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a) Theorie der antisemitischen Persönlichkeit
ОглавлениеUngebrochen populär und auch im wissenschaftlichen Bereich immer noch wirkungsmächtig ist die Theorie der antisemitischen Persönlichkeit. Sie entstand in den 1940er Jahren im Rahmen eines Großprojekts zur Vorurteilsforschung an US-amerikanischen Universitäten. An dem Projekt waren auch eine Reihe prominenter Emigranten aus Deutschland beteiligt, darunter Theodor Adorno. Vertreter zahlreicher Wissenschaftsdisziplinen wirkten mit, unter anderem Psychologen, Soziologen und Politikwissenschaftler. Die Theorie wurde von all diesen Disziplinen mitgeprägt, am stärksten aber von Elementen aus der Psychoanalyse.
Autoritarismus und Antisemitismus
Antisemitismus geht demnach von einem bestimmten Typ von Menschen aus, der durch seine Erziehung oder andere Einflüsse für die Aufnahme von judenfeindlichem Gedankengut besonders offen ist. Diese „antisemitische Persönlichkeit“ wird verstanden als eine Ausprägung der „autoritären Persönlichkeit“. Als ihre Kennzeichen gelten Denken in konventionellen Strukturen und stereotypen Vorurteilen. Typische Antisemiten besäßen eine Persönlichkeitsstruktur wie Menschen, die in einer umgangssprachlichen Metapher als „Radfahrer“ bezeichnet werden: Sie „buckelten“ nach oben und träten nach unten – mit anderen Worten, sie verbänden große Unterwürfigkeit gegen Autoritäten und über einen höheren sozialen Status Verfügende mit ebenso großer Aggressivität gegen sozial niedriger Gestellte. Macht stehe für sie über Recht. Konflikte lösten sie lieber durch physische Gewalt als durch verbale Auseinandersetzung. Einem hohen Grad von Anpassung an konventionelle Moralvorstellungen entspreche bei ihnen unter anderem eine starke sexuelle Verklemmtheit. Ihre eigenen unterdrückten Sehnsüchte würden sie häufig auf Juden projizieren (89; 95; 102).
Geschlechtergeschichtliche Interpretationen
Locker verbunden mit solchen Erklärungsansätzen sind auch feministische und geschlechtergeschichtliche Interpretationen moderner Judenfeindschaft, die sich seit den 1990er Jahren einiger Beliebtheit erfreuen. Antisemitismus steht danach im Zusammenhang mit einer Erschütterung konventioneller Geschlechterbilder und der Herausforderung patriarchalischer Autoritäten. Als Ausdruck dafür werden etwa gesehen das Klischee der verführerischen „schönen Jüdin“, die den Mann mit ihren Reizen umgarnt, bis er ihr völlig ergeben zu Willen ist, oder das Stereotyp des „weibischen Juden“, das ebenso das traditionelle Männerbild untergräbt. Psychologische und psychoanalytische Erklärungsmodelle, die antisemitische Vorurteile in Verbindung mit autoritärem und konventionellem Denken, sexueller Verklemmtheit und Projektion eigener unterdrückter Sehnsüchte bringen, spielen hier offensichtlich ebenfalls eine wichtige Rolle (86; 97; 98; 105).
Als Grund dafür, dass bestimmte Menschen für Antisemitismus anfällig würden, machten die Vertreter der Theorie von der antisemitischen Persönlichkeit zunächst vor allem familiäre Einflüsse aus. Sie sei eine Folge autoritärer Erziehung mit einem hohen Grad von elterlicher Aggression gegenüber den Kindern. Wer so erzogen werde, bilde selbst eine autoritäre und antisemitische Persönlichkeit aus.
Kritik
Aus psychologischer Sicht ist diese Interpretation von Anfang an stark kritisiert worden, weil ihre empirische Grundlage dürftig oder fehlerhaft sei. Tatsächlich basierte die in den 1940er Jahren vorgestellte Theorie der antisemitischen Persönlichkeit lediglich auf Feldversuchen mit einer kleinen Zahl von meist weiblichen amerikanischen Studierenden der Psychologie. Auch danach, betonen die Kritiker der Theorie, wurde sie in repräsentativen Experimenten nie bewiesen. Ein Sammelband zu den Ergebnissen der psychologischen Antisemitismusforschung spitzt diese Kritik in dem provokanten Titel Error without trial zu: Bei der Theorie der antisemitischen Persönlichkeit handle es sich um einen Irrtum, der nie dem Säurebad des wissenschaftlichen Experiments ausgesetzt worden sei, statt der anerkannten Methode des „trial and error“, der Überprüfung von Hypothesen durch Feldversuche, unterzogen zu werden. Psychoanalytische Studien kamen zu dem Ergebnis, dass autoritäre Erziehung in der Familie nur bei einem Teil der analysierten Personen zu Antisemitismus führte, bei anderen dagegen nicht (85).
Anhänger der Theorie der antisemitischen Persönlichkeit betonten wohl nicht zuletzt deshalb zunehmend mehr die Rolle autoritärer Strukturen in der gesamten Gesellschaft für die Entstehung von Antisemitismus, und weniger die der familiären Sozialisation. Konsequenterweise verabschiedeten sie sich im Lauf dieser Neuformulierung der Theorie auch weitgehend von der Vorstellung, dass nur für einzelne Personen und bestimmte soziale Gruppen eine Anfälligkeit für Judenhass bestehe. Vielmehr seien in modernen Gesellschaften grundsätzlich alle Menschen für autoritäres und antisemitisches Denken anfällig (102; 405, S. 120 – 138). Allerdings kann man fragen, ob die Theorie in dieser allgemeinen Form noch konkreten analytischen Wert hat, zumal sie sich so jeder empirischen Überprüfung entzieht, oder ob sie nur noch als Ansporn für politische Pädagogik taugt.
Aus der Sicht von Historikern ist die Theorie der antisemitischen Persönlichkeit von jeher dafür kritisiert worden, dass sie allenfalls die Ursprünge von latenter Judenfeindschaft als permanenter mentaler Unterströmung, aber nicht deren plötzliche akute Ausbrüche in bestimmten Zeitabschnitten erklären kann. Die Theorie ist ein „starres Modell, das nicht die Dynamik des Auf und Ab von Antisemitismus in den jeweiligen Gesellschaften erläutert“ (34, S. 160). Sie erklärt auch nicht, warum Antisemitismus mal in Form eines Pogroms, mal in Form eines schlechten Witzes vorkommt, sich mal als verbale Beschimpfung von Juden und mal als Massenmord an ihnen äußert. Ebenso wenig bietet sie eine Erklärung dafür, wieso Judenfeindschaft gleichermaßen in religiösen, wirtschaftlichen, sozialen und rassistischen Kontexten vorkommen kann und vorkommt.
Zudem bleibt in der Theorie der autoritär-antisemitischen Persönlichkeit offen, warum gerade die Juden als „Blitzableiter“ für das Abreagieren von Aggression und Objekt für Projektionen dienen sollen. Die Frage „Warum die Juden?“ lässt sich zwar oberflächlich durch den Hinweis auf ihren Status als Minderheit beantworten. Diesen Status teilten sie allerdings in vielen Fällen mit anderen Gruppen, die nicht Opfer vergleichbarer Verfolgung wurden. Diese offensichtliche Leerstelle in der Theorie versuchen ihre Anhänger mit dem Hinweis auf Manipulation der Nichtjuden durch antisemitische Propaganda seitens gesellschaftlicher Eliten zu füllen. Das verschiebt die Fragestellung freilich nur: Warum wählten die Eliten ausgerechnet Juden als Zielscheibe ihrer Propaganda? Und warum fand diese Propaganda in der Masse der Bevölkerung offene Ohren? Auf diese Fragen lässt sich im Rahmen der Theorie der antisemitischen Persönlichkeit letzten Endes keine Antwort geben – es sei denn durch einen Verweis auf andere Erklärungsansätze.