Читать книгу Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen - Страница 9
Erste Begegnung
Оглавление„Komm jetzt endlich!“
Den ganzen Tag über war Eva wie gelähmt gewesen. Sie hatte auf ihrem Bett gelegen, aus dem Fenster geschaut und sich geweigert, zum Essen zu erscheinen. Erst jetzt, da Gerrit im Türrahmen stand, raffte sie sich auf. Eigentlich hatte sie an diesem ersten Tag der Septemberkirmes ihre besten Ärmel mit den goldenen Stickereien anlegen wollen. Sie konnte die Ärmel ihres schwarzen Leibchens abtrennen und dann andere mit Schleifen an den im Schulterbereich eingearbeiteten Ösen befestigen. So ließen sich Stoffe und Farben variieren. Aber unter den gegenwärtigen Umständen verspürte sie keine Lust mehr dazu. „Ja, ich komme“, sagte sie und schloss das Fenster.
Gerrits Aufzug war dergestalt, dass sie laut darüber gelacht hätte, wenn ihr nicht so elend zumute gewesen wäre. Auf den ersten Blick glich er einem Kanarienvogel, denn sowohl Wams wie Pluderhose waren von einer grellgelben Farbe. Die Unterschenkel steckten in so eng sitzenden weißen Strümpfen, dass sie Eva an zwei Würstchen erinnerten, deren Pelle gleich platzen würde. Die Schuhe hatten hohe Absätze und wurden fast vollständig von einer feuerroten Schleife bedeckt. Das Komischste aber war ein gewaltiger Schlapphut mit langen roten Federn. Die Krempe hing Gerrit so tief ins Gesicht, dass er kaum etwas sehen konnte. Auch der Degen, der martialisch im Gürtel steckte, war eindeutig überdimensioniert.
„Das muss ja ein Vermögen gekostet haben“, meinte Eva. „Hab ich günstig auf dem Neumarkt gekauft“, entgegnete ihr Bruder. „Gebraucht. Stammt von einer Zwangsversteigerung. Schick, was?“
„Na ja.“
„Gut, wenn man so wie du auf Schwarze Witwe macht …“ Er musterte abfällig ihre konservativ-dunkle Aufmachung. „Du könntest die Haube abnehmen, dann hättest du wenigstens ein kleines Leuchtfeuer auf dem Kopf, aber so wie du jetzt aussiehst, schaut dir sowieso kein Mann hinterher.“
„Das ist auch gar nicht mehr nötig“, entgegnete Eva.
Gerrit bemerkte die Anspielung nicht, sondern wandte sich zum Gehen. Es bereitete ihm sichtlich Schwierigkeiten, auf den hochhackigen Schuhen die Treppe hinunter zu balancieren und dabei nicht über den Degen zu stolpern, der an seinem Gürtel wild umherbaumelte und ihm immer wieder zwischen die Beine geriet. „Säbel dir bloß nicht deine beiden Golfbälle ab!“, bemerkte Eva und wunderte sich darüber, dass sie noch scherzen konnte. Gerrit revanchierte sich auf der Straße, indem er den Degen aus dem Gürtel zog und mit der Spitze über den gepflasterten Gehweg kratzte – er wusste genau, dass Eva das hohe, quietschende Geräusch nicht ausstehen konnte.
Amsterdam war märchenhaft verwandelt. In der Abenddämmerung warf das Licht der Fackeln bizarre Schatten auf Buden und Zelte. Überall gab es Verkaufsstände, dazu Puppenspieler, Zauberer und Quacksalber, die ihre Pillen und Pulver anpriesen. Ein Theater ließ Figuren aufmarschieren, die scheinbar von selbst Arme und Beine bewegten – einer der Umstehenden sagte, sie würden von einem geheimen Uhrmechanismus gesteuert. In der Mitte des Jahrmarkts stand ein fast haushoher bunt bemalter Goliath aus Holz, der den Kopf hin und her drehte und dabei mit den Augen rollte.
Akrobaten führten Kunststücke vor. Zwei Männer tauchten ihre Hände in einen Tiegel voll geschmolzenen Bleis – es schien ihnen nichts auszumachen. Ein Engländer schluckte flüssigen Schwefel und kaute Kohlen, ein Pferd führte seine Rechenkünste vor. Bienen flogen auf Befehl ihres Besitzers in den Korb zurück. Eva und Gerrit bestaunten eine Pyramide aus Menschen, die in gefährlicher Höhe ihre Künste vorführten. Die größte Menschentraube stand vor einer Schauspielbühne. Eva sah, wie ein Mann im Gewand des Todes einen jungen Gesellen mit sich fortziehen wollte.
Plötzlich schossen Eva Tränen in die Augen. Warum gerade jetzt, konnte sie nicht sagen. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Schwesterchen, was hast du?“ Gerrit legte den Arm um sie.
„Vater will mich verheiraten.“
„Was?“
„Ja. Heute hat er’s mir gesagt.“
„Und mit wem?“
„Irgendein hohes Tier von der Compagnie. Vierzig Jahre oder älter. Der könnte mein Vater sein.“
„Hat er Geld?“
„Ja, was denkst du denn? Das ist doch der Grund, warum ich ihn heiraten soll. Ich soll ihn heiraten, damit Vater seine Schulden bezahlen kann.“
„Verdammt!“, fluchte Gerrit. „Das ist heftig, richtig heftig. Du darfst dir das nicht gefallen lassen! Du musst dich weigern!“
„Das werde ich vielleicht auch. Aber Vater ist völlig begeistert.“ Sie äffte seinen Tonfall nach: „Das hättest du niemals erwarten können, dass sich so ein hoher Herr um dich bemüht!“
„Wenn du dich weigerst, kann er dich nicht zwingen!“, meinte Gerrit. Er schien ehrlich schockiert. „Stell dich quer!“
„Das sagt sich so leicht“, wandte Eva ein. „Du weißt doch, dass Vater kurz vor dem Bankrott steht.“
In diesem Augenblick rannten drei Gestalten auf Gerrit zu und warfen ihn zu Boden. Einer beugte sich über ihn und machte sich an seinem Gesicht zu schaffen. Eva packte ihn an der Schulter und versuchte, ihn wegzuziehen. „Lass das, lass ihn los!“ Doch der Unbekannte ließ sich davon nicht beeindrucken. Als er schließlich aufhörte und sich wieder hinstellte, sah Eva, dass Gerrits Gesicht weiß war. Es war ein alter Kirmesscherz, dass sich junge Leute überfielen und das Gesicht ihres Opfers mit Wachs und Mehl einrieben. Eva musste bei dem Anblick unwillkürlich an den geschminkten Schauspieler denken, der auf der Bühne den Tod verkörpert hatte.
Gerrit hatte sich inzwischen aufgerappelt und versuchte zu Evas Entsetzen, seinen Degen zu ziehen. Weil der sich aber irgendwo verhakt hatte, gelang ihm das nicht – wütend rüttelte er am Knauf seiner Waffe. Die drei Männer, die ihn niedergeworfen hatten, brachen in schallendes Gelächter aus. Gereizt bis aufs Blut, wollte Gerrit mit bloßen Händen auf sie losgehen, doch mit einem Mal ließ er die geballten Fäuste sinken und begann ebenfalls zu lachen: „Willem … Lucas … Nicolaes …“, prustete er. „Ihr seid wohl verrückt geworden, was? Na wartet, ich werd’s euch schon noch heimzahlen!“
Nun schlugen sich alle vier begeistert auf die Schulter und boxten einander gegen die Brust. Dazu grölten sie französische Begrüßungsformeln. Gerrit wandte sich an Eva: „Ich dreh noch kurz eine Runde mit denen.“
„Gerrit, Vater hat gesagt, du musst heute pünktlich zu Hause sein!“
Seine Kumpane lachten, doch Eva achtete nicht darauf. „Ich bin dagegen, dass du mitgehst. Man muss um dein Leben fürchten. Der geringste Anlass, und du verlierst die Beherrschung und greifst zum Degen, wie man eben gesehen hat. Das kann sehr schnell böse enden, besonders auf der Kirmes.“
„Keine Angst“, rief ihr einer der jungen Männer zu, „wir passen auf ihn auf!“ Schon verschwanden sie mit ihm in der Dunkelheit.
„Das ist die schlimmste Kirmes, die ich jemals erlebt habe“, dachte Eva. Und jetzt musste sie sich auch noch ohne männliche Begleitung auf den Heimweg machen. Eine Frau am Kirmesabend allein auf der Straße – das war das reinste Spießrutenlaufen. Sie zog den Kopf ein und beeilte sich wegzukommen. Aus den Augenwinkeln fiel ihr ein junges Liebespaar auf: Er hatte ihr gerade an einem Stand einen Kirmeskuchen gekauft. Mit Zuckerguss stand darauf geschrieben: In Liebe. Eva ging noch schneller.
Am nächsten Morgen war Gerrit nicht zu Hause. Claes Corneliszoon Ment bekam einen Wutanfall, so wie Eva ihn selten erlebt hatte. Sein kleiner Kopf lief puterrot an. Weil Gerrit nicht anwesend war, musste sich Eva einiges anhören. Sie habe nicht auf ihren kleinen Bruder aufgepasst, hielt der Vater ihr vor. „Kleiner Bruder?“, entgegnete sie. „Der ist einen Kopf größer als ich.“
Insgeheim freute sich Eva, dass der Tag, dem ihr Vater so große Bedeutung beimaß, nicht so begann, wie er sich das vorgestellt hatte. Gerrits Verschwinden fand sie allerdings beunruhigend. Doch für Nachforschungen blieb keine Zeit, sie mussten zur Kirche.
Eva hatte sich so verhalten wie möglich gekleidet. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, Coen gefallen zu wollen. Ihr Vater hatte sie zwar kurz gemustert, aber nichts gesagt – für einen Gottesdienstbesuch hielt er die dezente schwarze Aufmachung vermutlich angemessen.
Bis zur Alten Kirche ging es nur über eine Brücke. Eva hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden, so gut kannte sie ihn. Das alte Gemäuer war ihre Taufkirche, und solange sie zurückdenken konnte, war sie mindestens einmal in der Woche dort gewesen.
Eva hatte schon den ganzen Morgen ein brennendes Gefühl in der Magengegend, und als sie nun auf dem Platz vor der Kirche eintrafen, nahm es an Heftigkeit zu. Mehrere kleine Gruppen von Kirchgängern standen beisammen. Ihr Vater sah sich kurz um, dann entdeckte er ihren Onkel, und sofort geschah, was Eva schon so häufig an ihm beobachtet hatte: Wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken, beugte ihr Vater den Oberkörper ein wenig vor und setzte ein anbiederndes Lächeln auf. Dies hatte ohne Zweifel damit zu tun, dass er in Pieter Hasselaer alles sah, was er auch gern gewesen wäre: guldenschwer und geachtet. Hasselaers Brauerei stand im Ruf, eine Goldgrube zu sein, doch mehr noch hatte der Herr Schwager mit Grundstücksspekulationen verdient. Dabei kam ihm zugute, dass er als Ratsmitglied immer etwas früher als die anderen wusste, wo als Nächstes neues Bauland für den nie abreißenden Strom von Neubürgern erschlossen werden sollte.
Eva fragte sich, ob einer von Onkel Pieters Gesprächspartnern ihr künftiger Ehemann sein könnte. Es fiel ihr auf, dass einer von ihnen – er stand mit dem Rücken zu ihr – ein geradezu hünenhafter Kerl war. Sollte das etwa …?
Pieter Hasselaer hatte sie nun auch gesehen und winkte sie ein wenig gönnerhaft heran. Schon im Näherkommen nahm Evas Vater den Hut ab. Die Männer öffneten den Kreis. „Guten Morgen, Onkel Pieter“, grüßte Eva. Hasselaer zog den Hut. „Guten Morgen, Eva. Das hier ist Herr van Neck, ich glaube, ihr seid euch schon begegnet.“ Eva senkte ehrfürchtig den Kopf – der alte van Neck war eine Amsterdamer Berühmtheit, denn er hatte ein Vierteljahrhundert zuvor als Pionier des Ostindienhandels sagenhafte Profite erzielt. „Das hier“, fuhr Hasselaer fort, „ist Herr Visscher.“ Der Name sagte Eva nichts. Sie verbeugte sich routiniert.
Hasselaer wandte sich nun dem Letzten in der Runde zu. Es war der Hüne. „Und das hier ist General Coen.“ Eva durchzuckte es. Langsam hob sie den Kopf. Ihre Augen befanden sich gerade einmal auf Brusthöhe des Mannes. Sie musste zu ihm emporschauen. Er war hager, fast ausgezehrt, mit hervorstehenden Backenknochen und einem schmalen Mund, der von Knebel- und Spitzbart eingerahmt wurde. Die Nase war groß und gebogen wie der Schnabel eines Raubvogels. Die kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, doch ihr Blick war so durchdringend, dass Eva unwillkürlich wieder zu Boden schaute.
Jetzt erinnerte sie sich, dass ihr Coen in der Kirche schon einmal aufgefallen war – sie hatte ihn nur von Weitem gesehen, und doch hatte er ihr Respekt und sogar etwas Furcht eingeflößt. Es war nicht allein seine Riesenhaftigkeit, es war der Ernst, der von ihm ausging, gepaart mit einer, wie es schien, natürlichen Überlegenheit. Zusammen ergab dies eine Ausstrahlung von zwingender Autorität.
Coen hatte noch nicht gesprochen, und Eva hatte ebenfalls geschwiegen. Ohne den Blick ganz zu heben, brachte sie ein „Sehr erfreut“ heraus. Es war eher gehaucht als gesprochen. Coens Lippen bewegten sich nicht. Eva sah erneut zu ihm auf. Nun endlich rührte er sich. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, verehrtes Fräulein Ment.“ Seine Stimme war nicht ganz so tief, wie sie erwartet hatte. „Sollten wir jetzt reingehen?“ Die anderen nickten. Für Eva entstand ein Augenblick der Unsicherheit, da sie nicht wusste, ob sie hinter Coen hergehen sollte. Doch da war schon ihr Vater zur Stelle und bedeutete ihr, sich neben ihm zu halten. Auch die Ehefrauen von Hasselaer, van Neck und Visscher, die sich nahe der Eingangstür miteinander unterhalten hatten, schlossen sich an.
Die Gesellschaft verteilte sich über zwei Bänke. Eva versuchte, sich zu sammeln. Es beruhigte sie immer, in der Kirche zu sein. Die kahlen, weiß getünchten Wände und Säulen und die durchsichtigen, farblosen Fenster ließen sie tiefer und langsamer atmen. Hier gab es nichts, was die Augen ablenken konnte. Nach einiger Zeit legte sich das Schwirren im Kopf, die Gedanken ordneten sich. Mehr und mehr zog sie sich in ihr inneres Gehäuse zurück.
Eva horchte auf das Rascheln der Kleider und das Ächzen der Bänke, wenn sich wieder jemand setzte. Einige tuschelten. Sonst war es still, denn die Calvinisten hatten neuerdings durchgesetzt, dass die Orgel nicht mehr bespielt werden durfte. Sie meinten, dass die Musik vom Wort Gottes ablenke. Eva dachte daran, wie sehr sie die Orgelmusik immer geliebt hatte. In ihren Kindertagen hatte in der Alten Kirche noch der große Organist Jan Pieterszoon Sweelinck gewirkt. Er war einer der warmherzigsten Menschen, die Eva jemals getroffen hatte, und der Einzige, der mit Kindern genauso freundlich umging wie mit Erwachsenen. Einmal – sie musste ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein und Gerrit acht – hatten sie ihm einen ganzen Vormittag beim Üben zugehört. Als sie schließlich aufgestanden waren, hatte er sie wieder zurückgerufen und gebeten, noch etwas zu bleiben. Sie dürften auch aussuchen, was er spiele. Eva hatte sich daraufhin ihr Lieblingslied Der lustige Mai gewünscht. Sweelinck spielte es nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, und jedes Mal hörte es sich anders an. Gerrit, der schon damals ein famoser Fiedler war, saß die ganze Zeit mit offenem Mund in der Kirchenbank. Eva hatte nie vergessen, was er draußen zu ihr gesagt hatte: „Gott spricht gar nicht durch den Pfarrer. Er spricht durch Herrn Sweelinck.“
Pfarrer Sylvius predigte an diesem Sonntag passend zur Kirmes über die Verderbtheit der Jugend. Die Donnerpredigt schien wie für Gerrit bestimmt, doch der fehlte noch immer. Eigentlich sollten sie alle gehen und ihn suchen, anstatt hier in der Kirche den Moralpredigten des Pfarrers zu lauschen, dachte Eva. Aber es ging ja um Wichtigeres. Ihr graute davor, wenn sie an das gemeinsame Mittagessen dachte.
Schließlich forderte Johannes Sylvius die Gemeinde auf, in sich zu gehen und über ihre Sünden nachzudenken. Andächtige Stille trat ein. Die Ruhe war nahezu vollständig. Bis plötzlich … ein Knarren! Eva drehte sich um und sah, dass das Hauptportal einen Spalt weit offen stand. Eine Hand, die einen sehr großen Hut festhielt, tauchte auf, dann ein Gesicht – es war Gerrit. So leise wie möglich versuchte er, die Tür wieder zu schließen, aber offenbar aus Nervosität ließ er sie nicht richtig einschnappen, sodass sie noch einmal aufging. Daraufhin warf er sie mit größerem Schwung ins Schloss, was ein dumpfes Poltern zur Folge hatte. Nun reckte etwa die Hälfte der Gemeinde den Hals. Eva winkte dem Störenfried, was ihr sofort einen leichten Ellbogenstoß ihres Vaters einbrachte. Mit gesenktem Kopf steuerte Gerrit auf ihre Bank zu. Alle rückten etwas auf, sodass er sich noch neben ihr in die Bank quetschen konnte. Er sah schlimm aus. Die Haare hingen ihm verstrubbelt und fettig in der Stirn, im Gesicht sah man noch Reste der Wachs-Mehl-Mischung, mit der ihn seine Freunde eingeschmiert hatten, und sein gelbes Kostüm war verdreckt. Sein Vater warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Eva flüsterte: „Schön durchgefeiert?“
„Maul halten!“, fauchte Gerrit und starrte düster vor sich hin.
Trotz dieser Frechheit blieb Eva auch nach dem Ende des Gottesdienstes dicht bei Gerrit. Alles war besser, als neben Coen stehen zu müssen. Als sie ihr Haus, den Weißen Adler, erreichten, hatte Claes Corneliszoon Ment kurz Gelegenheit, seinem Sohn etwas zuzuzischen: „Wir sprechen uns noch!“
Am Tisch nahm Eva rechts von ihrem Vater Platz, Gerrit links. Ihnen gegenüber saßen Coen, Onkel Pieter und dessen Frau Aechtje. Diese begann sofort davon zu erzählen, wie sie beide vor einigen Wochen den Prinzen von Oranien – den Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte – und dessen Frau Amalie zu Solms-Braunfels in Den Haag besucht hatten. „Ich glaube, die Gräfin Amalie hat einen Narren an mir gefressen“, behauptete Aechtje. „Sie konnte sich gar nicht mehr von mir losreißen. Wir haben sogar den kleinen Prinzen gesehen – ein außerordentlich hübsches Kind.“
Evas Vater versuchte, Coen in das Gespräch einzubeziehen: „General Coen verkehrt natürlich ständig mit hohen und höchsten Persönlichkeiten, nicht wahr?“
„Eher weniger“, erwiderte der. „Ich war nur einmal beim Prinzen. Ich hatte ihm für seine Menagerie einen Leoparden mitgebracht.“
„Was ist ein Leopard?“, fragte Ment.
„Ein Löwe mit Flecken. Sehr gefährlich, ein Menschenfresser. Wir transportierten ihn in einem Käfig und mussten uns beim Füttern immer in Acht nehmen. Die lange Überfahrt ist der Bestie allerdings nicht gut bekommen, ich glaube, sie ist kurz danach verendet.“
Tanneke war inzwischen mit der Suppe hochgekommen. „Bei Gräfin Amalie gab es eine delikate Mandelsuppe, garniert mit Hahnenkamm, Pistazien und Granatapfelkernen, wirklich köstlich!“, berichtete Tante Aechtje. „Danach ging es weiter mit einer pikanten Fleischpastete mit Früchten, da hab ich mir später sogar vom Küchenmeister das Rezept geben lassen. Wollt Ihr’s hören?“
Ohne darauf einzugehen, richtete sich Vater Ment wieder an Coen: „Gewiss kennt Ihr aus den fernen Landen, die Ihr bereist habt, auch einige empfehlenswerte Gerichte?“
Zum ersten Mal spielte ein Lächeln um die Lippen des Ehrengastes. „Wisst Ihr, die asiatische Küche ist völlig anders als die unsere. Zum einen ist sie natürlich sehr stark gewürzt, weil die Gewürze dort vor der Haustür wachsen und entsprechend billig zu haben sind. Grundlage der meisten Gerichte ist Reis …“
„Davon habe ich schon einmal gehört“, sagte Eva – sie erschrak geradezu darüber, dass sie freiwillig das Wort ergriffen hatte. Coen sah sie aber sofort an und nickte ihr aufmunternd zu: „Sehr gut“, lobte er. „Die meisten Niederländer sind zu ignorant, um je davon gehört zu haben.“
„Bei der Gräfin …“, wollte Aechtje Hasselaer ihre Schilderung fortsetzen, doch diesmal wurde sie von ihrem Mann unterbrochen: „Ist es nicht so, dass die Asiaten die kuriosesten Dinge essen?“
„Lasst es mich so sagen: Sie bevorzugen andere Gerichte, als wir sie gewohnt sind.“ Coen nahm einen Löffel Suppe. Eva schaute zur Seite und sah, dass Gerrit seinen Teller noch nicht angerührt hatte. Er starrte mit leerem Blick auf die ihm gegenüber sitzende Tante Aechtje.
„Ich habe mir zum Beispiel sagen lassen, dass in einigen Teilen Asiens geröstete Spinnen vertilgt werden“, erzählte Coen weiter. „Vom Geschmack her sollen sie an Hühnchen erinnern. Die Spinnen in Asien sind weit größer als bei uns, müsst Ihr wissen. Andernorts werden Tintenfische bei lebendigem Leibe verzehrt.“
„Das ist ja widerwärtig!“, ließ sich Tante Aechtje vernehmen.
„Am chinesischen Kaiserhof gilt Schwalbennestersuppe als die köstlichste aller Spezialitäten. Diese Nester sind nicht aus Zweigen oder dergleichen gewebt, sondern aus dem hart gewordenen Speichel der Schwalben, den sie wie eine Art Kleister einsetzen. Sammler holen diese Nester unter großer Gefahr für Leib und Leben aus Felsenhöhlen. Die Nester werden in Wasser eingeweicht, damit sie aufquellen, und anschließend mit Kalbfleisch und Brühe gegart.“
Niemand sagte mehr etwas. Alle löffelten ihre Suppe, allerdings recht langsam.
„Auf den Philippinen wiederum schwört man auf ausgebrütete Enten- und Hühnereier. Ich habe sie selbst einmal gekostet, ein chinesischer Kapitän hatte mich dazu eingeladen, und es wäre unhöflich gewesen, es abzulehnen. Die Eier hatten zwei Wochen in einem warmen Korb gelegen und sich dabei prächtig entwickelt. Nun wurden sie etwa eine halbe Stunde gekocht und anschließend serviert. Als ich meines öffnete, erblickte ich darin einen fast schon vollständigen Vogel: Schnabel, Federn, Augen – all das war bereits ausgebildet. Der Kapitän erklärte mir, dass ich zunächst die Flüssigkeit herausschlürfen müsse. Danach war der Körper an der Reihe. Ich erinnere mich noch, dass das schwarzbraune Fleisch von recht scharfem Geschmack war. Der Speise wird in Asien vor allem deshalb zugesprochen, weil sie der Manneskraft zugutekommen soll.“
„Soll ich abräumen und die Muscheln auftragen?“, fragte Tanneke. Claes Corneliszoon Ment nickte nur.
Coen schaute in die Runde. „Ja, es gibt viel zu entdecken in Ostindien.“ Gerade als er das sagte, öffnete sich die Tür zum Nachbarzimmer, und Jasper stahl sich herein. „Katze ist in weiten Teilen Chinas ein ganz normales Gericht“, fuhr Coen fort. „Auch der Magen und die Eingeweide werden gegessen. Wichtig ist, dass die Katze gut abgehangen ist.“
In diesem Moment hörte Eva aus Gerrits Richtung ein klägliches Stöhnen, und dann sah sie, wie er langsam den Mund öffnete und sich quer über den Tisch auf die vor ihm sitzende Aechtje erbrach. Es war ein Schwall wie bei einem Deichdurchbruch. Die Tante schrie, Onkel Pieter sprang auf, nur Coen blieb ungerührt sitzen. Danach herrschte Stille. Entgeistert sah Tante Aechtje an sich hinab.
„Verzeihung“, murmelte Gerrit. „Ich glaube, ich habe gestern Abend ein bisschen viel getrunken.“