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II. Überblick
ОглавлениеBegriff Antisemitismus
Der Begriff Antisemitismus ist während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. In deutscher Sprachwissenschaft und Völkerkunde wurden damals alle ehemaligen und aktuellen Bewohner des Nahen Ostens als „Semiten“ bezeichnet. Da Antisemitismus sich nur gegen die vor zwei Jahrtausenden aus Palästina vertriebenen Juden richtete, hat man den Begriff oft als unpräzise kritisiert. Alle Versuche, ihn durch treffendere Alternativen zu ersetzen, blieben aber erfolglos (9).
Auch in anderer Hinsicht wird der Begriff gelegentlich als problematisch gesehen. Wesentlich zu seiner Verbreitung beigetragen hat der deutsche Publizist und Politiker Wilhelm Marr, der selbst Antisemit war. Marr definierte Antisemitismus 1879/80 als eine angeblich neuartige, rassistisch motivierte Judenfeindschaft, die er ausdrücklich von religiös begründetem Antijudaismus früherer Epochen unterschieden wissen wollte. Aus dem Deutschen wurde der Begriff schnell in andere Sprachen übertragen, bürgerte sich aber entgegen dieser Definition im In- und Ausland fast sofort als Bezeichnung für die verschiedensten Formen von aktueller und historischer Judenfeindschaft ein (61; 42). Daran hat sich bis heute nichts geändert. Antisemitismus, hat ein Historiker gespottet, stehe so als Sammelbezeichnung ähnlich wie der Markenname „Tempo“ für Papiertaschentücher (64). So ist in vielen populären und manchen wissenschaftlichen Veröffentlichungen die Rede von „antikem Antisemitismus“ oder „religiösem Antisemitismus“ im Mittelalter (z. B. 31; 4; 34). Manche Spezialisten möchten den Begriff Antisemitismus dagegen nur für modernen und rassistisch motivierten Judenhass verwendet sehen, weil dieser sich von anderen, früheren Formen der Judenfeindschaft fundamental unterscheide.
Ob religiöser und rassistischer Judenhass tatsächlich voneinander zu trennen sind, ist freilich unter Historikern umstritten. Und ebenso umstritten ist die Frage, ob ein Übergang von der einen zur anderen Form im späten 19. Jahrhundert geschah – also zu Beginn der Zeitepoche, die gemeinhin als die Moderne bezeichnet wird.
1. Kapitel
Am Anfang der hier zu behandelnden Forschungsprobleme steht deshalb die Diskussion des Charakters von Judenfeindschaft vor und in der Moderne. Ist Judenfeindschaft ein mehr oder weniger kontinuierliches Phänomen, das höchstens seine äußere Gestalt gewechselt, aber im Kern wesentlich unverändert geblieben ist, seit es Juden gibt? Oder vollzog sich ein grundlegender Wechsel von traditionellem Antijudaismus zu modernem Antisemitismus? Hat das Phänomen also einen Veränderungsprozess durchlaufen, der seine Natur in zentralen Punkten verwandelt hat? Und wenn Letzteres zutrifft: Welche sind dann diese zentralen Punkte? Diese Fragen sind die Themen des ersten Kapitels.
2. Kapitel
Eng verbunden damit, und ebenso kontrovers diskutiert, ist die Frage nach Ursachen des Antisemitismus. Sie steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Einige Erklärungen heben die Rolle eines einzigen Faktors bei der Entstehung von Judenfeindschaft hervor. Solche mehr oder weniger monokausalen Interpretationen erfreuen sich besonders in einer breiteren Öffentlichkeit ungebrochener Popularität, haben aber auch in wissenschaftlichen Kreisen manche Anhänger. So wird die Entstehung antisemitischer Einstellungen etwa häufig mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur in Verbindung gebracht. Im Kontrast zu solchen psychologischen Theorien stehen Interpretationen, die Religion als Faktor betonen. Antisemitismus ist demnach untrennbar in christlicher Tradition oder christlichem Weltbild verwurzelt.
Andere Theorien erkennen zwar die Bedeutung religiöser Wurzeln oder psychischer Strukturen für die Ausbildung antisemitischer Mentalitäten an. Weil solche antisemitischen Einstellungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in ganz unterschiedlicher Intensität zum Ausdruck kommen, sehen sie die entscheidenden Faktoren dafür aber in wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen. Ökonomische Krisen, die zu realen Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden führen oder auch Angriffe auf Juden als Sündenböcke für ganz andere Konflikte provozieren, erscheinen dann als die zentralen Ursachen.
Die Schwierigkeit, antisemitische Mentalitäten als solche – im Gegensatz zu antisemitischen Äußerungen und Handlungen – in ihren Quellen auszumachen, hat manche Historiker in der letzten Zeit dazu veranlasst, zumindest explizit auf die Suche nach Ursachen für antisemitisches Verhalten ganz zu verzichten. Stattdessen haben sie sich verstärkt der Entschlüsselung von Bedeutungsinhalten und Symbolik in den konkreten Ausdrucksformen von Antisemitismus zugewandt. Andere Forscher halten dagegen an der Suche nach Ursachen und Motiven fest, betonen aber, dass diese sehr verschieden, vielschichtig und im Zeitverlauf wandelbar sein können. Für die Zeit ab dem 19. Jahrhundert ist Antisemitismus insbesondere als eine Ideologie interpretiert worden, die sich mit antimodernen Bewegungen verbunden hat. Daneben werden für dieselbe Epoche zunehmend auch Zusammenhänge mit dem Nationalismus thematisiert.
Für die Zeit seit dem – späten – 19. Jahrhundert ist auch die Anwendung des Antisemitismus-Begriffs unumstritten. Auf ihr liegt der Schwerpunkt der um den Antisemitismus geführten Kontroversen. Noch einmal ganz besonders gilt das für die Jahrzehnte zwischen den 1870er Jahren und 1945. Darauf konzentrieren sich deshalb die nächsten drei Kapitel der Darstellung.
3. Kapitel
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Antisemitismus im internationalen Vergleich. Bis in die 1970er Jahre gab es Publikationen zu diesem Thema fast nur für den deutschen Sprachraum. Veröffentlichungen zu Antisemitismus in anderen Ländern ließen sich in den meisten Fällen an den Fingern einer Hand abzählen – ein einseitiger, aber angesichts der Betroffenheit über den von Deutschland ausgegangenen Völkermord an den europäischen Juden verständlicher Zustand. Seitdem hat die Zahl wissenschaftlicher und populärer Publikationen zur Geschichte des Antisemitismus in fast allen Ländern Europas und in der USA beträchtlich zugenommen. Das ist vor allem die Folge von Kontroversen um die Rolle von Judenhass in den jeweiligen nationalen Geschichtsbildern. An diesen Kontroversen beteiligten sich meist Wissenschaftler ebenso wie eine breitere Öffentlichkeit. Manchmal ging es Historikern aber auch darum, durch die intensive Erforschung von Antisemitismus in verschiedenen nationalen Kontexten die Basis für internationale Vergleiche zu schaffen. Denn der Vergleich gilt in der Geschichtswissenschaft als Ersatz für das naturwissenschaftliche Experiment: Durch ihn lassen sich nicht selten Hypothesen, etwa über die Ursachen des Phänomens, erhärten oder widerlegen. Nicht zuletzt kann der internationale Vergleich gerade auch dazu dienen, die spezifischen Hintergründe der Entstehung des einzigartig mörderischen Antisemitismus der deutschen Nationalsozialisten näher zu beleuchten.
4. Kapitel
Dazu ist natürlich auch die nähere Untersuchung der Judenfeindschaft in Deutschland vor 1933 nötig. Diesem Thema widmet sich das vierte Kapitel. Obwohl die Zahl der Publikationen zur Geschichte des Antisemitismus anderswo während der letzten Jahrzehnte gewaltig angewachsen ist, dürfte die Forschung zu Deutschland immer noch ebenso umfangreich sein wie die zu allen anderen Ländern Europas zusammengenommen. In der kaum noch zu überschauenden wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema ist weniger umstritten, dass es Spezifika der deutschen Entwicklung gegeben hat. Kontrovers erörtert wird vielmehr, worin diese genau lagen, und seit wann sie konkrete Gestalt annahmen.
Zeichnete sich ein deutscher Sonderweg im Verhältnis von Juden und Nichtjuden etwa schon seit der Reformation ab? Oder begann dieser erst mit der Machtübernahme Hitlers und der Nationalsozialisten 1933? Zwischen diesen beiden extremen Positionen werden auch die Zeit der Aufklärung, das späte 19. Jahrhundert, die Jahrhundertwende um 1900 oder der Erste Weltkrieg als mögliche Zäsuren genannt, an dem Deutschland sich von einem „mainstream“ der europäischen Entwicklung abgekoppelt habe. Im Zusammenhang damit diskutieren Historiker unter zeitweise regem Interesse der Öffentlichkeit seit langem ebenfalls die Frage, wie tief die deutsche Gesellschaft als Ganzes und bestimmte Teile von ihr durch Antisemitismus geprägt wurden. War der Völkermord an den europäischen Juden die Konsequenz einer Verkettung außergewöhnlicher Umstände, durch die eine kleine Gruppe hyperradikaler Antisemiten mit dem fanatischen Judenhasser Hitler an der Spitze die Gewalt über das Deutsche Reich an sich reißen konnte? Oder war Hitlers Aufstieg zur Macht und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik eine logische Folge davon, dass sich in fast allen Teilen der deutschen Gesellschaft spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine tiefgehende Judenfeindschaft verbreitete?
5. Kapitel
An diese Kontroversen schließen sich nahtlos die Debatten an, die in Wissenschaft und Öffentlichkeit wiederholt über das Verhältnis von Nationalsozialismus und Antisemitismus geführt wurden. Sie werden im fünften Kapitel behandelt. Waren die nichtjüdischen Deutschen „willige Vollstrecker“ oder entsetzte Zuschauer des nationalsozialistischen Völkermords? Welche Bedeutung hatte der Antisemitismus für Wahlerfolge, Organisation und Ideologie der NSDAP? Hatten Hitler und seine Partei einen seit langem ausgearbeiteten Plan für den Mord an den Juden, der Stück für Stück konsequent umgesetzt wurde? Oder war der Völkermord das Resultat einer chaotischen Politik der Improvisation, an der viele Hände beteiligt waren, und bei der antisemitische Ideologie vielleicht noch nicht einmal als der zentrale Antriebsfaktor wirkte?
6. Kapitel
In den Jahren nach 1945, die das sechste Kapitel behandelt, wurde Antisemitismus zunehmend skandalisiert und tabuisiert – zumindest in großen Teilen Europas und Nordamerikas. Darüber besteht weitgehende Einigkeit. Umstritten ist in Wissenschaft und Öffentlichkeit allerdings, ob mit dieser Tabuisierung und Skandalisierung auch ein Rückgang von antisemitischen Einstellungen verbunden war. Diskutiert wird zudem, ob die Skandalisierungsschwelle seit etwa 1990 sinkt und es deshalb eine Renaissance von Judenfeindschaft in Deutschland und anderen Ländern der westlichen Welt gibt. Schließlich wird im Rahmen dieses Kapitels auf Kontroversen einzugehen sein, die sich an Fragen nach einem Formenwandel von Vorurteilen über Juden nach 1945 entzünden. Hat sich der Antisemitismus in einen nicht minder fragwürdigen „Philosemitismus“ verwandelt, der Nichtjuden vor allem dazu dient, sich nicht näher mit der antisemitischen Vergangenheit ihrer Gesellschaften beschäftigen zu müssen, und eben deshalb jederzeit wieder in den alten Judenhass umschlagen kann? Ist mit der Leugnung oder Banalisierung von „Auschwitz“ eine neue, besonders gefährliche Form von Judenfeindschaft entstanden? Wurde Antisemitismus seit der Gründung des Staates Israel von einem sich gegen diesen richtenden „Antizionismus“ verstärkt oder sogar abgelöst? Und hat sich Judenhass auf diese Weise auch dort ausbreiten können, wo Antisemiten bis dahin relativ erfolglos schienen – wie in Europa unter der politischen Linken und im Nahen Osten im Islam?
7. Kapitel
Der letzte Punkt leitet zum siebten Kapitel über, das Antisemitismus in der islamischen Welt thematisiert. Die Verbreitung und die Natur von Judenhass dort haben in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein wechselhaftes Interesse gefunden – parallel zu den Konjunkturen des Nahostkonflikts zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. Die terroristischen Attacken radikaler Islamisten erhöhten die Aufmerksamkeit für das Thema vor allem seit 2001 beträchtlich. Damit einher ging freilich auch eine Verschärfung der Kontroversen, die bereits seit längerer Zeit darüber ausgefochten wurden. Von zentraler Bedeutung ist hier die Frage, wie weit Antisemitismus in der islamischen Welt als Eigengewächs oder als Import aus dem christlich-europäischen Kulturkreis betrachtet werden kann. Konkret diskutiert werden dabei unter Historikern drei Problemkreise: die Stellung von Juden in der traditionellen islamischen Zivilisation, vor allem im Vergleich zum christlichen Alteuropa, die Entwicklung dieser Stellung im Prozess der Modernisierung und des intensivierten christlich-islamischen Kontakts seit dem 19. Jahrhundert allgemein, und speziell das Verhältnis von Arabern und deutschen Nationalsozialisten 1933 bis 1945. Einzugehen sein wird schließlich auch auf die Diskussion über die Ursachen des aktuellen Antisemitismus in der arabischen Welt. Liegen sie ausschließlich in einem realen äußeren Konflikt mit Israel? Oder erfüllt Antisemitismus hier auch und vielleicht sogar hauptsächlich andere, innenpolitische Funktionen, wie die Abwehr gesellschaftlicher Modernisierung – Funktionen, denen auch in der Diskussion über Antisemitismus und seine Ursachen in Deutschland und Europa großer Platz eingeräumt wird?
Ausblick
Der Kreis schließt sich damit. Tatsächlich stellen die einzelnen Kapitel Aspekte eines Themas vor, die hier im Interesse eines leichteren Verständnisses analytisch getrennt wurden, aber durch vielfältige Querbezüge eng miteinander verbunden sind. Der letzte Abschnitt dieses Buchs greift diese Querbezüge noch einmal auf, bündelt sie und versucht so eine Zwischenbilanz des Forschungsstands. Auf dieser Grundlage sollen abschließend Perspektiven formuliert werden, die als Wegweiser für zukünftige Arbeiten zum Antisemitismus dienen können.