eva seine Schwester sein sollte, konnte man eigentlich nicht glauben. Eva hatte eine Haut, die fast so weiß war wie das Laken, auf dem jetzt die tote Maus lag, und vor allem hatte sie lange rote Haare. Rot mit einem Stich Orange. So wie die Schärpe, die ihr Vater jedes Jahr zum Festessen seiner Schützengilde anlegte. Oder wie der Hummer auf dem Stillleben, das bei Onkel Pieter an der Wand hing und über das Eva als kleines Mädchen immer mit den Fingern gestrichen hatte, um zu sehen, ob der Hummer nicht doch lebte. Eva kannte niemanden in Amsterdam, der so rote Haare hatte wie sie. Ihr Vater, ja, der hatte zwar auch welche, aber sie waren lange nicht so kräftig rot, sie erinnerten Eva eher an das Rotbraun des Ziegelsteins, in dem die prächtige Fassade des Bartolotti-Hauses an der Herengracht gemauert war.

In ihrer Kindheit, als sie die Haare noch offen hatte tragen dürfen, war sie eine Attraktion auf der Straße gewesen. Die Leute waren stehen geblieben und hatten sie angegafft. Mehrmals hatten Fremde ihr ungefragt hindurchgestrichen; einer hatte sich sogar zuvor mal erkundigt, ob die abfärben könnten. Von anderen Kindern war sie oft gehänselt worden. „Hexe, Hexe!“, hatten sie gerufen. Jetzt war in der Öffentlichkeit immer nur der Haaransatz über der Stirn zu sehen, alles andere verschwand unter einer strengen weißen Haube. Eva fand das schade. Sie mochte ihre Haare. Sie machten sie zu etwas Besonderem. Nicht in dem Sinne, dass sie sich als etwas Besseres gefühlt hätte. Aber die Haare sicherten ihr von vornherein eine gewisse Eigenständigkeit. Sie war nicht irgendein beliebiges Mädchen, sie war Eva Ment, Tochter des Bierbrauers Claes Corneliszoon Ment, Schwester des angehenden Bierbrauers Gerrit Ment, Besitzerin eines schwarz-grau getigerten Katers namens Jasper, wohnhaft in dem Haus Der Weiße Adler am Oudezijds Voorburgwal, gleich gegenüber der Alten Kirche, die exakt in der Mitte von Amsterdam stand.

Der Name Der Weiße Adler stammte von einem Giebelstein über der Haustür, auf dem ein Vogel zu sehen war. Gerrit behauptete immer, es sei bestenfalls eine Möwe, aber alle anderen sprachen von einem Adler.

Außer den roten Haaren hatte Eva nach eigener Überzeugung nichts Besonderes an sich. Sie war weder schön noch hässlich, weder schlau noch dumm, weder gut noch schlecht. Ihr Französischlehrer – ein Katholik aus Wallonien – hatte ihr einmal gesagt, das sei ganz normal; ihre Persönlichkeit müsse sich im Laufe ihres Lebens erst noch herausbilden. Dagegen war ihr Vater überzeugt, dass der Charakter eines jeden Menschen seit Anbeginn der Welt unabänderlich feststand, da in Gottes großem Plan schon alles vorgezeichnet sei. Zum Beweis dafür verwies er darauf, dass Gerrit von Geburt an ein Tunichtgut und Eva ein Trotzkopf gewesen sei. Er fand, dass sie zu oft Widerworte gab. Im Übrigen war sie ihm zu dünn. In regelmäßigen Abständen pflegte er sie daran zu erinnern, dass Männer füllige Frauen bevorzugten, was ohne Zweifel stimmte.

„Du kommst jetzt und räumst die Maus für mich weg!“, befahl Eva und begann, ihren Bruder aus dem Bett zu ziehen. Er lag vollständig bekleidet darin, nur die Stiefel hatte er ausgezogen.

„Kannst du das nicht selber machen?“, stöhnte er, ließ sich dann aber doch aus seiner Betthöhle auf den Boden gleiten, raffte sich auf und schlurfte mit hängenden Schultern und blinzelnden Augen in ihr Zimmer. Vor dem Bett angekommen, hob er die Maus mit zwei Fingern am Schwanz hoch, riss das Fenster auf und warf sie in hohem Bogen in den Kanal vor ihrem Haus. Dahinter ragte der Turm der Alten Kirche auf; die goldenen Zeiger der Uhr standen auf Viertel nach sieben. „Und jetzt lässt du mich in Ruhe!“

„Habt ihr wieder durchgezecht?“, fragte Eva. „Du hattest doch fest versprochen, dich gestern mal zurückzuhalten, weil heute die Kirmes anfängt.“

Wortlos verließ er das Zimmer, im nächsten Moment hörte sie ihn seine Tür zuschlagen.

Der Junge trank zu viel. Einen über den anderen Abend zog er mit seinen Freunden los und kam jedes Mal erst spät in der Nacht wieder heim. Wenn sie nicht im Wirtshaus saßen, vertrieben sie sich die Zeit mit Golf oder Tennis. Tennis spielten sie in einer Halle, was teuer war, und beim Golf hatten sie mit den harten Bällen schon mehrfach Fensterscheiben zu Bruch gehen lassen, was ebenfalls eine Rechnung nach sich zog, wenn sie erwischt wurden.

Eva zog das Betttuch ab, schließlich hatte darauf die Maus gelegen. Bettwäsche musste, was sie betraf, immer pieksauber sein. Aus einer Truhe, die unter ihrem Fenster stand, holte sie ein neues weißes Laken hervor. Als sie mit dem Beziehen fertig war, benetzte sie sich Hände und Gesicht mit etwas Wasser aus einer Schüssel. Dann rief sie nach Tanneke, der Dienstmagd. Die stämmige junge Frau musste ihr beim Ankleiden helfen, denn nie und nimmer hätte sie sich selber in das steife Korsett zwängen können. Tanneke war jedes Mal eine ganze Weile damit beschäftigt, die Rückenkordeln festzuziehen, um dadurch Evas Busen platt zu drücken und ihre sowieso schon nicht üppigen Rundungen zu verstecken, so wie es die Mode gebot. Auch das Anlegen des Rockes war nicht gerade einfach: Sie musste ihn über den sogenannten Weiberspeck spannen, eine dick ausgepolsterte Stoffrolle, die weit von der Taille abstand. So fiel der Rock in einigem Abstand vom Körper nach unten, wodurch die Hüften besonders betont wurden. Anschließend half Tanneke ihr noch in ein eng anliegendes schwarzes Leibchen. Darüber kam ein langes, ärmelloses Gewand aus schwarzem Satin. Dann konnte Tanneke gehen. Vor ihrem Spiegel band sich Eva eine weiße Halskrause um und verstaute ihre rote Mähne unter einer Spitzenhaube, die mit Spangen befestigt wurde. So zurechtgemacht, ging sie die Treppe hinunter in den Saal.

In diesem größten Wohnraum des Hauses befand sich der Schlafplatz ihres Vaters, ein Säulenbett mit Baldachin. Er pflegte jedoch schon in der Morgendämmerung aufzustehen und die Brauerei aufzusuchen. Umso mehr überraschte es Eva, als jetzt die Tür zum Nebenzimmer aufging und ihr Vater hereinkam. „Ah, da bist du ja!“, sagte er. „Guten Morgen. Wir müssen etwas besprechen.“

„Ihr seid nicht in der Brauerei?“

„Nein, wie du siehst. Heute gibt es zunächst etwas Wichtigeres.“ Er wandte sich der Treppe ins Souterrain zu und rief nach unten: „Tanneke – Frühstück!“ Mit einer Handbewegung lud er Eva dazu ein, an dem großen Esstisch in der Mitte des Saals Platz zu nehmen. Er selbst ließ sich auf einen der mit Leder gepolsterten Stühle fallen.

Claes Corneliszoon Ment war ein stattlicher Mann, wie man so schön sagte, was jedoch nichts anderes bedeutete, als dass er außerordentlich fett war. Für seine Wämser und Pluderhosen benötigte der Schneider doppelt so viel Stoff wie normal. In gewaltigen Wülsten hing ihm der Speck im Sitzen über die Oberschenkel. Das Merkwürdige war, dass sein Kopf nicht so recht dazu zu passen schien. Im Verhältnis zu dem massigen Leib wirkte er winzig, und in seinen Gesichtszügen hatte sich Claes Corneliszoon Ment einen Hauch von Jugendlichkeit bewahrt. Es sah aus, als hätte man den Kopf auf den falschen Körper geschraubt.

Eva konnte sich erinnern, dass ihr Vater früher weit weniger dick gewesen war. Aber je mehr seine Brauerei unter der Konkurrenz zugezogener Bierbrauer gelitten hatte, je radikaler er das Unternehmen hatte verschlanken müssen, desto stärker war er selbst in die Breite gegangen. Nun aber war offenbar der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr weiterging. Dicker als jetzt konnte er nicht mehr werden, und auch die geschäftliche Situation der Brauerei konnte sich kaum noch verschlechtern. Schon einige Male hatte ihr Vater erwähnt, dass er sich zur Ruhe setzen wolle. Unklar war allerdings, wer seine Schulden bezahlen sollte. Denn dass er Schulden hatte – hohe Schulden – war sicher.

„Kind“, hob ihr Vater jetzt an. „Ich habe eine sehr gute Nachricht für dich. Eine sehr gute Nachricht für uns alle. Du kannst dich freuen!“ In diesem Moment kam Tanneke mit zwei Kannen Frühstücksbier herein. Sie stellte die Kannen auf den Tisch und noch zwei Trinkbecher daneben. Dann hörte man ihre Holzschuhe wieder die Treppe hinunterklappern.

„Um was geht es?“, fragte Eva. Sie hatte ein ungutes Gefühl.

„Schau mal“, sagte er, „du weißt, dass unser Geschäft nicht gut läuft. Meine Gläubiger bedrängen mich immer stärker, sie fordern die Tilgung meiner Schulden, sie rauben mir meine letzten Kunden, indem sie mich mit Spottpreisen unterbieten. Das sind Preise, bei denen sie selbstverständlich draufzahlen, aber es ist ihnen alles egal, wenn ich nur zugrunde gehe …“

„Vater“, unterbrach ihn Eva, „was wolltet Ihr mir sagen?“

Einen Moment lang blickte er sie überrascht an, so als wüsste er gar nicht, was sie meinte, dann fasste er sich. „Ja, ja, du hast recht.“ Jetzt kam Tanneke zurück und stellte Brot, Butter und einen großen Käselaib auf den Tisch. Claes Corneliszoon Ment schnitt sofort eine dicke Scheibe Käse ab und belegte sich ein Brot. Dann begann er zu kauen. Offenbar wartete er darauf, dass die Magd wieder in der Küche verschwand. „Nimm dir auch etwas, Kind, du musst essen!“ Eva ging nicht darauf ein.

Sobald sie wieder allein waren, fuhr ihr Vater fort: „Schau, Eva, es geht um Folgendes: Du bist nun achtzehn Jahre alt.“ Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da wusste sie bereits, was er als Nächstes sagen würde. Und sie behielt recht. „Das ist ohne Zweifel das richtige Alter, um zu heiraten.“

Ein Schock durchfuhr sie. Das unangenehme Gefühl baute sich im Bauch auf, stieg empor bis zum Hals und schnürte ihr die Kehle zu. Er wollte sie verheiraten! Von einem Moment auf den anderen hatte sich ihr Leben verändert. Der große Zeiger am Turm der Alten Kirche mochte sich noch nicht einmal bewegt haben, so klein war die Zeiteinheit, die seit der Mitteilung dieser Botschaft verstrichen war, und doch würde ihr Leben fortan in zwei Hälften zerfallen: in die Zeit davor und danach.

Eva brauchte einige Augenblicke, bis sie wahrnahm, dass ihr Vater weiter auf sie einredete. „… und deshalb glaube ich wirklich, dass es ein Geschenk des Herrn ist! Dass der Herr uns nach einer Zeit der Prüfung nun etwas Gutes tun will.“ Er machte eine Pause. „Nun, willst du denn nicht wissen, wer es ist?“

Eva rührte sich nicht. „Also. Als ich gestern Abend bei Onkel Pieter war, hat er mir gesagt, er hat den perfekten Bräutigam für dich. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben. Es ist wirklich eine fantastische Partie, vielleicht die beste in ganz Holland! Meine liebe Eva, dieser Mann könnte jede Frau haben. Aber er hat ein Auge auf dich geworfen!“

„Kenne ich ihn?“

„Er hat dich im Gottesdienst gesehen. Übrigens ist er ein sehr frommer Mann, vielleicht ist ihm deine ehrliche Andacht aufgefallen. Jedenfalls ist er auf Brautschau und hat Onkel Pieter gebeten, einen Kontakt herzustellen.“

„Warum Onkel Pieter?“

„Du weißt doch, dass Onkel Pieter enge Verbindungen zur Vereinigten Ostindischen Compagnie hat. Und dieser hohe Herr steht in Diensten der Compagnie.“

Er schwieg wieder. Vermutlich wartete er darauf, dass Eva nach dem Namen fragen würde, und als sie es nicht tat, sagte er: „Es ist Jan Pieterszoon Coen, der langjährige Generalgouverneur der Compagnie in Ostindien. Er war Herr und Meister über alle Besitzungen der Compagnie auf den Gewürzinseln im Indischen Ozean und an der indischen Küste. Onkel Pieter hält ihn für den fähigsten Mann, auf den die Compagnie je hat bauen können. Und, Eva, die Compagnie hat ihn für seine Dienste reich belohnt. Er ist vermögend.“

„Und deshalb der Richtige, um unsere Schulden zu bezahlen“, dachte Eva, aber sie sprach es nicht aus. Ihr Vater, der bisher beim Reden meist an die Wand oder an die Decke geschaut hatte, sah ihr nun ins Gesicht, und sie spürte, dass er darin das Maß ihrer Erschütterung ablesen konnte. „Eva!“ Er ergriff ihre Hand. „Eva! Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt alles sehr plötzlich für dich kommt. Aber es ist ein Grund zu allergrößter Freude. Wir hätten nie damit rechnen können, dass ein so großer Mann dich erwählen würde. Es ist so unerwartet, dass man dahinter nur das Wirken des Herrn vermuten kann. Du brauchst gar nicht erst auf die Suche nach einem geeigneten Ehegatten zu gehen, dieser Sorge bist du enthoben. Das Glück ist ganz von allein zu dir gekommen.“

An dieser Stelle trat Tanneke wieder in den Saal. „Ich habe noch Hering – will jemand Hering?“ Evas Vater ließ ihre Hand los: „Ja, gewiss doch, frag nicht erst, bring ihn rauf!“ Dann beugte er sich über den Tisch. Eva wusste, dass er ihr in die Augen schauen wollte, aber sie hielt den Blick fest auf den Eichentisch gerichtet. Nur wenige Dinge auf der Welt kannte sie so gut wie die Maserung dieser Eichenplatte, an der sie seit Kleinkindertagen ihre Mahlzeiten eingenommen hatte. Da war die breite Kerbe, die entstanden war, als sie einmal versehentlich den großen Silberpokal hatte fallen lassen. Sein Fuß hatte sich tief in das Holz gebohrt, und die Furche, die dadurch entstanden war, glich den Plattbodenschiffen, die die Amsterdamer Grachten befuhren. Rechts darüber befand sich ein Holzauge mit einem schwarzen Strich in der Mitte. Eva fand, dass es so aussah wie ein Auge von Jasper.

„Wie alt ist er?“ Eva kam ihre eigene Stimme plötzlich fremd vor.

„Er … er dürfte so um die vierzig sein.“

Jetzt sah Eva vom Tisch auf. „Dann ist er mehr als doppelt so alt wie ich!“

„Nun, er sieht jünger aus, und er ist groß, enorm groß! Er war auch noch nie verheiratet, sein ganzes Leben hat er bisher der Compagnie geweiht. Morgen schon wirst du ihn kennenlernen und kannst dich dann selbst davon überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Wir werden ihn morgen vor der Kirche treffen und gemeinsam mit ihm den Gottesdienst besuchen. Anschließend kommen er und Onkel Pieter zum Mittagessen mit zu uns.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Wie meinst du das, wenn du nicht willst?“

„Wenn ich ihn nicht heiraten will.“

„Eva, versteh doch, dies ist der Glücksfall deines Lebens, dies ist weit mehr, als du und ich je hätten erwarten können.“ Tanneke marschierte mit einer Platte herein, auf der drei entgrätete Heringe lagen. Evas Vater fasste den einen beim Schwanz, sperrte den Mund auf und biss den ganzen Fischleib ab. Den Schwanz warf er auf die Platte zurück. Anschließend wiederholte er die Prozedur noch zweimal. Dann wuchtete er seinen massigen Körper mühsam vom Stuhl hoch.

„So, mein Liebes, und nun muss ich weg. Du darfst heute Abend mit Gerrit auf die Kirmes, das hatte ich dir ja versprochen, und ich halte mein Wort. Ich verlange aber – und das ist mir ernst – dass ihr es nicht zu doll treibt. Morgen ist ein wichtiger Tag für dich, vielleicht der wichtigste in deinem Leben. Ich möchte nicht, dass du oder auch Gerrit morgen mit dunklen Ringen unter den Augen am Mittagstisch sitzt. Beim ersten Rufen des Nachtwächters seid ihr zu Hause, hast du gehört?“

Er setzte sich seinen Hut auf. In der Tür zum Vorderhaus blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. „Eva, nimm dich jetzt zusammen! Wenn ich zurückkomme, will ich ein fröhliches Gesicht sehen!“ Damit verschwand er.

Eva blieb regungslos auf ihrem Stuhl sitzen, während Tanneke den Tisch abräumte. „Was ist los?“, fragte sie. „Ach, nichts“, murmelte Eva. Sie hatte keine Lust, Tanneke ins Vertrauen zu ziehen. Ja, wenn es Els gewesen wäre, ihre alte Magd und Kinderfrau, der hätte sie alles erzählt. Aber Els war vor zwei Jahren an einer Krankheit gestorben. Seitdem hatten sie Tanneke hier. Und die war eben nur eine Dienstmagd.

Eva ging hinauf in ihr Zimmer. Das Fenster stand noch offen. Es war ein schöner Septembermorgen, und die hellen Klänge des Glockenspiels der Alten Kirche wehten zu ihr über das ruhige Wasser des Oudezijds Voorburgwal.

Sie schaute hinaus. In dem Haus mit dem heiligen Nikolaus im Giebel gleich gegenüber wohnte ein junges Paar, Stephanus und Isabella. Eva hatte nie mit den beiden gesprochen, aber sie hatte ihnen oft von ihrem Fenster aus zugeschaut. Wenn sie das Haus verließen, trat Isabella immer als Erste hinaus, Stephanus hielt ihr von innen die Tür auf. Dann hakte sie sich bei ihm ein, sie gingen zusammen die paar Stufen von der Haustür bis zum Bürgersteig hinunter und spazierten davon. Meist waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft. Aber manchmal geschah es, dass Stephanus plötzlich anhielt, Isabella unvermittelt ansah und dann sanft mit der Hand ihre Wange berührte und sie mitten auf den Mund küsste. Mit Sicherheit wusste er, dass viele Leute diese öffentliche Zärtlichkeit nicht guthießen, aber das störte ihn nicht. Man ahnte das, auch wenn man die beiden nur von einem offenen Fenster auf der anderen Kanalseite aus beobachtete. Stephanus und Isabella waren ein echtes Liebespaar. Evas mittlerweile verstorbene Freundin Judith hatte gehört, dass Isabellas Eltern mit Stephanus zunächst gar nicht einverstanden gewesen waren, weil sein Vater nur ein einfacher Schreiber im Rathaus war, wohingegen es Isabellas Familie im Ostseehandel zu Wohlstand gebracht hatte. Aber die beiden hatten sich darüber hinweggesetzt. Es war eine Liebesheirat gewesen. So etwas hatte sich Eva auch immer für sich vorgestellt. Und jetzt: ein doppelt so alter Mann namens Coen. Was war das überhaupt für ein Name? Angenehm klang er nicht.

Plötzlich spürte Eva ein vertrautes Kitzeln an ihren Unterschenkeln. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Jasper ins Zimmer gekommen und strich ihr unter ihrem nicht ganz bodenlangen Rock um die Beine. Sie bückte sich nach unten und kraulte ihn unter dem Kinn, wobei er genießerisch die Augen schloss. „Jasper, mein Kleiner“, sagte sie leise. „Du bleibst in jedem Fall bei mir.“

Die Muskatprinzessin

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